Mitteleuropäische Lehren aus der Eurokrise

Mitteleuropa im Angesicht der Eurokrise – das ergibt kein einheitliches Bild: Die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise in den einzelnen Ländern der Region sind so unterschiedlich wie es die Auffassungen darüber sind, was auf dem Spiel steht und wie angemessene Antworten aussehen könnten. So ist Polen das einzige Mitgliedsland der Europäischen Union, das die internationale Krise ohne Rezession überstanden hat; während die Tschechische Republik und die Slowakei die Schäden in Grenzen halten konnten, trifft es Ungarn weiterhin mit voller Wucht; Estland war in der Lage, rasch Anpassungen vorzunehmen und ebenso wieder in Schwung zu kommen wie Lettland, dem ein beispielloses Sparprogramm auferlegt worden war.1 Ein erster Versuch, die verschiedenen Positionen zu koordinieren, war das Treffen der Länder der Visegrad Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowakei) Ende Februar 2009 am Vorabend eines EU Gipfels unter tschechischer Präsidentschaft. Der ungarische Ministerpräsident forderte einen europäischen Rettungsplan, um ein “ökonomisches Jalta” für Europa zu verhindern. Sein tschechischer Amtskollege lehnte dies kategorisch ab, und zwar mit der Begründung, dass gerade ein solcher Rettungsplan die Idee eines immer noch geteilten Europas in den Köpfen zu verfestigen drohe. Der damalige slowakische Ministerpräsident Robert Fico setzte noch eins drauf, indem er sagte: “Unsere Situation ist tausendmal besser als die in Ungarn.” Diese Formulierung, die das völlige Fehlen mitteleuropäischer Solidarität widerspiegelt, lässt sich nur verstehen, wenn man weiß, dass die Slowakei tausend Jahre lang eine Provinz von Ungarn war, dessen Könige sich in Pozsony krönen ließen, das auch unter dem Namen Pressburg bekannt war, noch nicht aber als Bratislava …

Dennoch weist die Region angesichts der Krise einige gemeinsame Züge auf, die man folgendermaßen zusammenfassen könnte: Die Länder Mitteleuropas haben der Krise – entgegen weitverbreiteten Annahmen – besser widerstanden als der Rest der Europäischen Union. Das Wahljahr 2010 hat in einem krisenhaften Kontext zu rechtsliberalen und/oder rechtskonservativen Koalitionsregierungen geführt (Ungarn müsste man diesbezüglich gesondert behandeln). In ihrer Antwort auf die Krise fühlen sich die Länder der Region der deutschen Strenge näher als der französischen Position und bringen der laxen Haushaltspolitik, die sie den südeuropäischen Ländern zuschreiben, keinerlei Nachsicht entgegen. Angesichts der Eurokrise verläuft die Kluft nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Nordeuropa und Südeuropa; und Polen zum Beispiel gehört nach Aussage seines Außenministers ganz entschieden zu ersterem.2 Schließlich und vor allem: Diese Länder fürchten einen starken Zusammenhalt des Paares Deutschland Frankreich, das seine Lösungen als Schritte auf dem Weg zur Konstituierung eines “harten Kerns” und eines Europas der zwei Geschwindigkeiten durchsetzen würde.

Von den Ländern, die den Euro eingeführt haben, haben sich Slowenien3 und Estland (das sogar die Wette einging, diesen Schritt mitten in der Krise zu vollziehen) den neuen Zwängen gebeugt, ohne zu murren, während die Slowakei sich weigerte, mitten im Spiel die Regeln zu ändern – aus einem diskussionswürdigen Grund: die Pleite Griechenlands. Am Ende des EU Gipfels vom 8. bis 9. Dezember 2011 unterstützte Polen die unterbreiteten Vorschläge, während sich der ungarische Ministerpräsident Orbán zunächst dem britischen Veto anschloss, bevor er sich anders besann und wie die Tschechen empfahl, zuerst die Zustimmung des nationalen Parlaments einzuholen.4 Am Ende sind die Tschechen der Position Londons gefolgt und haben sich geweigert, den neuen Vertrag über Stabilität und Haushaltsdisziplin zu unterzeichnen.

Die kontrastierende Wahrnehmung der betroffenen Länder und das breite Spektrum ihrer Reaktionen auf die Eurokrise – sowie, allgemeiner betrachtet, auf die Frage nach der Zukunft des europäischen Projekts als solchem – lassen sich zum Teil aus der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Lage erklären. Man kann diese Vielfalt aber auch als politische Lehren darstellen, die die Länder der Region aus der europäischen Währungskrise gezogen haben.

