Rassismus als Sozialisationsdefekt

Ein Gespräch von Krassimir Stojanov mit Axel Honneth

Krassimir Stojanov: Herr Honneth, meine erste Frage betrifft Ihre These, wonach der Rassismus als eine deformierte Wahrnehmungsweise zu verstehen ist. Zugleich möchte ich meine Frage auch auf Ihre Diskussion mit Nancy Fraser beziehen. Also, wenn ich Ihre Grundthese richtig verstanden habe, behaupten Sie, dass Rassismus hauptsächlich auf Sozialisationsdeformationen und Defiziten zurückzuführen ist, weswegen pädagogische und politische Maßnahmen ihn kaum beeinflussen können. Nancy Fraser wirft Ihnen Psychologisierung von politischen und sozialen Problemen und Konflikten vor. Sie würde wahrscheinlich diese Behauptung auch als ein Beispiel von Psychologisierung deuten. Betrachten Sie dies als einen Vorwurf oder sind Sie in der Tat der Meinung, dass soziale und politische Konflikte und Kämpfe im Grunde genommen auf psychologische Strukturen zurückzuführen sind?

Axel Honneth: Das ist natürlich eine komplexe Frage. Ich gehe schon davon aus, dass eine Unterschätzung der psychologischen Antriebe bei sozialen und politischen Konflikten ein Fehler ist. Bezogen auf das Phänomen des Rassismus ist die Grundüberlegung, dass wir den Rassismus nicht einfach als Übernahme primitiver Theorien und Ideologien – das ist ein herrschendes Erklärungsmuster hierzulande – oder als bedingt durch die Zwänge ökonomischer Benachteiligung – das ist ein anderes Muster – erklären sollten. Beide Erklärungsmuster halte ich für gewissermaßen flach und eigentlich die sozialisatorische Dynamik des Rassismus unterschätzend. Ich gehe hingegen davon aus, dass wir den Rassismus – übrigens ähnlich wie Sartre – als ein Phänomen verstehen sollten, das das Gesamtverhalten einer Persönlichkeit bestimmt. Daher ist er, wie Sie gesagt haben, als Produkt sozialisatorischer Deformation zu betrachten. Also, derjenige Jugendliche, der heute rassistische Überzeugungen hat, hat diese nicht deshalb, weil er sich von irgendwelchen Theorien beeindrucken oder beeinflussen lassen hatte, sondern weil er nicht angemessen gelernt hat, alle Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern als gleichrangig, als gleich wahrzunehmen. Dies impliziert natürlich einen gewissen Vorbehalt gegen die in der Bundesrepublik herrschenden politisch-pädagogischen Vorstellungen über die Bekämpfung des Rassismus. Diese Vorstellungen konzentrieren sich n der Bundesrepublik auf Menschenrechtserziehungs-Programme, die – so meine Vermutung – zu kurz greifen. Ich glaube, dass es sich beim Rassismus um einen sozialisatorischen Defekt, um einen ganzen Habitus handelt (das ist ungefähr die Formulierung, die Sartre für den Antisemiten verwendet hat), der nicht durch pädagogische Überzeugungsarbeit transformiert oder verändert werden kann. Dies schließt natürlich nicht aus, dass man gleichwohl über pädagogisch-politischen Maßnahmen nachdenken muss, die gewissermaßen nachträglich solche Einstellungssyndrome und Verhaltensweisen therapieren. Sie sollten aber nicht als eine pädagogische Veranstaltung verstanden werden, bei der eine falsche Lehre durch eine richtige Lehre ersetzt wird. Man müsste eher an eine Änderung der Sozialisationsrichtung denken – im Sinne einer nachträglichen korrektiven Sozialisation. Ich glaube, dass die Überwindung einer rassistischen Verhaltensweise, eines rassistischen Wahrnehmungsmusters irgendwie wie einen Prozess der Konversion vorgestellt werden muss. Wie dieser Prozess in Veranstaltungen pädagogischer Natur erfolgen kann, bleibt weitgehend der Phantasie der Pädagogen überlassen. Ich denke an die Zeiten zurück, in denen sehr viel in die Überlegungen über einen anderen Typ von Bildungsprozessen investiert wurde, der nicht nach dem Muster bloßer Vermittlung von Theorien, sondern etwa nach exemplarischer Analysierung und praktischer Beteiligung der Jugendlichen am Bildungsprozess organisiert war. Das heißt, dass durch Formen der Praxis, durch Formen der Organisierung praktischer Aktivitäten der Kooperation, solche Wahrnehmungsmuster vielleicht in einer längerfristigen Perspektive geändert werden können. Das ist eine andere Vorstellung von dem, was die pädagogischen Maßnahmen gegen den Rassismus leisten können und von den Formen, in denen sie es leisten können.


