Nun auch: Skandalisierung der Wissenschaft

Kontrolle anstelle von Vertrauen

Bislang befand sich die Wissenschaft in einer gesellschaftlichen
Sonderstellung, abgehoben und abgeschirmt
von jeglicher medialen Skandalisierung, wie sie allenfalls
noch der Papst genießen konnte. Das spiegelt sich, wenn
auch nur sehr vermittelt, in den Umfragewerten wider, in
denen der Wissenschaft (neben dem Verfassungsgericht)
noch immer das höchste Vertrauen aller gesellschaftlichen
Institutionen bestätigt wird. Allerdings sind auch
die Warnzeichen nicht zu übersehen: Das Vertrauen sinkt
seit Jahren kontinuierlich. In Deutschland allein zwischen
2005 und 2010 von 86 auf 57 Prozent, der stärkste
Rückgang von allen EU-Mitgliedsstaaten. Noch im Jahr
2000 konnte Kurt Imhof feststellen: “Nicht weniger als
84 % aller Skandalierungen betreffen das politische
System bzw. Handlungen von Vertretern des politischen
Personals.Weit abgeschlagen folgen Skandalierungen
der Gesellschaftsprominenz aus Kultur und Kunst (5,4 %)
[…] die Skandalierung von Vorgängen innerhalb der
Wissenschaft findet sich mit grossem Abstand am
Schluss der Skandalierungshierarchie: Nur gerade ein Fall
schaffte es unter die grössten zehn Medienereignisse pro
Jahrgang und Zeitung innerhalb dieser 85 Jahre” (1910-
1994-PW; Imhof 2000). Diese Zeit scheint endgültig zu
Ende gegangen zu sein, und wenn man Imhofs gesellschaftstheoretischer
Verortung von Skandalisierungen
(oder Skandalierungen, wie er sagt) folgt, indizieren sie,
bezogen auf Vorkommnisse innerhalb der Wissenschaft,
Normen- bzw.Wertkonflikte, die sowohl die Wissenschaft
intern als auch ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft
betreffen. Man kann die nachhaltige Veränderung
der Rolle der Wissenschaft in den nachindustriellen
‘Wissensgesellschaften’ seit mindestens drei bis vier Jahrzehnten
beobachten, aber der Prozess ist schleichend, in
verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgeprägt,
ideologisch besetzt und kontrovers und von Interessen
bestimmt. Es muss schon eine markante Zäsur sein, die
auch dem letzten Beobachter vor Augen führt: Times
have changed.

 

 

 

 

 

 

 

 

1997, der damalige DFG-Präsident hatte die deutsche
Wissenschaft gerade als vor “amerikanischen Verhältnissen
” geschützt gewähnt, wurde diese mit dem Betrugsskandal
Friedhelm Herrmann and Marion Brach auf den
Boden der neuen Normalität geholt. Die (hierzulande
verspätete) Reaktion war 1999 die Einrichtung des ‘Ombudsmanns
der Wissenschaft’. (Das US Office of Research
Integrity zum Beispiel existiert bereits seit 1992.)
Mit der Einrichtung dieser und ähnlicher Institutionen
in vielen Ländern weltweit wurden die bis dahin inexpliziten,
in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten, sogenannten
‘Regeln guter wissenschaftlicher Praxis’ unter
anderem in einem international anerkannten ‘Code of
Conduct’ öffentlich gemacht. Er wirkt nicht nur innerhalb
der Wissenschaft als Verhalten steuerndes verbindliches
Regelwerk, sondern er wird der Wissenschaft seither
auch von außen, also von der Politik und den Medien, als
Maßstab ihres Tuns vorgehalten.

Dieser Prozess der ‘Externalisierung’ von Verhaltensregeln
der Wissenschaft ist Ausdruck des umfassenden
institutionellen Wandels in allen Bereichen der Gesellschaft.
Michael Power (1997) hat ihn als die Entwicklung
zur “Audit Society” bezeichnet: An die Stelle von Vertrauen
in die innere Selbstregulierung von Institutionen
treten die Kontrolle von außen und die Rechenschaftslegung
gegenüber einer imaginierten Öffentlichkeit.

Längst hat die Kontrollwut mit ihren Kennzahlorgien
auch die Wissenschaft erreicht: die einzelnen Forscher
ebenso wie die Universitäten, die großen Wissenschaftsorganisationen
und die Fördereinrichtungen. Sie folgen damit nur der Entwicklung, die die Politik schon seit
jeher und zuletzt auch die Banken als einstmaligen Hort
soliden Wirtschaftens erfasst hat. Man mag diesen Wandel
bedauern, und gerade Wissenschaftler tun das mit besonderer
Inbrunst, weil die Wissenschaft die letzte Institution war, der vertraut wurde. Aber sie ist auch ein inhärenter Teil von Demokratisierung. Rechenschaftslegung
folgt den Prinzipien der Transparenz und der Öffentlichkeit.
Es gibt kein wirklich gutes Argument gegen sie.

