Kritik und kommunikatives Handeln

Ein Gespräch mit Jürgen Habermas

Esprit: Es ist üblich geworden, Ihr Werk mit jenem Vorhaben zu verknüpfen, das in den 1930er-Jahren von der Frankfurter Schule in Angriff genommen worden war: Die Ausarbeitung einer kritischen Theorie der Gesellschaft, die in der Lage wäre, dem Projekt der Emanzipation in einer vom Technokapitalismus geprägten Welt neues Leben einzuhauchen. Als Sie nach dem Zweiten Weltkrieg Ihr Studium begannen, war in Deutschland ein anderes Bild von Philosophie vorherrschend: das weniger heroische Bild einer ohnmächtigen, ja durch den Nationalsozialismus kompromittierten Philosophie. Welche Motive haben Sie zur Wahl dieses Fachs bewogen? Hat das pessimistische Urteil, das Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung über die Vernunft abgaben, bei Ihren ersten Auswahlentscheidungen in der Philosophie (das Studium Schellings) eine Rolle gespielt?

Jürgen Habermas: Nein, so war es nicht. Ich bin ja erst 1956, zwei Jahre nach Abschluss meiner Bonner Schelling-Dissertation, nach Frankfurt gegangen. Um zu erklären, wie ich zur “Kritischen Theorie” gestoßen bin, muss ich etwas ausholen. An deutschen Universitäten konnte man zwischen 1949 und 1954 im allgemeinen nur bei Professoren studieren, die entweder selber Nazis gewesen waren oder sich angepasst hatten. Politisch-moralisch war die deutsche Universität korrumpiert. Deshalb gab es eine merkwürdige Kluft zwischen meinen philosophischen Studien und den linken Überzeugungen, die sich in nächtelangen Diskussionen über zeitgenössische Literatur, über die wichtigen Theateraufführungen und den damals vor allem von Frankreich und Italien beherrschten Film entwickelten. Ich hatte mir allerdings schon während meiner Schulzeit Schriften von Marx und Engels besorgt und mich mit dem Historischen Materialismus beschäftigt. Bei dieser Interessenrichtung hätte es nahe gelegen, Soziologie zu studieren, aber dieses Fach wurde damals an meinen Universitäten in Göttingen und Bonn noch nicht unterrichtet. Nach dem Studium wurde mir ein Stipendium für eine Untersuchung zum “Begriff der Ideologie” bewilligt. In dieser Zeit habe ich mich mit der theoretischen Literatur zum Marxismus der 20er Jahre und vor allem mit der hegel-marxistischen Tradition vertraut gemacht – und war dann elektrisiert, als Adorno 1955 die Prismen veröffentlichte. Zwar kannte ich schon die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno; aber der Tenor dieser durch und durch “schwarzen” Theorie entsprach nicht dem Lebensgefühl von jungen Leuten, die endlich alles besser machen wollten.

Aber einen ganz anderen Eindruck machten die Prismen auf mich. Das war eine Sammlung von Adornos großen Aufsätzen aus den 40er und frühen 50er Jahren über Oswald Spengler, Karl Mannheim, Thorston Veblen usw. Heute kann man sich den Widerspruch dieser funkelnden Texte zum verquasten, verklebten Klima jener Adenauerzeit nicht mehr vorstellen. Der Beginn des Kalten Krieges war in Deutschland von einem Antikommunimus geprägt, der der forcierten Verdrängung einer vernehmbar beschwiegenen Nazi-Zeit Vorschub leistete. In dieses doppelbödige Schweigen platzten also die scharf artikulierten Worte eines brillanten Geistes, der die gegenwärtige Lage, unbeirrt vom antikommunistischen Zeitgeist, mit entstaubten Marxschen Kategorien erfasste. Die radikale Begrifflichkeit und die Komplexität eines dunkel leuchtenden Stils brachen durch den Nebel der frühen Bundesrepublik hindurch. Es war auch die Geste des “absolut Modernen”, die mich ansteckte. Aber in Adornos Essays begegnete mir vor allem jemand, der den bis dahin für selbstverständlich gehaltenen historischen Abstand zwischen der Gegenwart des Kalten Krieges und der marxistischen Gesellschaftstheorie der 20er Jahre aufhob, weil er mit diesen Kategorien ganz gegenwärtig, ganz zeitgenössisch umging! Erinnern Sie sich: Auch Jean-Paul Sartre, der mit seinen Theaterstücken die Bühnen der Nachkriegszeit beherrschte, war ja damals als Philosoph noch nicht wirklich politisch. Für uns Studenten hat Le Deuxième Sexe der Simone de Beauvoir schon sehr viel eher einen politischen Nerv getroffen als L’Être et le néant.