Tschechische Republik: Die Lehre der Süffisanz und des euroskeptischen Pragmatismus

“Der Euro ist nie eine gute Idee gewesen. Sein Scheitern musste kommen.”5 So äußerte sich im November 2011 der Präsident der Tschechischen Republik, der seinen Worten noch folgende Erinnerung hinzufügte: “Ich hatte es Ihnen ja gesagt …” Man muss Václav Klaus in der Tat zugestehen, dass seine Opposition gegen die Einheitswährung vom selben Tag datiert, an dem diese auf den Weg gebracht wurde. Er stimme, so sagte er, mit der Ansicht des früheren britischen Finanzministers Nigel Lawson überein, der die Währungsunion als den “unverantwortlichsten Akt der Nachkriegszeit” bezeichnet. Václav Klaus, von seiner Ausbildung her Ökonom, fügte hinzu, dass seiner Ansicht nach eine Auflösung den gegenwärtigen Rettungsversuchen vorzuziehen wäre: Die europäische Fiskal oder Umverteilungsunion sei nur eine Sackgasse, die zu einer administrierten Wirtschaft führe, “wie sie der Kommunismus versucht hat; und wir wissen, dass es im kommunistischen Tunnel kein Licht gab und dass wir diesen Tunnel verlassen mussten”. Der Euro sei finanziell gescheitert, darüber hinaus aber würde die Krise seine gefährliche Logik offenbaren, die den Nationalstaat und die Demokratie bedrohe, insbesondere aufgrund der Gefahr einer Alleinregierung durch Frankreich und Deutschland.

Präsident Klaus trägt dick auf, steht damit aber repräsentativ für die Ablehnung einer Dominanz des Paares Deutschland Frankreich. Er gibt damit auch den Ton für die tschechischen Medien vor, die seine Themen gerne aufgreifen und Artikel über die “Euro Sklaverei” (in Bezug auf den Rettungsplan für Griechenland) 6 oder über “Mitglieder zweiter Klasse” 7 bringen. Mit anderen Worten: Man ist erleichtert, nicht im Euroraum zu sein, gleichzeitig aber frustriert, nicht an Entscheidungen beteiligt zu werden, die dessen Zukunft betreffen, die auch die Zukunft der Europäischen Union ist.

Wie gewohnt gibt Václav Klaus in Prag den Ton in der Europadebatte vor, nun aber ohne das Gegengewicht seines politischen Rivalen Václav Havel, dessen euro föderalistische Reden im Ausland mehr Widerhall fanden als im eigenen Land. Zwei Hauptströmungen lassen sich auf der politischen Bühne ausmachen.

Da ist zum einen die ODS, die rechtskonservative Partei von Ministerpräsident Petr Necas, die eine souveränitätsbetonte Haltung einnimmt und eine gelockerte Integration fordert. Ihrem britischen Vorbild getreu hat die ODS im Europaparlament die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) verlassen und gemeinsam mit den britischen Konservativen und der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) der Brüder Kaczynski eine Gruppe unerbittlicher Euroskeptiker gebildet. Nach den Worten der ODS-Abgeordneten Jana Cernochová wäre “die Europäische Freihandelszone (EFTA) exakt jene freie Assoziation von Staaten, die zu uns passt”.8 Auf ihrem Parteitag im Oktober 2011 hat die ODS die Idee eines Referendums über die Einführung des Euro einstimmig gebilligt. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass das Referendum vom Juni 2003 über den Beitritt zur Europäischen Union im Prinzip die Verpflichtung umfasste, auch die gemeinsame europäische Währung zu übernehmen. Das Argument, auf das man sich jetzt beruft, stützt sich auf die Änderungen, die in der politischen Regelung der Eurozone gerade vorgenommen werden. Alexandr Vondra, Ex Dissident und nunmehr Verteidigungsminister, erklärte auf dem Parteitag, dass die gegenwärtige Krise in der “fortdauernden Heterogenität der nationalen Traditionen, Kulturen und Ökonomien in Europa” begründet liege, “denen man allzu oft eine falsche Solidarität übergestülpt” habe. Inmitten der aktuellen Wirren forderte er, zuallererst Opfer für den nationalen Zusammenhalt zu bringen:

Die Konzepte des Multikulturalismus sind heute zu nichts mehr zu gebrauchen. Im Gegenteil: Das Wort “Vaterland” darf nicht zu einem Schimpfwort werden, sondern muss ein Wert sein, den es zu verteidigen lohnt und für den man auch bereit ist zu leiden.footnote>Jan Machacek, “Z Vondry vlastenec, z Kalouska Evropan”, in: Respekt, 25. Oktober 2011.