Funktion der Skandalisierung

Dies ist auch der Schlüssel zum Verständnis der seit Längerem
sich ankündigenden Skandalisierung der Wissenschaft.
Einmal öffentlich geworden, entwickeln die
‘Regeln guter wissenschaftlicher Praxis’ ihre eigene diskursive
Dynamik zwischen den Handlungen der ihnen
unterworfenen Akteure und ihren Beobachtern. Die Beobachter
sind die potenziellen Skandalisierer der Wissenschaft,
sie wachen über die Einhaltung der Regeln, und
im Fall der Regelverletzung prangern sie den Verstoß
öffentlich an. Der Verstoß gegen die Regeln wird – übrigens
von allen Agenturen der Integritätssicherung – als
individueller und deshalb moralischer Verstoß betrachtet,
den es entsprechend zu ahnden gilt. (Gegebenenfalls geboten
erscheinende Maßnahmen struktureller Veränderungen
lassen sich nicht durch Skandalisierung befördern;
s. Franzen u. a. 2007.) Damit scheint angesichts
einer immer weiter differenzierten und von vielfältigen
ökonomischen Erwartungen und Anreizen beeinflussten
Wissenschaft die Effektivität der Kontrolle gegen alle
Arten von Betrug zunächst verbessert – etwa gegenüber
dem zuvor dominierenden System, in dem ‘old boys networks’
schon mal ‘fünfe gerade sein’ ließen und der jungen
Laborantin oder dem aufmüpfigen Assistenten im
Fall ihrer Beschwerde gegen den Ordinarius nahelegten,
eine neue Karriere einzuschlagen. Die Beobachtung
interner Regelverstöße von außen ist in der Wissenschaft
jedoch viel schwerer als etwa beim Bau von Flughäfen.
Hier kommen nun zwei Umstände zusammen, die zum
Kollaps dieser Barriere geführt haben: Zum einen ist es
die Technik. Die wissenschaftliche Kommunikation findet
inzwischen nahezu ausschließlich digitalisiert statt,
und sie ist zum größten Teil im Netz zugänglich. Zum
anderen ist es die dadurch ermöglichte Herausbildung
einer neuen Berufung: der des Plagiatsjägers. Der Österreicher
(Dr.) Stefan Weber weist sich auf seiner Website
als “Sachverständiger für wissenschaftliche Texte” aus, zu
dessen Dienstleistung die “gerichtsfeste Plagiatsprüfung”
zählt. Er ist unseres Wissens bislang der Einzige, der die
Suche nach Plagiaten zum Geschäftsmodell gemacht hat,
aber er ist nicht der Einzige, der mittels des elektronischen
Textvergleichs Plagiaten auf der Spur ist – mit stupendem
Erfolg. GuttenPlag (ab Februar 2011), VroniPlag (ab März 2011) und zuletzt auch SchavanPlag sind die Plattformen im Internet, die sich in Deutschland der
Überprüfung von Dissertationen widmen. Längst sind es
nicht mehr nur ihre Urheber, sondern eine Schar – oder
soll man sagen: ein Schwarm – von Mitstreitern widmet
sich der mühseligen Suche nach gar nicht oder nachlässig
zitierten oder irreführend paraphrasierten Texten in Doktorarbeiten.
Mit dieser unkonventionellen Indienstnahme
der ‘neuen Medien’ durch solche Bürgerinnen und Bürger,
denen die Einhaltung der Regeln guter wissenschaftlicher
Praxis besonders am Herzen liegt, ist der Wissenschaft
eine außerordentlich medienwirksame und brisante
Kontrollinstanz zugewachsen. Sie sichert zugleich eine
ungezügelte Dauerskandalisierung. Nicht nur reklamieren
die Plag-Betreiber selbst für sich, das wissenschaftliche
Tugendwächtergewissen zu repräsentieren. Sie liefern mit
ihren Enthüllungen über Plagiate den Medien überdies
die Substanz, aus der diese die Skandalisierung allererst
formen. Dazu gehören einmal die moralisierende Empörung
über den Regelverstoß, zum anderen die Prominenz
derer, die gegen die Regeln verstoßen haben, denn erst
dadurch erhält die Empörung ihre Brisanz.