Als mich dann Adorno, der damals einige Dinge von mir gelesen hatte, über einen Journalisten, den Musil-Herausgeber Adolf Frisé, einlud, ans Institut für Sozialforschung zu kommen, war kein Halten mehr. Meine Frau sagt heute noch, ich sei “mit fliegenden Fahnen” nach Frankfurt geeilt. Ich betrachte es immer noch als einen Glücksfall, dass ich 1956 Adornos erster Assistent geworden bin.

Esprit: Sie stellen Ihren eigenen intellektuellen Werdegang oft als ein “Produkt der reeducation” dar. Nach der deutschen Katastrophe waren Sie von Anfang an bestrebt, die (im Allgemeinen negative) Beurteilung der Demokratie neu auszutarieren. Inwiefern hat diese Notwendigkeit bei ihrer Einschätzung der Figur Heideggers eine Rolle gespielt, der – zumindest in Frankreich – die zeitgenössische Philosophie stark geprägt hat, die viele Anleihen bei ihm nahm? Wenn wir über das persönliche Engagement Heideggers einmal hinausblicken: Betrifft der strittige Punkt nicht auch die Berufung der Philosophie in einer Welt, die vom Irrationalismus bedroht ist?

Jürgen Habermas: Für mein Verständnis von Demokratie sind bis heute Kant und die Französische Revolution entscheidend; unmittelbar nach dem Krieg, wir lebten in der britischen Besatzungszone, lernte man mehr über die angelsächsischen Demokratien. Vor diesem Hintergrund und im Licht der gebrochenen Geschichte der deutschen Demokratie haben wir damals versucht, den unbegreiflichen Rückfall in den Abgrund des Faschismus zu begreifen. Das hat meine Generation mit einem tiefen Selbstmisstrauen infiziert; wir machten uns auf die Suche nach jenen dumpfen anti-aufklärerischen Genen, die in unserer eigenen Tradition stecken mussten. Vor aller Beschäftigung mit Philosophie war das für mich die elementare Lehre aus der Katastrophe: Unsere Traditionen standen unter Verdacht – sie konnten nicht mehr kritiklos weitergereicht, sondern nur noch reflexiv angeeignet werden: Alles musste durch den Filter rationaler Prüfung und begründeter Zustimmung hindurch!

Als ich im Sommer 1953, also noch während meines Studiums in Bonn, eine frisch publizierte Vorlesung von Heidegger aus dem Jahre 1935, die Einführung in die Metaphysik las, wurde mir schon am Jargon, an der Wahl der Begriffe und dem Stil, schlagartig klar, dass sich in diesen Motiven, Gedanken und Phrasen der Geist des Faschismus ausdrückte. Das Buch hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen, weil ich mich bis dahin als einen Heidegger-Schüler verstanden hatte. Der Zeitungsartikel, in dem ich mir noch am selben Wochenende meine große politisch-philosophische Enttäuschung von der Seele geschrieben habe, trägt deshalb den Titel: “Mit Heidegger gegen Heidegger denken”. Damals konnte man nicht wissen, dass Heidegger schon 1916 antisemitische Briefe an seine Frau geschrieben hatte und dass er schon vor 1933 ein überzeugter Nazi geworden war. Aber dass er ein uneinsichtiger Nazi geblieben war, das konnte man spätestens 1953 erfahren.

Seitdem ist mir die kritiklose Rezeption in Frankreich, übrigens auch in den USA, immer suspekt gewesen. Ich empfinde es als völlig absurd, dass heute die Schwarzen Hefte wie eine Neuigkeit behandelt werden – und dass manche Kollegen sogar den Versuch machen, Heideggers Antisemitismus und den ganzen unsäglichen Rest seiner dumpfen Ressentiments seinsgeschichtlich (!) zu sublimieren. Andererseits bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass die Argumente von Sein und Zeit, wenn man sie mit den Augen von Kant und Kierkegaard liest, in der Philosophiegeschichte einen bedeutenden Platz behalten. Trotz der politischen Ambivalenz des Stils betrachte ich dieses Werk als Ergebnis einer langen Geschichte der Detranszendentalisierung des Kantischen Subjekts: Mit den eigenwillig angeeigneten Mitteln der Husserlschen Phänomenologie bringt Sein und Zeit ein wichtiges Erbe des amerikanischen Pragmatismus, des deutschen Historismus und der von Humboldt ausgehenden Sprachphilosophie auf den Begriff. Manche Kritiker lesen das Buch nur aus dem Blickwinkel eines Historikers politischer Ideen; aber dann übersieht man die Relevanz der Argumente und den Eigensinn langfristiger philosophischer Lernprozesse. Mein Freund Karl-Otto Apel hat immer darauf bestanden, dass Heidegger erst 1929, mit Kant und das Problem der Metaphysik, die Weichen in die Richtung seiner fatalen Spätphilosophie gestellt hat – und sich seitdem selbst einen privilegierten Zugang zum “Geschick der Wahrheit” zuschreibt. Seitdem lässt Heidegger die philosophische Argumentation zunehmend hinter sich und wird zum Privatdenker. Der Übergang von den gemeinsam mit dem Theologen Rudolf Bultmann abgehaltenen Marburger Seminaren zur Freiburger Rektoraktsrede war eine Wende vom individualistisch gelesenen “Dasein” zur kollektivistischen Lesart, zum “Dasein des Volkes”. Diese hat Heidegger 1933 zum Propagandisten und – nach 1945 – zum Apologeten des Naziregimes gemacht, sogar zu einem Schönredner der Naziverbrechen.