Nun möchte ich auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, nämlich auf den Vorwurf von Nancy Fraser einer gewissen Psychologisierung. Ich glaube, dass dieser Vorwurf an dieser Stelle falsch platziert ist. In der Tradition der Frankfurter Schule war es immer möglich und selbstverständlich, den engen Zusammenhang zwischen Politik und Psychologie zu sehen. Dieses Motiv beginnt sehr früh mit den Studien zum autoritären Charakter, und es setzt sich fort bis zu Franz Neumanns Analysen zu Angst und Politik. Also, der Zusammenhang zwischen politischer Willensbildung, politischen Reaktionen, politischen Verhaltensmustern und sozialisatorischer Erfahrung, sozialisatorischen Prozessen, war in dieser Tradition immer präsent. Das Bisschen, das ich zur Analyse des Rassismus beigetragen habe, ist eine Art Erinnerung an diesen engen Zusammenhang. Ich glaube, dass der Vorwurf der Psychologisierung einen anderen Gegenstand hat, nämlich die Verankerung von normativen Prinzipien in einer psychologischen Theorie. Auch hier fühle ich mich eigentlich geschützt, weil die Psychologie dabei nur ein Element unter vielen anderen ist; ein Element in einer genuin normativen Begründung. Meine eigene normative Begründung ist nicht psychologischer als diejenige von John Rawls, wenn er von Selbstachtung spricht. Eine psychologische Argumentation, eine bestimmte psychologische Vorstellung von der Integrität der menschlichen Person und von der Form, in der Menschen ihre Autonomie entwickeln können, wird auch von Rawls stark ins Zentrum gerückt; eine Vorstellung, an der auch die Idee des Guten und die Idee der Gerechtigkeit zurückgeknüpft sein sollten.

KS:Na gut, aber wenn wir beim Beispiel des Rassismus bleiben, dann würde Nancy Fraser womöglich behaupten, dass der Rassismus keine subjektive Eigenschaft ist, sondern ein Merkmal von intersubjektiven politischen Diskursen; dass die Quellen von rassistischen Einstellungen primär in hate speech in öffentlichen Diskursen zu suchen sind und nicht so sehr in Prozessen der Identitätsentwicklung, oder der pathologischen Entwicklung der Identität. Die Frage ist nun, ob die erste Position, die Position von Fraser, nicht eine bessere Begründung für unmittelbare politische Maßnahmen bei Bekämpfung des Rassismus und Ausländerfeindlichkeit bietet. Wie würden Sie diesen Vorwurf begegnen?

AH: Zuerst würde ich sagen, dass natürlich rassistische Diskursmuster eine gewisse Rolle spielen. Sie zu unterschätzten wäre lächerlich. Ich glaube allerdings, in meinen Überlegungen eine Stufe tiefer angesetzt zu haben. Ich frage mich, wie eigentlich die psychischen Voraussetzungen beschaffen sein müssen, die es erlauben, dass solche Diskurse Empfang bei Jugendlichen oder Erwachsenen finden, dass man sich an ihnen beteiligt, und in ihnen sich selbst wieder erkennt. Es geht also nicht um die Bestreitung der Tatsache, dass öffentliche Diskurse von großem Gewicht sind, sondern es geht um die Erklärung der innerpsychischen Voraussetzungen zur Akzeptierung einer Form des Diskurses, die als eine Ungeheuerlichkeit innerhalb einer moralisch intakten Kultur erscheint. Wenn man diese psychischen Voraussetzungen der Akzeptierung solcher Diskurse ausblendet, könnte der Eindruck entstehen, dass, wenn man die Strategie verfolgt, solche Diskurse etwa durch eine öffentliche Sprachpolitik zu beseitigen, diese Diskursmuster auch verschwinden würden. Nur: damit hat man nur einen kleinen Teil des eigentlichen Problems des Rassismus wirklich gelöst, weil das Problem des Rassismus eine Stufe darunter liegt. Es liegt nämlich in der Bereitschaft einer erschreckend großen Zahl von Personen, diese Diskurse tatsächlich zu praktizieren, sich überhaupt auf sie zu beziehen und sie als eine Erklärung der eigenen Lebenslage, der eigenen Nöte, sogar der eigenen Erfahrung zu akzeptieren. Deswegen sind solche pädagogischen Maßnahmen, die auf der Ebene des Diskurses operieren, letztendlich nicht tauglich. Ohne die Bedingungen der Sozialisation in Angriff zu nehmen, ohne eine Pädagogik der sozialisatorischen Korrektur oder Konversion, kann man das Problem auf Dauer nicht lösen.