Skandalisierung ‘sans frontières’

Hinter den Plagiatsjägern wurden zunächst Linke vermutet,
weil auffallend viele der von ihnen aufgedeckten Plagiate
(mehr oder weniger) prominenten Politikerinnen
und Politikern des konservativ-liberalen Lagers zuzuschreiben
waren. Doch dieser Reflex ist rührend altmodisch.
Es geht allein um die Prominenz der Ertappten,
genauer die politische Prominenz, die selbst noch über
die Kinder von Prominenten beliehen wird, wie im Fall
der Taufpatin des VroniPlags. Prominente Politiker sind
seit jeher das primäre Ziel von Skandalisierung. Der tiefe
Fall eines prominenten Politikers dient am ehesten der
Reinigung und der Wiederherstellung der Werteordnung,
gegen die verstoßen wurde. Neu, erstaunlich und keinesfalls
selbstverständlich ist allerdings der Umstand, dass
es bei den ‘Plags’ und der sie kommentierenden Medienberichterstattung
um die Verbindung zweier gesellschaftlicher
Teilsysteme – Wissenschaft und Politik – geht.
Man erinnere sich an den Fall Guttenberg: Für eine Zeit
lang konnte es so scheinen, als gelänge es ihm und der
Regierung, den Verstoß gegen die Regeln der Wissenschaft
in Gestalt des inkriminierten Plagiats (und zusätzlich
gegen die in allen Dissertationen übliche eidesstattliche Versicherung selbstständiger Autorenschaft) vom Amt zu trennen. Angela Merkels pragmatischer Versuch,
die Grenze mit dem Spruch zu markieren: “Ich habe keinen
wissenschaftlichen Assistenten […] berufen, sondern
mir geht es um die Arbeit als Bundesverteidigungsminister,
die erfüllt er hervorragend, und das ist das, was für
mich zählt”, bewirkte genau das Gegenteil. Über 50 000
Doktoranden und Akademiker, die die Wissenschaft beschädigt
sahen, protestierten öffentlich und medienwirksam
und bewirkten die grenzüberschreitende Infragestellung
der Glaubwürdigkeit des Ministers. Seit diesem
Vorgang lässt sich – zumindest hierzulande – der Betrug
in der Wissenschaft nicht mehr auf die Wissenschaft eingrenzen,
sondern beschädigt auch politische Glaubwürdigkeit
und Reputation. Durch den Bezug auf das Regelsystem
der Wissenschaft, dem die meisten Politiker
allenfalls kurzfristig über eine Doktorarbeit verpflichtet
sind, werden die moralischen Ansprüche an sie weit über
das ihnen üblicherweise entgegengebrachte Maß an Vertrauen
hinaus gesteigert. Rechtzeitig zur Bundestagswahl
eröffnete der Begründer des VroniPlags Anfang Februar
die “Plagiatsjagd” auf Politiker mithilfe eines von ihm
erstellten ‘PolitPlag’. Der “Vertrauens- und Kompetenzvorschuss”, den der Doktortitel gewähre, müsse durch dessen ordnungsgemäße Erlangung gerechtfertigt sein
(Troni, 2013).

Angesichts dieses explosiven Skandalisierungspotenzials
wissenschaftlichen Fehlverhaltens im politischen Teilsystem
ist dem Kommentar Jürgen Kaubes zweieinhalb
Wochen vor dem Rücktritt nichts hinzuzufügen: dass
nämlich der Bildungsministerin der Doktorgrad aberkannt,
sie ihr Amt aber werde behalten können, gehöre
“leider in das Reich der frommen Wünsche” (Kaube,
2013). Diese Einsicht in die nicht mehr zu zügelnde Eigendynamik
der Skandalisierung liegt wohl auch dem von
verschiedenen Seiten geäußerten Bedauern zugrunde, das
im Vorfeld der Demission Annette Schavans geäußert
wurde: “Ein richtiger Rücktritt – leider”, bedauerte der
Spiegel (9. 2. 2013), “nur Verlierer” sah Heike Schmoll in
der FAZ (7. 2. 2013), und der Präsident der Universität
Hamburg, Dieter Lenzen, wurde in der FAZ mit den
Worten zitiert, der Fall Schavan habe die Ausmaße einer
“griechischen Tragödie”: “Es gibt nur Verlierer. Der eine
ist die Ministerin natürlich […]. Und die Wissenschaft
als Ganzes, die plötzlich da steht, als ob sie ein Haufen
von Betrügern sei” (FAZ v. 23. 1. 2013).