Esprit: Später, in Der philosophische Diskurs der Moderne, wenden Sie Ihre Kritik an einseitigen Verurteilungen der Vernunft auf die zeitgenössische französische Philosophie an. In diesem Zusammenhang weisen Sie, insbesondere bei Foucault und Derrida, auf eine mögliche Allianz zwischen Postmoderne und Neokonservativismus hin. Könnten Sie kurz die Hintergründe dieses Urteils in Erinnerung rufen, wie auch die Gründe, die Sie bewogen haben, es später zu ändern (man denke an Ihr gemeinsam mit Jacques Derrida verfasstes Buch, oder an Ihre Hommage an den Foucault der Aufklärung)?

Jürgen Habermas: In meiner Generation hat es zwischen den Philosophen diesseits und jenseits des Rheins viele Missverständnisse gegeben und wenige Versuche, sich zu verstehen, statt sich gegenseitig zu ignorieren. Eine der wenigen Ausnahmen ist der bewunderungswürdige Paul Ricoeur. Eine Erklärung für diese missliche Situation ist gewiss die starke Orientierung der Deutschen an der angelsächsischen Philosophie. Hinzu kommen sprachliche und zufällige Missverständnisse. Ihre Frage erinnert mich an die Verwechslung der Ausdrücke “jungkonservativ” und “neokonservativ”. Ich habe Foucault und Derrida – zugegebenermaßen polemisch zugespitzt und insofern ungerechterweise – “jungkonservativ” genannt. Ich wollte sie darauf hinweisen, dass die deutschen Autoren, auf die sie sich vor allem beriefen, in einem politisch vergifteten Kontext stehen. Heidegger und Carl Schmitt schöpfen aus tief-deutschen, nämlich militant gegenrevolutionären Quellen, die mit den Intentionen einer reflektierten Aufklärung, überhaupt mit linken Traditionen in Widerspruch stehen. In Deutschland hat man diese Jungkonservativen mit dem Schlagwort “linke Leute von rechts” charakterisiert, weil sie “modern” sein wollten. Sie wollten ihre elitären Vorstellungen von einer autoritär geführten und uniformiert zusammengeschweißten Gesellschaft mit antibürgerlicher Geste durchsetzen. Diese aktivistische Mentalität nährte sich unter anderem aus dem Ressentiment gegen den als Schmach empfundenen Frieden von Versailles. Carl Schmitt und Heidegger sind nicht aus Zufall, sondern aus Motiven, die in ihren Theorien tief verwurzelt sind, zu intellektuellen Vorreitern des NS-Regimes geworden. Mir war der Gegensatz zu den Intentionen von Foucault oder Derrida immer klar; meine Affekte erklären sich vielleicht auch daraus, dass es ausgerechnet bedeutende französische Linke waren, die sich an solche Leute fixierten. Meine Affekte hätte ich freilich besser kontrollieren sollen.