Daraus folgte dann, dass eine liberalkonservative Regierung, die seit zwei Jahren nichts als das Thema Haushaltsdisziplin im Munde führt, sich weigerte, einen europäischen Vertrag über die “Goldene Regel” einer Schuldenbremse zu unterzeichnen. All dies aus Treue zum britischen Euroskeptizismus, das heißt einem Land nacheifernd, das ein Haushaltsdefizit von 9 Prozent, eine Inflation von 4,8 Prozent und ein Nullwachstum aufweist.

Die andere, mehr europäisch gesinnte Position wird von der sozialdemokratischen Opposition und den Grünen verteidigt, darüber hinaus aber auch, innerhalb der Regierungskoalition, von der Partei Tradition, Verantwortung, Prosperität (TOP 09) des Fürsten Schwarzenberg. Als Außenminister hatte er erklärt, dass die Tatsache, ein Referendum über den Euro anzukündigen, darauf hinausliefe, den europäischen Partnern den blanken Hintern zu zeigen. Sein Kollege, Finanzminister Miroslav Kalousek, machte folgendes Argument geltend: Gerade bilde sich ein Europa der zwei Geschwindigkeiten heraus, was im Widerspruch zu den Interessen der Tschechischen Republik stehe, die es sich – im Unterschied zu Großbritannien mit der Londoner City als Drehscheibe der internationalen Finanzwelt, der Schweiz mit ihren Banken oder Norwegen mit seinen Gasvorkommen – nicht erlauben könne, beim entscheidenden Prozess der europäischen Integration abseits zu stehen. Denn das liefe darauf hinaus, Entscheidungen über sich ergehen lassen zu müssen, die von anderen getroffen werden.

Auf diese Weise spaltet die europäische Frage die Regierungsparteien, und falls die Krise noch länger dauern sollte, ist nicht ausgeschlossen, dass diese Spaltung auch zum Auseinanderbrechen einer Koalition führen könnte, die bereits von diversen Korruptionsaffären sowie einer Annäherung zwischen den “Pro Europäern” unter den Sozialdemokraten und den Liberalkonservativen von TOP 09 unterminiert wird. Das krisengeschüttelte Europa wirkt so als Beschleuniger für eine Neuverteilung der innenpolitischen Kräfte der Tschechischen Republik.

Wie lässt sich dieser Übergang von einer weichen Euroskepsis (Vorbehalte gegenüber bestimmten Aspekten der Europäischen Union) zu einem harten Euroskeptizismus (immer explizitere Infragestellung ihrer Grundlagen) erklären? Da ist zunächst einmal das Gewicht der Ideologie. Jenseits der Übertreibungen eines Václav Klaus, der bereits verkündet, sich nach dem Ende seiner Präsidentschaft im Frühjahr 20139 für die Desintegration der Europäischen Union einsetzen zu wollen, bildet der beständige Euroskeptizismus der Briten das Referenzmodell für die tschechischen Rechten (ODS). Schließlich gibt es nach Auskunft von Petr Durlak, dem Direktor des Instituts für Internationale Beziehungen in Prag, eine Mischung aus Postkommunismus (Festhalten an der neoliberalen Lehre selbst in Krisenzeiten, ablehnende Haltung gegenüber Regulierungsinstanzen), mitteleuropäischen Besonderheiten (nur Amerika, nicht aber die EU gilt als vertrauenswürdiger geopolitischer Garant gegenüber den Schwergewichten Russland und Deutschland) und dem Souveränitätskomplex eines kleinen Landes.10 Es handelt sich hierbei um eine als Ideologie verkleidete Mischung aus Provinzialismus und Egoismus. Man stößt aber auch auf folgendes Paradox, auf das Petr Pithart, der frühere Dissident und Vizepräsident des Senats, hinweist:

Wir haben uns von der Slowakei unter anderem deswegen getrennt, weil der junge Bruder uns auf unserem Weg in das sich vereinigende Europa zu bremsen schien. Unsere Mitbürger entdeckten damals die Existenz eines in ihren Augen skandalösen Abflusses von Geldern Richtung Slowakei, und viele von ihnen waren deswegen empört. Das hinderte sie jedoch nicht daran, im gleichen Atemzug hinzuzufügen, dass die Slowaken unsere Chancen hinauszögerten, umso größere Geldkanäle anzuzapfen, diesmal jedoch aus Brüssel und in unsere eigene Richtung.11