Skandalisierungsdynamik – Kollateralschäden

Die zum Teil beinahe rührseligen Kommentare kurz vor
und unmittelbar nach dem allseits in Form und Inhalt
‘respektierten’ Rücktritt sind vor allem dem Erschrecken
vor der unerbittlichen Konsequenz geschuldet, die gerade
in diesem Fall der Regelverstoß gegenüber der weithin
anerkannten Amtsführung entwickelte. Der Skandal hat
aber noch eine zweite mindestens ebenso brisante Wirkung
entfaltet mit zu erwartenden Spätfolgen. Gemeint
sind die Rückwirkungen auf die Wissenschaft, die ja
letztlich Ausgangspunkt des Dramas ist. Zwei Aspekte
dieser Rückwirkungen sind getrennt voneinander zu
beachten, wenngleich sie sich im medialen Skandalisierungsdiskurs
wechselseitig verstärkt haben.

Zum einen sind von den Medien schon im Fall Guttenberg
und jetzt wieder verstärkt die Fragen aufgeworfen
worden, weshalb die Wissenschaft keine einheitlichen
Qualitätsstandards entwickelt hat, wie die Verfahren der
Promotionskommissionen organisiert sein müssten,
warum den Doktorandenbetreuern die Plagiate entgehen?
Die ungeklärte Verletzung der Vertraulichkeit des
Düsseldorfer Verfahrens wird ebenso von den Medien
moniert wie seine unziemliche Dauer (“ein Unding”, so
Schnabel in Die Zeit v. 24. 1. 2013). “Für die Bewertung
von Plagiaten fehlen der Wissenschaft ja offenbar […]
die eindeutigen Maßstäbe […] Keine Universität sah sich
bemüssigt, die Prominentenpromotionen einmal selbst
unter die Lupe zu nehmen” (Spiewak in Die Zeit v. 7. 2.
2013). Der Universität habe der Mut gefehlt, “die Versäumnisse
des Doktorvaters beim Namen zu nennen, der
die Studentin nie solch ein Thema hätte bearbeiten lassen
dürfen, sie an die gültigen Zitierregeln hätte erinnern
und ihre Einhaltung hätte prüfen müssen” (Schmoll,
2013). Schon wird vonseiten der Politiker und der Journalisten
nach einer zentralen Festlegung von Qualitätsstandards
für Dissertationen gerufen, offenbar in Analogie
zum Zentralabitur. Ganz abgesehen davon, wie
gerechtfertigt oder praxisfern die Klagen über unterschiedliche
Standards in verschiedenen Fächern (einschließlich
der Benotungspraktiken an verschiedenen
Universitäten) und über den universitätsspezifischen Umgang
mit Plagiaten auch sein mögen: Die Logik der
Skandalisierung konfrontiert die Wissenschaft, ganz ähnlich
wie die Politik, mit uneinholbaren moralischen Forderungen.
Sie sind die Folge der eingangs konstatierten
Substituierung von Vertrauen durch öffentliche Kontrolle,
deren Tragweite von der Wissenschaft, den Universitäten zumal, größtenteils noch gar nicht verstanden,
geschweige denn bearbeitet worden ist.
Der zweite Aspekt der genannten Rückwirkungen auf
die Wissenschaft betrifft deren kommunikativen Umgang
mit der Skandalisierung selbst. Nach bald eineinhalb
Jahrzehnten vermeintlich professionalisierter Wissenschaftskommunikation
fragt man sich, wer und was die
Allianz geritten hat und wie viele smarte, gut bezahlte
PR-Berater sie nicht davon abgehalten haben, in den laufenden
Skandalisierungsdiskurs zu intervenieren. Sie
hätte wissen müssen, dass ihre Intervention, insbesondere
nach ihrem allzu langen peinlichen Schweigen während
der Guttenberg-Affäre, gegen sie ausschlagen würde. Sie
lasse sich von der Politik instrumentalisieren (Die Zeit v.
7. 2. 2013), “eine peinliche Vorstellung” habe sie geboten
und den Verdacht geweckt, es gehe ihr “weniger um wissenschaftliche
Integrität als um die Rettung einer Ministerin,
der sie grosszügige Fördermilliarden verdanke[n]”
(Die Zeit v. 24. 1. 2013). In der FAS titulierte Thomas
Gutschker die Allianz als “Gemeinde”, von deren “Priestern
[…] die Ministerin monatelang alle nur denkbaren
Segnungen” erfahren habe” und in der “andere Maßstäbe” gälten (Gutschker, 2013). Auch die diversen Wissenschaftler,
die sich in ähnlicher Form zu Wort gemeldet
hatten, fanden in den Medien keine Gnade. Sie wurden
unter anderem abfällig als “selbsternannte professorale
Hilfsverteidiger zur Entlastung der Bedrängten” (FAZ
v. 4. 2. 2013) charakterisiert. Im Kontext dieses Skandalisierungsdiskurses
mussten ihre wie gut auch immer gemeinten
Argumente zur Verteidigung der Beschuldigten
als eine Relativierung der Regelverletzung erscheinen,
die – aus der Außenperspektive – allein durch ‘niederes’
Selbstinteresse motiviert sein konnte. Die mediale Skandalisierung
erlaubt keine Differenzierung, sie kennt nur
schwarz und weiß. Die Allianz ebenso wie die Professoren,
die sich zugunsten der Ministerin äußerten, haben
die Skandalisierungsdynamik zusätzlich angeheizt – mit
verheerenden Folgen für ihr eigenes und das Image der
Wissenschaft insgesamt.