Sie fragen aber nach Gründen für den Dissens über die Aufklärung. In dieser Kontroverse geht es nach meinem Verständnis nicht um die unbestreitbare ideologische Rolle, die die selektive Anwendung von Maßstäben unseres egalitär-individualistischen Universalismus in der Geschichte der westlichen Moderne immer wieder gespielt hat – nach innen in der hypokritischen Rechtfertigung repressiver Regime, nach außen in der imperialistischen Zerstörung und Ausbeutung fremder Kulturen. Philosophisch dreht sich der Streit vielmehr um die Erklärung der Tatsache, dass sich jede Kritik an dieser Hypokrisie auf nichts anderes berufen kann als auf die Maßstäbe eben dieses Universalismus selber. Soweit sich der Aufklärungsdiskurs auf dem begrifflichen Niveau von Kant bewegt, ist er selbstreflexiv geworden: er weiß, dass er die Kritik an den eigenen Fehlern aus sich selbst schöpfen muss. Kant hat nämlich den in sich selbst zentrierten, auf die eigene Perspektive beschränkten “Universalismus” überwunden. Carl Schmitt hatte diesen Universalismus der Alten Reiche im Sinn, für die es jenseits ihrer Grenzen nur Barbaren gab. Die starre Perspektive, aus der die eigenen, vermeintlich rational begründeten Standards auf alles Fremde angewendet wenden, ohne deren eigene Perspektive zu berücksichtigen, hat Kant dezentriert. Diesem dezentrierenden Aufklärungsdiskurs halten nur Maßstäbe stand, die aus einer gegenseitigen Perspektivenübernahme aller Betroffenen gerechtfertigt werden können. Das ist die diskursethische Lesart eines selbstreflexiv gewordenen Universalismus, der den jeweils Anderen nicht ans Eigene assimiliert, der vielmehr von der Prämisse ausgeht, dass jeder für den Anderen ein Anderer ist – und bleiben will!

Foucault hat mich 1982 für sechs Wochen ans Collège de France eingeladen. Am ersten Abend sprachen wir über deutsche Filme: Herzog und Syberberg waren seine Lieblingsregisseure, während ich für Kluge und Schlöndorf Partei nahm. Später haben wir uns das Curriculum unserer beiden, jeweils anders verlaufenden philosophischen Lehrjahre erzählt. Er erzählte, wie ihm Claude Lévi-Strauss und der Strukturalismus dazu verholfen hätten, sich von Husserl und “aus dem Gefängnis des transzendentalen Subjekts” zu befreien. Im Hinblick auf seine Diskurstheorie der Macht habe ich ihn damals schon nach den impliziten Maßstäben gefragt, die seiner Kritik zugrunde liegen. Er sagte nur: “Warten Sie auf den dritten Band meiner Geschichte der Sexualität“. Wir hatten schon einen Termin für die nächste Diskussion über “Kant und die Aufklärung” verabredet. Ich war sehr betroffen, als er in der Zwischenzeit starb. Glücklicherweise habe ich bei einem Besuch von Derrida in Chicago noch rechtzeitig die Initiative ergriffen, um die Missverständnisse zwischen uns beiden auszuräumen. Ich habe ihn anschließend mehrfach in Paris besucht und er mich in Frankfurt. Wir haben uns auch in New York getroffen und sind telefonisch in Kontakt geblieben – bis ganz zuletzt. Ich bin dankbar für die freundschaftliche Beziehung dieser letzten Jahre. Aber seitdem Bourdieu gestorben ist, ist es für mich in Paris einsam geworden. Mit wem soll ich mich zum lunch treffen? Umso mehr hat mich das Interesse der jungen französischen Kollegen gefreut, als mich Jean-Francois Kervégan und Isabelle Aubert Ende vergangenen Jahres zu einer interessanten Konferenz nach Paris einluden.

Esprit: Ihr Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) hat den Grundstein für Ihr philosophisches Ansehen in Deutschland und im Ausland gelegt. Inwiefern kommt in diesem Buch, das eine Neubewertung der bürgerlichen Ideologie der Aufklärung und des Ideals der “Öffentlichkeit” vornimmt, eine Entfernung vom orthodoxen Marxismus zum Ausdruck? Bedingt diese Entfernung auch einen Verzicht auf das Projekt der “Verwirklichung der Philosophie” zugunsten einer reflexiven Methode, die jedwede die Gesellschaft “überragende Position” ablehnt?