Slowakische Republik: Die Lehre strikter Buchführung

Durch eine Ironie der Geschichte hat die Slowakei, die vor weniger als zwanzig Jahren mit ihrem tschechischen Alter Ego die Auflösung der gemeinsamen Währung betrieben hatte, im Januar 2008 die europäische Einheitswährung eingeführt, also am Vorabend des Ausbruchs der Eurokrise. Das geschah unter der Regierung von Robert Fico und seiner (linken) Partei SMER. Die Griechenlandkrise fiel dann mit den slowakischen Wahlen im Frühjahr 2010 und dem Machtantritt einer Regierung der liberalkonservativen Rechten zusammen, deren Spitzenleute im Wahlkampf mehrheitlich versprochen hatten, sich an die geltenden Regeln zu halten und kein Geld slowakischer Steuerzahler in Pleiteländer zu pumpen. Iveta Radicová, eine ausgebildete Soziologin, die im Frühsommer 2010 ihr Amt als Ministerpräsidentin antrat, führte als Argument an, dass die Slowakei genauso arm sei wie Griechenland: Das Durchschnittseinkommen (760 Euro) entspreche dem Mindesteinkommen in Griechenland. Im vergangenen Jahrzehnt hat die Slowakei eine Reihe von mutigen und unpopulären Reformen durchgeführt, um die öffentlichen Ausgaben (Arbeitsmarkt, Renten, Gesundheitswesen) in den Griff zu bekommen und so die Kriterien für die Euro Einführung zu erfüllen. All dies, um schließlich zu erfahren, dass man sich gemäß dem Abkommen vom 21. Juli 2011 mit für die eigenen Maßstäbe beträchtlichen Summen (die etwa der Hälfte der im Budget vorgesehenen Einnahmen entsprachen) am Rettungsprogramm für ein Land beteiligen sollte, das seit drei Jahrzehnten ein Großempfänger aus europäischen Töpfen ist und beschlossen hatte, ebendiese Kriterien zu ignorieren und die Haushaltsbilanzen zu fälschen.

Unter diesen Bedingungen konnten die an der slowakischen Regierung beteiligten Parteien nicht einfach alles verleugnen, was sie während des Wahlkampfs immer wieder verkündet hatten. In der Klemme zwischen dem Druck der europäischen Partner und einer überwiegend feindseligen öffentlichen Meinung hat sich die Regierung von Iveta Radicová schließlich gespalten: Auf der einen Seite standen, ihren eigenen Worten zufolge, die Anhänger der Parole “Kein europäischer Fonds, keine Garantien, keine Hilfe, lasst die Krise sich von selbst auflösen!” und auf der anderen Seite die Eurorealisten, die sagten: “Wir haben Verpflichtungen, wir gehören zur Eurozone, wir haben eine Verantwortung, wir können nicht die Vorteile annehmen, ohne die Probleme zu teilen.”12

Die erstgenannte Position wurde von Richard Sulik vertreten, der einige Monate vor den Wahlen 2010 die liberalkonservative Partei Freiheit und Solidarität (SaS) gegründet hatte. Seine Partei weigerte sich, dem slowakischen Beitrag zum Europäischen Finanzstabilitätsfonds zuzustimmen und löste damit den Sturz der Regierung und die Ausschreibung vorgezogener Neuwahlen aus (erst danach hat die Oppositionspartei SMER dem slowakischen Beitrag zum Europäischen Fonds zugestimmt). Auf diese Weise ist die slowakische Regierung zu einem der zahlreichen Opfer der Eurokrise geworden. Der Wahlkampf wurde dann aber weniger von der Zukunft des Euro beherrscht als vielmehr von der Veröffentlichung der Akte “Gorilla” des slowakischen Geheimdienstes, die ein ungeahntes Maß an Korruptheit der politischen Elite offenbarte. Ebendies hat zum haushohen Sieg der (linken) Partei SMER bei den Parlamentswahlen im März 2012 geführt.

Die Eurokrise hat es zum Vorschein gebracht: Griechenland war aus politischen Gründen in die Eurozone aufgenommen worden, ohne auf ökonomischer, fiskalischer und vor allem institutioneller Ebene dafür bereit gewesen zu sein.13 Die Slowakei hingegen hat bewiesen, dass sie auf ökonomischer und fiskalischer Ebene wohlvorbereitet war, nicht aber auf der politischen.