KS: Sehen Sie hierbei ein besonderes Problem bei den ostdeutschen Jugendlichen? In Deutschland ist die These breit verbreitet, dass die Sozialisationsmuster in der DDR, die viel autoritärer waren, eine besonders starke Quelle für rassistische und ausländerfeindliche Orientierungen und Einstellungen sind.

AH: Sie wissen, dass es hierzu intensive Diskussionen gibt. Die Neigung von Jugendlichen zu rassistischen Verhaltensmustern ist tatsächlich ungleich in Deutschland verteilt. Sie scheint aber nicht eindeutig so verteilt, dass man sagen könnte, dass diese Neigung ausschließlich im Osten Deutschlands, in der ehemaligen DDR konzentriert, während sie im westlichen Teil, also in der ehemaligen BRD, so gut wie nicht vorhanden sei. Dies scheint nicht der Fall zu sein. Wir haben gerade in Norddeutschland viele Zentren, wo Rassismus (insbesondere Alltagsrassismus) oft zur Erscheinung kommt; wir haben im Ruhrgebiet durchaus Phänomene vergleichbarer Art. Zugleich gibt es vermutlich tatsächlich eine Konzentration rassistischer Verhaltensweisen bei Jugendlichen in gewissen Provinzgebieten der ehemaligen DDR. Wenn dem wirklich so ist – und im Augenblick spricht vieles davon – dann muss man natürlich die Sozialisationspraktiken und die sozialisatorische Erfahrung der Jugendlichen aus diesen Regionen unter der Lupe nehmen. Es scheint mir ganz auffällig zu sein, dass es sich zumeist um Gebiete mit einer enormen Arbeitslosigkeit handelt. Es scheint so zu sein, dass die Eltern dieser Jugendlichen häufig ohne jede Erfahrung mit dem alltäglichen Multikulturalismus groß geworden sind, den wir im Westen seit 20 Jahren – je nach Gesichtspunkt – zu leben gezwungen sind, oder genießen dürfen. Das heißt, dass die frühen Sozialisationspraktiken, die ein Minimum an demokratischer Wahrnehmung, an universalistischer Wahrnehmung enthalten, im ostdeutschen Kontext nicht vorhanden waren. Die These hierzu wäre, dass es sich nicht etwa um Deformationsprozesse handelt, die mit dem Schuleintritt einsetzen, sondern dass diese Deformationsprozesse noch weiter in eine sehr frühe Phase zurückgreifen müssen, in der die Jugendlichen gelernt haben, auf einer aktiven Art und Weise klasifikatorische Unterscheidungen zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarben, unterschiedlichen sozialen Habitus zu machen. Es wäre eine interessante Aufgabe zu untersuchen, inwiefern solche deformierende Sozialisationsprozesse tatsächlich bei Jugendlichen aus bestimmten Regionen der ehemaligen DDR unterstellt werden können.

KS: Mit meiner letzten Frage möchte ich nochmals die Vorstellung einer nachträglichen Sozialisation ansprechen. Als ich Ihren Aufsatz gelesen habe, hatte ich Praktiken einer Aufwertung, einer gewissen Anerkennung etwa von Skinhead-Gruppen vor Augen. Solche – sehr umstrittene – Praktiken sind insbesondere in Ostdeutschland anzutreffen, wo Sozialpädagogen spezielle Kulturräume für solche Gruppen schaffen, damit sie sich an bestimmten Anerkennungsbeziehungen beteiligen. Haben Sie eigentlich dieses Phänomen vor Augen?