Jürgen Habermas: Das Frankfurter Institut war von Anbeginn antistalinistisch – und nach dem Krieg erst recht. Auch aus anderen Gründen war der orthodoxe Marxismus für mich nie eine Versuchung. Ich habe mich z.B. vom Herzstück der Politischen Ökonomie, von der Mehrwerttheorie, angesichts der sozialstaatlichen Intervention des Staates in die Ökonomie nie überzeugen können. Ich habe in meiner Jugend dem linken Aktivismus gewiss näher gestanden als später. Aber auch das frühe Projekt einer “Verwirklichung der Philosophie”, auf das Sie anspielen, war eher idealistisch und vom jungen Marx inspiriert. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit, mit dem ich mich bei Wolfgang Abendroth, dem einzigen Marxisten auf einem deutschen Lehrstuhl, habilitiert habe, läuft auf eine sozialistische Demokratie hinaus. Wenn Sie so wollen, war ich immer ein parlamentarischer Sozialist – in dieser Hinsicht stand ich unter dem Einfluss von Austromarxisten wie Karl Renner und Otto Bauer. Meine Einstellung zu Theorie und Praxis hat sich seit meiner Einleitung zur Neuausgabe dieses Buches im Jahre 1971 nicht mehr wesentlich geändert. Die wissenschaftliche Arbeit steht immer unter Fallibilismusvorbehalt. Sie muss klar von den beiden anderen Rollen eines linken Intellektuellen getrennt werden – von seinem Engagement in öffentlichen Prozessen der Aufklärung und von der Organisation gemeinsamen politischen Handelns. Eine Rollentrennung ist nötig, auch wenn der Intellektuelle versucht, alle drei Rollen in einer Person zu vereinen.

Esprit: Man kann sagen, dass Ihr philosophisches Projekt, wie es in der Theorie des kommunikativen Handelns seine vorläufige Vollendung findet, danach strebt, einen Ausweg aus dem “Kampf der Götter” und dem Werterelativismus zu finden, von dem Max Weber sprach, um die Moderne zu charakterisieren. Inwiefern ist dieses Projekt mit einer neuen Verständigung über den Ausdruck “Vernunft” verbunden? Inwiefern erscheinen Ihnen die Verurteilungen der instrumentellen Vernunft heute, da sie erneut breiten Widerhall finden, noch immer als ungenügend, um die Sackgassen der Moderne zu vermeiden?

Jürgen Habermas: Max Webers “Kampf der Götter” ist mit Argumenten nicht zu schlichten, solange es um die Konkurrenz von “Werten” und “Identitäten” geht. Die eine Kultur bringt Werte, in denen sie sich selber wiedererkennt, in eine andere transitive Ordnung als andere Kulturen. Das gleiche gilt für das Identität stiftende Selbstverständnis von Personen. In beiden Fällen können existentielle Fragen des guten oder nicht-verfehlten Lebens nur aus der Perspektive der ersten Person beantwortet werden. Aber der Streit um den moralischen Universalismus betrifft Fragen der Gerechtigkeit; und diese Fragen lassen sich grundsätzlich mit Argumenten entscheiden, wenn alle Parteien bereit sind, die Perspektive des jeweils anderen einzunehmen, um den Konflikt im gleichmäßigen Interesse aller Seiten zu regeln.

Etwas anderes ist Ihre Frage nach der Kritik der instrumentellen, ich würde lieber sagen: der funktionalistischen Vernunft. Diese Frage stellt sich heute beispielsweise im Anblick eines wild gewordenen Finanzkapitalismus, der jeder politischen Kontrolle entglitten ist. Historisch betrachtet, ist mit der kapitalistischen Wirtschaft innerhalb der Gesellschaft ein geronnenes Stück “zweite Natur” entstanden, nämlich ein ökonomisches System, das sich selbst regelt, indem es ausschließlich der Logik der am Gewinn orientierten Selbstverwertung des Kapitals gehorcht. Marx hat dieses Ergebnis der sozialen Evolution als den eigentlichen Motor der gesellschaftlichen Modernisierung erkannt. Angesichts der Entfesselung der Produktivkräfte hat er diese Tatsache bekanntlich enthusiastisch begrüßt. Aber gleichzeitig hat er jene, dem Kapitalismus innewohnenden Tendenzen untersucht und angeprangert, die den sozialen Zusammenhalt sprengen und dem Selbstverständnis demokratisch verfasster Gesellschaften Hohn sprechen.

Solche Tendenzen haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den OECD-Ländern noch halbwegs sozialstaatlich zähmen lassen. Hingegen entzieht sich der global verselbständigte Finanzkapitalismus in unserer zunehmend interdependenten, jedoch immer noch nationalstaatlich fragmentierten Weltgesellschaft weitgehend dem Zugriff der Politik. Die politischen Eliten setzen hinter demokratischen Fassaden fast widerstandslos die Imperative der Märkte auf technokratische Manier um. Gefangen in ihrer nationalstaatlichen Perspektive, haben sie auch keine andere Wahl. So entkoppeln sie lieber die politischen Entscheidungsprozesse von den ohnehin ausgetrockneten, in ihrer Infrastruktur zerbröselnden politischen Öffentlichkeiten. An dieser Kolonialisierung von Gesellschaften, die im Inneren auseinander driften und sich rechtspopulistisch gegeneinander positionieren, wird sich nichts ändern, solange keine politisch handlungsfähige Kraft den Mut findet, das politische Ziel einer Interessenverallgemeinerung über nationale Grenzen hinaus – und sei es nur innerhalb Europas oder wenigstens der Eurozone – auf ihre Fahnen zu schreiben.