Haben die Medien eine Kontrollfunktion gegenüber der Wissenschaft?

Der Tenor der skandalisierenden Medienberichterstattung
über die Prominentenplagiate ist eindeutig: Die
Wissenschaft hat ihre selbst gesetzten Regeln nicht beachtet,
hat die sonst übliche Sorgfalt nicht walten lassen,
verfügt nicht über einheitliche Qualitätsstandards, und
sie ist obendrein politisch korrumpierbar, wenn es um die
Anwendung von Regeln bei prominenten Politikern geht.
Gemäß dem Skandalisierungsmuster klagen die Medien
die Verletzung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis
mit moralisierender Empörung an und bestehen auf deren
Heilung. Die Empörung ist im Fall der Wissenschaft
aufgrund ihrer eingangs erwähnten Sonderstellung als
Institution mit dem größten gesellschaftlichen Vertrauen
besonders stark. Die Medien pflegen das idealistische
Bild der Wissenschaft als interessenneutral, der Objektivität
verpflichtet und in ihren Verfahren an Wahrheit
orientiert. Es dient als Folie, vor der die Abweichungen
mit umso intensiverer Unerbittlichkeit angeprangert werden.
Insofern die Skandalisierung gleichbedeutend mit
der Herstellung von Öffentlichkeit ist, ist sie auch eine
Spielart demokratischer Kontrolle. Allerdings operiert sie
nicht fein abgestimmt, sondern grobschlächtig, trägt plebiszitäre
bzw. ‘boulevardisierende’ Züge. Am Ende eines
Skandalisierungszyklus steht daher zumeist die bloße
Zerstörung der Reputation von Personen und Institutionen
(s. Imhof 2008). Deren Wiederherstellung bleibt
ihnen dann selbst überlassen.

Die Ministerin und die deutsche Wissenschaft hatten
dabei noch Glück. Bevor die skandalisierende Berichterstattung
diesen Punkt zu erreichen drohte, kam ihnen der
Rücktritt des Papstes zu Hilfe. Ob seiner Beispielhaftigkeit
allseits gelobt und bewundert, absorbierte er alle mediale
Aufmerksamkeit und gewährte so den Erschöpften
die ersehnte Ruhe.

Literatur
M. Franzen, S. Rödder und P.Weingart: “Fraud: causes and culprits as
perceived by science and the media”, in: EMBO reports 8/1 (2007),
S. 3-7.
T. Gutschker: “Die Gemeinde”, in: FAS v. 10. 2. 2013.
K. Imhof: “Vertrauen, Reputation und Skandal”, in: Zeitschrift für
Religion, Staat, Gesellschaft (RSG), Themenheft: Soziale Normen und
Skandalisierung
(Dresden 2008), S. 55-78.
K. Imhof: “Öffentlichkeit und Skandal”, in: K. Neumann-Braun und
S. Müller-Doohm (Hg.): Einführung in die Medien- und Kommunikationssoziologie.
Eine Einführung in zentrale Begriffe und Theorien
.
München 2000, S. 55-68.
J. Kaube: “Frau Jedermanns Plagiat”, in: FAZ v. 23. 1. 2013.
M. Power: The Audit Society: Rituals of Verification. Oxford 1997.
H. Schmoll: “Nur Verlierer”, in: FAZ v. 7. 2. 2013.
U. Schnabel: “Trauerspiel mit Überlänge”, in: Die Zeit v. 24. 1. 2013.
M. Spiewak: “Nichts dazu gelernt”, in: Die Zeit v. 7. 2. 2013.
M. Troni: “VroniPlag-Gründer lädt zur Plagiatsjagd”, in: Der
Tagesspiegel
v. 8. 2. 2013 (letzter Zugriff am 7. 3. 2013).

Published 18 June 2013
Original in German
First published by Gegenworte 29 (2013) (German version)

Contributed by Gegenworte © Peter Weingart / Gegenworte / Eurozine

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