AH: Das ist eigentlich nicht die Vorstellung, die ich habe. Eigentlich beruht das, wovon Sie reden, auf der nicht ganz falschen Vorstellung, dass die Jugendlichen, die sehr stark zu rassistischen Einstellungsmustern neigen, zumeist eigene Erfahrung der massiven sozialen Missachtung und Demütigung entweder in der eigenen Familie oder in der sozialen Umgebung erlebt haben. Als Quelle ihres Rassismus wird hier eine Art von Erfahrung der Missachtung unterstellt und die pädagogische Einstellung hierzu ist, dass man ihnen nachträglich und kompensatorisch elementare Formen der Wertschätzung vermitteln muss, damit diese tief sitzenden Syndrome der rassistischen Einstellungen überwunden werden können. Dies hatte ich aber weniger vor Augen als ich von nachträglicher kompensatorischer Sozialisation sprach. Meine Vorstellung ist eher die Etablierung von Praktiken, in denen die Jugendlichen lernen, dass ihre Wahrnehmungen und ihre Verhaltensmuster falsch sind. Wie sie dies lernen können – ob in der Erfahrung des Umgangs mit Jugendlichen anderer Hautfarbe, oder durch hinreichende Vermittlung von Erfahrung zweiter Hand –, ist mir selbst nicht ganz klar. Ich denke, dass Pädagogen Orte für organisierte Praktiken schaffen müssen, in denen die Jugendlichen gezwungen sind, mit Jugendlichen anderer Hautfarbe, also mit denjenigen, die eigentlich ihre Feinde sind, auf eine sehr elementare Art und Weise zu kooperieren. Diese am Anfang sehr schwierige, vielleicht auch von gewaltsamen Reaktionen durchgezogene Praxis kann die Beteiligten zu einer Art von Konversion ihrer Verhaltensweisen bewegen. Es handelt sich hierbei nicht um etwas, zu dem die Jugendlichen angesichts ihrer tief sitzenden Einstellungen von sich aus tendieren würden. Soll man ihnen einfach sagen: “Seien Sie gute Menschen” oder Ähnliches? Die Veränderung muss sich in ihnen selbst vollziehen. Die beste Möglichkeit dazu scheint ihre Einbeziehung in gegenläufige Praktiken, die in sich die Beweise enthalten, dass die eigenen Wahrnehmungen falsch sind und insofern vielleicht eine Korrektur bedürfen. Das ist die Grundidee. Natürlich werden die Jugendlichen dabei darüber hinaus die Erfahrung einer für sie gar nicht erwarteten Wertschätzung, einer Anerkennung durch diejenigen Subjekte machen, die sie bislang als Rassisten verdammt haben. Dies wäre sicherlich ein zusätzlicher positiver Effekt. Aber im wesentlichen geht es hier um eine Vorstellung der unauffälligen Inszenierung – sie darf natürlich nicht zu stark pädagogisch hervortreten – von Praktiken, in denen Jugendlichen die Erfahrung machen können, dass ihre eigene Wahrnehmung unzureichend war. Diese Inszenierung kann zum Beispiel in der gemeinsamen Errichtung eines Jugendzentrums bestehen. Diese Praktiken müssen im übrigen auch – da bin ich ein alter Anhänger von Oskar Negt – in irgendeiner Weise an gemeinsamer Arbeit zusammengekoppelt werden. Die Jugendlichen sollen anhand der kooperativen Bewältigung der Probleme, also anhand der kooperativen Arbeit, anhand den gemeinsam erreichten Zielen, die Erfahrung machen können, dass ihre bisherigen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen eigentlich nicht richtig sind. Dies klingt jetzt nach einem Arbeitserziehungsprogramm, das freilich problematisch wäre. Es geht sicherlich nicht darum, das frühere Modell der Erziehung durch Arbeit zu rehabilitieren. Vielmehr geht es darum, dass solche sozialisatorische Praktiken wahrscheinlich bei Elementen gemeinsamer Arbeit ansetzten sollten.

KS: Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Published 17 January 2007
Original in German
First published by Critique & Humanism 16 (2/2003) (Bulgarian version); Critique & Humanism 22 (2006) (German and Bulgarian versions)

Contributed by Critique & Humanism © Krassimir Stojanov/Axel Honneth/Critique & Humanism Eurozine

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