Der Neoliberalismus beharrt auf der Rationalität des sich selbst überlassenen Marktmechanismus. Ihre Frage zielt nun darauf, wie stattdessen “Rationalität” begriffen werden muss, wenn man sich nicht, wie unter Ökonomen üblich, mit “Systemrationalität” oder “Wahlrationalität” zufrieden geben will. Die Gesellschaftstheorie unterscheidet sich ja von den einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen nicht nur durch ihren Bezug zum Ganzen, sondern durch ihren kritischen Anspruch. Mit der Theorie des kommunikativen Handelns möchte ich deshalb über die Maßstäbe einer Kritik Auskunft geben, die sonst oft in pseudonormativen oder geschichtsphilosophischen Hintergrundannahmen versteckt sind. Mein Vorschlag besteht darin, die Spuren einer kommunikativen, in Verständigungsprozessen wurzelnden Vernunft in den gesellschaftlichen Praktiken selbst aufzuspüren.

In den Routinen ihres Alltagshandelns unterstellen sich die handelnden Subjekte gegenseitig, dass sie zurechnungsfähig handeln und über dieselben Gegenstände sprechen; dass sie meinen, was sie sagen; dass sie die Versprechen, die sie geben, halten werden; dass die Aussagen, die sie behaupten, wahr sind; dass die Normen, deren Geltung sie stillschweigend unterstellen, auch tatsächlich berechtigt sind usw. Dieses kommunikative Alltagshandeln operiert in einem Netz von Gründen, die solange latent im Hintergrund bleiben, wie die reziprok erhobenen Geltungsansprüche als glaubwürdig akzeptiert werden. Aber kritisierbare Geltungsansprüche können jederzeit verneint werden; und jedes “Nein” unterbricht die Routinen, jeder Widerspruch macht latente Gründe mobil. Kommunikative Vernunft nenne ich das Vermögen, in diesem Netz von Gründen mit einer kritischen Sonde zu operieren, statt blind umherzutappen. Dieses Vermögen manifestiert sich im Neinsagen, im lautstarken Protest oder im leisen Aufkündigen eines unterstellten Konsenses, in der Weigerung, Konventionen um der Konvention willen zu folgen, in der Revolte gegen unerträgliche Zustände oder im stillschweigenden, sei es zynischen oder apathischen Rückzug der Marginalisierten und der Ausgeschlossenen. Denn alle sozialen Ordnungen und Institutionen sind auf einer Basis von Gründen errichtet. Wir würden in hartnäckigen Konflikten gar nicht erst vor Gericht ziehen, wenn wir nicht ein mehr oder weniger faires Urteil erwarteten. Wir würden uns gar nicht erst an demokratischen Wahlen beteiligen, wenn wir nicht voraussetzen würden, dass jede Stimme “zählt”. Das sind zwar idealisierende, oft kontrafaktische, aber aus der Beteiligtenperspektive notwendige Unterstellungen. Heute zeigt sich, was passiert, wenn diese Unterstellungen von den postdemokratischen Zuständen offensichtlich widerlegt werden – zunehmende Raten der Wahlenthaltung. Wenn der Sozialwissenschaftler aus der Beteiligtenperspektive solche notwendigen Unterstellungen rekonstruiert, kann er seine Kritik, beispielsweise an postdemokratischen Zuständen, auf eine Vernunft stützen, die sich in den gesellschaftlichen Praktiken selbst zu Wort meldet.

Esprit: Ihr gesamtes Werk ist von dem Bestreben geprägt, die Philosophie zu “detranszendentalisieren”, das heißt auf das Paradigma des seiner selbst und seiner Vermögen gewissen subjektiven Bewusstseins zu verzichten. Diese Preisgabe des transzendentalen Blickpunkts gibt dann insbesondere den Blick frei für Themen wie Diskurs, Intersubjektivität sowie die Notwendigkeit, die Philosophie mit den Sozialwissenschaften zu verbinden. Heißt das, dass der Begriff der “Subjektivität” für Sie jede normative Gültigkeit verloren hat?