Ungarn: Die Lehre der Demut und Bescheidenheit

Als er im Frühjahr 2010 nach dem erdrückenden Wahlsieg seiner Fidesz Partei (zwei Drittel der Parlamentssitze) an die Macht kam, hat Viktor Orbán sogleich die Absicht verkündet, sein Land von der finanziellen Abhängigkeit gegenüber dem Ausland, das heißt dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union, zu befreien: “Weder der IWF noch die Finanzverantwortlichen der EU sind unsere Vorgesetzten, und wir sind nicht ihre Untergebenen.” Zu Beginn der Krise im Jahre 2008 hatte nämlich die (sozialistische) Vorgängerregierung mit Unterstützung der EU einen Kredit des IWF in Höhe von zwanzig Milliarden Dollar erhalten. Um sich aus den damit verbundenen Verpflichtungen zu lösen, hat die Regierung Orbán eine ganze Reihe von radikalen Maßnahmen ergriffen, die den Interessen der ausländischen Banken und Investoren offen zuwiderliefen. Orbán verweigerte die letzte Tranche des IWF-Kredits und beschloss, die privaten Pensionsfonds zu renationalisieren und die Banken sowie bestimmte multinationale Konzerne mit Steuern zu belegen. Er versprach zudem, für die Rückzahlung der Immobilienkredite ungarischer Bürger den Wechselkurs zwischen dem Forint und dem Schweizer Franken festzulegen (180 Forint für einen Franken).14 2008 belief sich der Kurs auf 140 Forint für einen Franken, heute liegt er bei 263 zu eins. Die Spanne zwischen dem von Orbán geforderten und dem marktüblichen Kurs sollte den betroffenen (vor allem österreichischen) Banken aufgebürdet werden. Die Regierung hatte sich auch verpflichtet, die Herkunft von Krediten in Fremdwährungen zu untersuchen. Dieser grobe Interventionismus hat in Finanzkreisen Misstrauen hervorgerufen und dazu geführt, dass Österreich und Deutschland via Europäischer Kommission Protest einlegten.

Während Ungarn im ersten Halbjahr 2011 die Präsidentschaft der Europäischen Union innehatte, wurde im April 2011 eine neue Verfassung angenommen, mit der die Macht der Exekutive gestärkt werden sollte, und zwar zulasten der Gewaltenteilung, zwischengeschalteter Einrichtungen und politisch “neutraler” Instanzen (wie der Zentralbank, dem Rechnungshof und vor allem dem Verfassungsgericht, dessen Mitglieder nun von der Fidesz Regierung ernannt werden). In eineinhalb Jahren wurden mehr als dreihundert Gesetze verabschiedet, angefangen mit einem freiheitsfeindlichen Mediengesetz. Letzteres ist nach heftiger Kritik seitens der EU-Kommission zwar abgeändert worden, was aber nichts an der Gleichschaltung vor allem im Bereich der öffentlich rechtlichen Medien ändert. Es gab auch den Versuch der Einflussnahme auf die Justiz, indem man zweihundert Richter vorzeitig pensionieren und durch der Fidesz Partei nahestehende junge Richter ersetzen wollte, bereit, rückwirkend juristisch gegen Führungspersönlichkeiten der Sozialistischen Partei vorzugehen und sie für die Missetaten der kommunistischen Zeit verantwortlich zu machen. Während Orbán mit der kommunistischen Vergangenheit brechen will, nimmt er eine andere Vergangenheit für sich in Anspruch, und zwar die des nationalistischen und autoritären Ungarns der Horthy Zeit (1920 1945). In der Krise setzt er offen auf die Karte der innenpolitischen Polarisierung und der Herausforderung internationaler Finanzinstitutionen.

Letztere sind aber gerade dabei, Revanche zu nehmen. Derselbe Politiker, der sich großspurig weigerte, von der internationalen Finanzwelt abhängig zu sein, sieht sich aufgrund der verschlechterten finanziellen Lage nun gezwungen, eine 180 Grad Wende zu vollziehen und den IWF um Hilfe zu bitten. Unmittelbar zuvor hatte Viktor Orbán (wie viele andere übrigens auch) dem chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao den roten Teppich ausgerollt, für Investitionen in die ungarischen Staatsschulden, deren Höhe freilich im Unklaren blieb (um die zehn Milliarden Euro, behauptet Orbán).15
Als die Ratingagenturen Moody’s und Standard & Poor’s Ende 2011 ihre Bewertung Ungarns auf Ramschniveau herabstuften, ungarische Staatsanleihen auf einen Zinssatz von über 9 Prozent stiegen (dem höchsten nach Griechenland) und der Forint im Laufe des letzten Trimesters 2011 20 Prozent seines Werts verlor, war eine Kapitalflucht ins benachbarte Österreich zu beobachten. In die Enge getrieben, musste Orbán dem IWF einen “neuen Modus der Zusammenarbeit” vorschlagen und versucht nun, die Europäische Union zu beruhigen, ohne deren Unterstützung kein IWF Kredit gewährt werden wird.16 Hinzu kommt die Entscheidung der EU vom März 2012, eine halbe Milliarde Euro aus europäischen Mitteln einzufrieren, weil Ungarn sein Defizit nicht in ausreichendem Maße reduziert hatte. Gleichzeitig akzeptierte die EU, dass Spanien sein Defizit erhöht und zuvor eingegangene Verpflichtungen ignoriert. Es scheint klar, dass da in der Union mit zweierlei Maß gemessen wird. Polen und die Tschechische Republik (nicht aber die Slowakei) haben sich gegen diese Behandlung Ungarns gewandt; die Medien dieser beiden Länder haben in ihr die Bestätigung dafür gesehen, dass einige in der Union gleicher sind als andere.