Jürgen Habermas: Sie berühren mit dem Paradigmenwechsel von der Subjekt- zur Sprachphilosophie ein wichtiges Thema. Schon Hegel kennt ja die symbolische und geschichtliche Verkörperung der Vernunft in den “Gestalten des objektiven Geistes”, etwa in Recht, Staat und Gesellschaft; aber Hegel hebt diesen objektiven Geist dann doch wieder in den entmaterialisierten Gedanken des absoluten Geistes auf. Demgegenüber sehen J.G. Hamann und Wilhelm von Humboldt oder die Junghegelianer, d.h. Feuerbach, Marx und Kierkegaard, die transzendentalen Leistungen nur noch in den performativen Akten von sprach- und handlungsfähigen Subjekten und in den Strukturen ihrer Lebenswelten verwirklicht. Für sie gibt es außer dem subjektiven Geist nur den objektiven Geist, der sich in Kommunikation, Arbeit und Interaktion, in Geräten und Artefakten, im Vollzug individueller Lebensgeschichten und im Netzwerk soziokultureller Lebensformen materialisiert. Aber dabei verliert die Vernunft nicht die transzendentale Kraft spontaner Welterzeugung. Diese “stiftende” Einbildungskraft äußert sich in jeder Hypothese, in jeder Stellungnahme, Situationsdeutung oder Interpretation, in jeder Geschichte, mit der wir uns unserer Identität vergewissern. In jeder Handlung steckt auch ein Moment der Gestaltung.

An der Entwicklung dieses detranszendentalisierten Vernunftkonzeptes waren Pragmatismus und Historismus ebenso beteiligt wie die Phänomenologie, die philosophische Anthropologie und die Existentialanalyse. Ich selbst räume der Sprache, dem kommunikativen Handeln und dem Horizont der Lebenswelt (als dem Hintergrundkontext aller Verständigungsprozesse) einen gewissen Vorrang ein. Denn die Medien, in denen sich die Vernunft verkörpert, also Geschichte, Kultur und Gesellschaft, sind symbolisch strukturiert. Die Bedeutung von Symbolen muss aber intersubjektiv geteilt werden; es gibt keine private Sprache und keine private Bedeutung, die nur von einer einzigen Person verstanden werden könnte. Dieser Vorrang des Intersubjektiven heißt jedoch nicht, um auf Ihre Frage zurückzukommen, dass die Subjektivität von der Gesellschaft gewissermaßen aufgesogen würde. Der subjektive Geist ist ein Raum, zu dem jeder aus der Perspektive einer ersten Person einen privilegierten Zugang hat. Dieser exklusive Zugang zur Evidenz eigener Erlebnisse darf aber nicht über den strukturellen Zusammenhang von Subjektivität und Intersubjektivität hinwegtäuschen. Jeder weitere Schritt im Prozess der Vergesellschaftung einer heranwachsenden Person ist gleichzeitig ein Schritt zur Individuierung und Ichwerdung. Nur indem wir uns an soziale Beziehungen entäußern, bilden wir uns zu einer eigenen Person aus. Nur im Gleichschritt mit der kommunikativen Verstrickung in soziale Netze vertieft sich die Innerlichkeit eines “Ich”, d.h. eines Subjektes, das Beziehungen zu sich selbst aufnimmt.

Esprit: Im Laufe der 1980er-Jahre haben Sie eine langfristig angelegte Debatte mit der angelsächsischen Philosophie begonnen, sowohl an der Front der politischen Philosophie (Rawls, Dworkin), als auch an der Front der Sprachtheorie (Searle, Putnam, Rorty, Brandom, etc.). Wie würden Sie den Beitrag der diversen angelsächsischen Denkrichtungen zu dem Bewusstsein charakterisieren, das die Philosophie von sich selbst und von ihren eigenen Grenzen hat?

Jürgen Habermas: In der politischen Theorie, für die Sie den Namen Rawls nennen, war die Kluft zwischen der kontinentalen, in Frankreich und Deutschland vorherrschenden, und der angelsächsischen Philosophie nie so scharf ausgeprägt wie in der Sprachphilosophie oder in der Wissenschaftstheorie, den beiden Kerngebieten der analytischen Philosophie. Auf allen diesen Gebieten habe ich aus der Kooperation und Freundschaft mit amerikanischen Kollegen, die im weitesten Sinne der pragmatistischen Denkrichtung angehörten, viel gelernt – vor allem die Verbindung einer fallibilistischen Geisteshaltung mit einem nicht-defätistischen Begriff diskursiver Vernunft. Dabei hat sicher auch die Referenz auf einen gemeinsamen Hintergrund geholfen. Über den Transzendentalismus des frühen 19. Jahrhunderts wurzelt der amerikanische Pragmatismus nämlich auch in deutschen Traditionen – in Schiller, im Deutschen Idealismus, in der Naturanschauung Goethes usw. Wenn Sie aber generell nach dem Beitrag der Angelsachsen zum Selbstverständnis der Philosophie und den gebotenen Grenzen nachmetaphysischen Denkens fragen, müssen wir schärfer differenzieren. Heute verläuft durch die analytische Philosophie selbst ein tiefer Riss.