Auf der politischen Ebene hat die Europäische Union also nicht viel unternommen, um dem Abdriften Ungarns in den Autoritarismus gegenzusteuern; der ökonomisch finanzielle Hebel erwies sich für Brüssel als geeigneter, um Orbán wieder auf den harten Boden europäischer Zwänge zurückzubringen – mehr auf den Boden der finanziellen als den der demokratischen Zwänge. Die Lehre, die Orbán, der sich die Rückeroberung ungarischer Souveränität auf die Fahne geschrieben hatte, aus all dem zog, könnte man also als eine Lektion in Demut und Bescheidenheit bezeichnen.

Polen: Die Lehre einer europäischen Gesinnung

Polen bildet in Mittelosteuropa eine Ausnahme, sowohl durch die gute Verfassung seiner Wirtschaft als auch durch seinen Ehrgeiz, sich in einem von der Eurokrise dominierten Kontext zu einem wichtigen europäischen Akteur zu entwickeln. Für seine Nachbarn ist die Krise vor allem eine Bedrohung, für Polen hingegen bietet sie auch die Gelegenheit, Verantwortung zu übernehmen und eine Antwort auf die europäischen Herausforderungen zu formulieren. Die erste polnische Besonderheit ist das starke Wachstum, das während der Krise aufrechterhalten werden konnte (3,8 Prozent im Jahre 2010 und 4,3 Prozent im Jahre 2011). Die zweite Besonderheit ist die Wiederwahl der liberalen Regierung der Bürgerplattform (PO) in den Wahlen vom Oktober 2011, während es sonst überall darum ging, die Regierenden für die Krise verantwortlich zu machen und ihnen den Laufpass zu geben. Die Mitte Rechts Regierung von Donald Tusk, die sich keiner ernst zu nehmenden linken Opposition gegenübersah, hat der Kampagne der nationalpopulistischen Rechten von Jaroslaw Kaczynskis Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) erfolgreich Paroli geboten. Das Land hat sich im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre modernisiert, auf dem Human Development Index der UNO rangiert es nun unter den “hochentwickelten” Ländern und positioniert sich als gewichtiger Akteur auf der Bühne des von Zweifeln geplagten Europa.

Die Position des Landes hinsichtlich der Eurokrise erklärt sich zum Teil aus den beiden genannten Ausnahmen. Die führenden Politiker Polens wissen, dass das wohlverstandene Interesse eines Landes, das drei Viertel seines Handels mit der EU abwickelt und das 40 Prozent seines BIP mit Exporten nach Deutschland erzielt, eben darin besteht, den Fortbestand des Euro sowie des europäischen Projekts ganz allgemein zu gewährleisten. Wenn während der polnischen EU Präsidentschaft auch Vorbehalte laut wurden hinsichtlich der Art und Weise, wie die großen Länder der Eurozone an den europäischen Instanzen vorbei Entscheidungen treffen, so lassen die Reaktionen aus Polen gleichwohl weder Schadenfreude (à la Václav Klaus) noch bloßen Attentismus (“Sollen sie doch selber schauen, wie sie zurechtkommen!”) erkennen, genauso wenig wie die Versuchung, die Gelegenheit zu nutzen, das europäische Projekt zu Fall zu bringen (Version Cameron / Necas).

Wie Polen über die Eurokrise denkt und wie es seine Rolle angesichts der sich daraus ergebenden Herausforderungen sieht, illustriert eine Rede, die Außenminister Radoslaw Sikorski Ende November 2011 in Berlin gehalten hat. Es war wohl die wichtigste Rede eines Außenministers eines mittelosteuropäischen Landes in den letzten zwanzig Jahren. Nachdem er zunächst unterstrichen hatte, dass die Krise keine Folgeerscheinung der EU-Erweiterung sei, konzentrierte Sikorski sich auf das Wesentliche:

Wir haben ein Europa mit einer dominierenden Währung, aber keinen Finanzminister, um sie zu managen. Wir haben gemeinsame Grenzen, aber keine gemeinsame Migrationspolitik. Es wird allgemein angenommen, dass wir eine gemeinsame Außenpolitik haben, sie findet aber getrennt von den realen Instrumenten der Macht statt und wird häufig durch Aktionen von Mitgliedsstaaten geschwächt, die auf eigene Rechnung handeln.17

Das Auseinanderbrechen des Euro würde “eine Krise apokalyptischen Ausmaßes” auslösen, die den gemeinsamen Markt und die Grundlagen der Union selbst mit sich reißen würde. Wenn man keinen partiellen Zerfall der Union wolle, sei die föderale Lösung zwingend: “Vertiefung der Integration oder Zusammenbruch.” Die Europäische Zentralbank müsse zu einem Kreditgeber letzter Instanz werden, die Kommission brauche mehr Macht, aber weniger Kommissare. Schließlich erinnerte Sikorski die Briten (die den polnischen Regierungen der 1990er Jahre stets als Vorbild dienten) daran, dass ihre Gesamtschuld (also die Schulden von Staat, Unternehmen und Privatleuten zusammen) über 400 Prozent des BIP betrage und sie daher weder irgendwelche Lehren erteilen sollten noch gültige Gründe vorweisen könnten, um die weitere Integration zu verhindern: “Wenn Sie sich uns schon nicht anschließen können, so hindern Sie uns wenigstens nicht daran, weiter voranzuschreiten”, sagte Sikorski. Schließlich wandte sich der polnische Außenminister direkt an Deutschland, das er als den “größten Nutznießer der aktuellen Regelungen” bezeichnete und das daher auch “die größte Verpflichtung [habe], diese nachhaltig zu festigen”. Aus all dem zog er den Schluss: “Die größte Bedrohung für Polens Sicherheit und Prosperität wäre der Kollaps der Eurozone.” Und er fügte folgenden, für einen polnischen Politiker unerhörten Satz hinzu: “‘Ich fürchte mich nicht so sehr vor Deutschlands Macht, vielmehr beginne ich, mich vor Deutschlands Untätigkeit zu fürchten. Sie sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie dürfen bei der Führung nicht versagen. Nicht um zu dominieren – sondern um zu führen bei den Reformen.”

Zu einem Zeitpunkt, da Merkel und Sarkozy ruckweise auf einen Föderalismus aus Versehen zusteuerten, diktiert durch die Bewältigung der Finanzkrise, erteilte der Minister desjenigen europäischen Staates, der mehr als jeder andere weiß, was die Wiedererlangung nationaler Souveränität bedeutet, seinen mitteleuropäischen Nachbarn, aber auch den Gründerstaaten der Union, in denen deren wesentliche Grundlagen in Vergessenheit zu geraten scheinen, eine veritable Lektion in europäischer Gesinnung. Obwohl Sikorski Frankreich in seiner Rede kein einziges Mal erwähnte, hat sich ein Zeitfenster für den neuen französischen Präsidenten geöffnet, das ihm erlauben würde, das “Weimarer Dreieck”, in dem Frankreich, Deutschland und Polen verbunden sind, mit neuem Leben zu erfüllen. Die polnische Antwort auf die Krise legt nahe, dass sich in ebendiesem Dreieck das tragende Gerüst des Europas von morgen herausbilden kann und muss.

Die seit 2008 andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise hat gezeigt, dass die Antworten der mitteleuropäischen Länder auf sie sehr unterschiedlich ausfallen. Und die Krise, die derzeit die Eurozone im Griff hält und mit der auch die Zukunft der ganzen europäischen Konstruktion auf dem Spiel steht, hat kontrastierende Wahrnehmungen offenbart, die wiederum darauf verweisen, welch unterschiedliche Vorstellungen man sich sowohl vom Nationalstaat als auch vom europäischen Projekt macht. Die europäische Krise hat tiefe Risse auf innenpolitischer Ebene offengelegt, aber auch Divergenzen unter den neuen EU Mitgliedsländern, die zwei politischen Kulturen entsprechen: einem “souveränitätsbetonten” und einem “europäisch gesinnten” Pol. Die Slowakei ist der Eurozone beigetreten, scheint dies nun zu bereuen, sieht sich jedoch gezwungen, weiter mit dem Strom zu schwimmen. Das Ungarn Viktor Orbáns hält sich außerhalb der Eurozone, bekundet seinen Willen zur “Rückeroberung der Souveränität”, um rasch deren Grenzen vor Augen geführt zu bekommen. Der stärkste Kontrast im Hinblick auf den europäischen Kern, der sich um die Eurozone herum herauszubilden beginnt, besteht zwischen Tschechien und Polen: Die Tschechische Republik ist sichtlich erleichtert, nicht zur Eurozone zu gehören, läuft dabei aber Gefahr, den Anschluss an den neuen großen Schritt in Richtung europäischer Integration zu verpassen und sich im zweiten, äußeren Kreis der Union wiederzufinden. Bei Polen hingegen liegen die Dinge genau umgekehrt: Obwohl das Land aus historischen Gründen sehr an seiner Souveränität hängt und nicht Mitglied des Euroraums ist, verhält es sich so, als ob es eines wäre und fordert sogar einen “großen Sprung nach vorn” in Sachen Föderalismus. Denn Polen hat begriffen, dass es im geopolitischen Interesse Mitteleuropas liegt, alles zu tun, um das europäische Projekt zu retten, was impliziert, dass man sich nicht wie ein Randstaat und ein bloßer Krisenbeobachter verhält, sondern als ein Akteur handelt, der zu jenem Kern gehört, von dem die Neubegründung der europäischen Konstruktion ausgeht.

Vgl. die von einem schwedischen Wissenschaftler und dem früheren lettischen Ministerpräsidenten, A. Aslund und V. Dombrovkis, verfasste Studie "How Latvia Came Through the Financial Crisis", Peterson Institute for International Economics, 2011. Die lettische Erfahrung wird dort als eine Lektion präsentiert: "An der Finanzkrise in Lettland war all das bemerkenswert, was nicht eingetreten ist. Es gab keine signifikante Reaktion gegen die Globalisierung, den Kapitalismus, die Europäische Union ...".

Rede von Radoslaw Sikorski an der Harvard University vom 24. Februar 2011.

In Slowenien, das von der Krise nur wenig getroffen wurde, ist die Finanzierungsrate der Staatsschuld von 4 Prozent auf 7 Prozent im Jahre 2011 gestiegen, nachdem eine Rentenreform, die eine Erhöhung des Rentenalters von 63 auf 65 Jahre vorsah, in einem Referendum abgelehnt worden war. Die Ratingagentur Moody's hatte Slowenien anschließend umgehend auf AA herabgestuft. Vgl. A. Beaugé, "La Slovénie à son tour touchée par la crise", in: Le Monde, 22. November 2011.

P. Spiegel, "EU Treaty Problems? Cameron is not Alone", in: Financial Times, 14. Dezember 2011.

Václav Klaus, "Euro dobrou myslenkou nikdy nebylo. Ztroskotani muselo prijit", in: Parlamentni Listy, 14. November 2011.

Petr Sourek, "Eurootroctvi", in: Lidové noviny, 5. November 2011.

Julie Hrstková, "Clenové druhé kategorie", in: Hospodarské noviny, 16. März 2010.

Jana Cernochová, "Jsem hrdá na korunu ceskou", in: Respekt, 31. Oktober 2011.

Laut seinem Berater Jiri Payne "bereitet sich Klaus auf den Kampf um die Freiheit in Europa vor", in: Pravo, 7. März 2012.

Petr Durlak, "National Debates on the EU. The Czech Conundrum -- Post Communist, Central European and Small", Vortrag auf einem Seminar des European Council on Foreign Relations, Prag, 13. März 2012.

Petr Pithart, in: Listy, Januar 2012, S. 8.

Iveta Radicová, Interview in: MF Dnes, Prag, 22. Oktober 2011.

Zu den tieferen Ursachen dieses angekündigten Scheiterns vgl. Georges Prévélakis, "Grèce: les raisons historiques de la faillite", in: Esprit, November 2011, S. 18.

Spencer Jakab, "Risk of Swiss Loans Loom Large over Hungary", in: Financial Times, 20. Mai 2011. Drei Viertel der Immobilienkredite in Ungarn (zu einem guten Teil aber auch in Polen) wurden in Fremdwährungen getätigt, zu 95 Prozent in Schweizer Franken. Circa 120 000 ungarische Haushalte haben die Rückzahlung dieser Kredite eingestellt.

www.leblogfinance.com/2011/06/la-chine-pourrait-acheter-des-obligations-detat-de-la-hongrie

N. Buckley und K. Eddy, "Market Jitters force Hungary into Seeking Support Package from IMF", in: Financial Times, 9. Januar 2012.

Radoslaw Sikorski, "Poland and the Future of the European Union", Berlin, 28. November 2011.www.msz.gov.pl/files/docs/komunikaty/20111128BERLIN/radoslaw_sikorski_poland_and_the_future_of_the_eu.pdf

Published 23 April 2013
Original in French
Translated by Markus Sedlaczek
First published by Transit 43 (2013) (German version); Visegrad Insight 1/2012 (original English version)

Contributed by Transit © Jacques Rupnik / Transit / Eurozine

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