Mir war der harte, szientistische Kern der Analytiker immer fremd. Heute besteht er aus Kollegen, die das reduktionistische Programm der Einheitswissenschaften aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter anderen Prämissen wieder aufnehmen und die Philosophie mehr oder weniger als einen Zuträger für die Kognitionswissenschaften betrachten. Die Szientisten halten letztlich nur physikalische Aussagen für wahrheitsfähig und bestehen auf der paradoxen Forderung, uns selbst ausschließlich unter naturwissenschaftlichen Beschreibungen zu erkennen. Aber Erkennen und Wiedererkennen ist nicht dasselbe, und zur Selbstverständigung gehört ein Wiedererkennen unter einer anderen, verbesserten Beschreibung. Der Szientismus verleugnet den in jedem Sich-Wiedererkennen vorausgesetzten Selbstbezug, den er doch gleichzeitig selbst performativ in Anspruch nimmt – ich meine den Bezug auf uns als vergesellschaftete, sprach- und handlungsfähige Subjekte, die sich immer schon im Kontext ihrer Lebenswelt vorfinden. Er erkauft die vermeintliche Verwissenschaftlichung der Philosophie mit dem Verzicht auf die Aufgabe der Selbstverständigung, die die Philosophie von den Weltreligionen, allerdings in aufklärender Absicht, übernommen hat. Demgegenüber führt die Absicht, uns ausschließlich “von der Welt her” zu verstehen, zu einer vergegenständlichenden Beschreibung, die ein “Selbst”-Verständnis ausschließt.

Esprit: In Anbetracht eines zunehmenden Misstrauens gegenüber dem Versprechen der Demokratie, sowie konfrontiert mit dem, was Sie die “Kolonisierung der Lebenswelt” durch die Logiken des Marktes nennen: Was vermag die Philosophie da noch? Inwieweit ist sie noch mit vollem Recht ein Teil des Emanzipationsprojekts der Aufklärung?

Jürgen Habermas: Die Philosophie, die übrigens in ihren platonischen Ursprüngen selbst einmal, ähnlich wie der Konfuzianismus, so etwas wie ein religiöses Weltbild gewesen ist, hat wie gesagt von den religiösen Weltbildern die wichtige, sogar lebenswichtige Funktion übernommen, in aufklärender Absicht und auf rationale Weise zur Selbstverständigung des Menschen über sich und die Welt beizutragen. Ich möchte diesen Satz in zwei Hinsichten erläutern.

Unter Prämissen nachmetaphysischen Denkens hat die Philosophie heute, anders als Mythen und Religionen, keine Weltbild erzeugende Kraft mehr. Sie navigiert zwischen Religion und Naturwissenschaften, Sozial- und Geisteswissenschaften, Kultur und Kunst, um zu lernen – und im bestehenden Selbstverständnis Illusionen zu tilgen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Philosophie ist heute ein parasitäres, von fremden Lernprozessen zehrendes Unternehmen. Aber gerade in dieser sekundären Rolle eines reflexiven Bezugnehmens auf andere, vorgefundene Gestalten des objektiven Geistes ist es die Philosophie, die das Ganze des Gewussten und Halbgewussten kritisch in den Blick nehmen kann. “Kritisch” heißt “in aufklärender Absicht”. Dieses eigentümliche Aufklärungsvermögen hat übrigens die christliche Philosophie des Mittelalters im Verlaufe einer Jahrhunderte langen Diskussion über “Glauben und Wissen” erworben. Die Philosophie kann uns über ein falsches Selbstverständnis “aufklären”, indem sie uns das, was ein Zuwachs an Wissen über die Welt für uns bedeutet, zu Bewusstsein bringt. Insofern hängt das nachmetaphysische Denken von wissenschaftlichen Fortschritten und von neuen, kulturell erschlossenen Perspektiven auf die Welt ab, ohne – als eine im wissenschaftlichen Geist betriebene Tätigkeit – selber zu einer wissenschaftlichen Disziplin unter anderen zu werden. Sie hat sich als Fach etabliert, aber sie gehört zur wissenschaftlichen Expertenkultur, ohne den vergegenständlichenden und methodisch auf einen bestimmten Gegenstandsbereich eingeschränkten Blick einer Fachwissenschaft anzunehmen. Anders als die Religion, die in Erfahrungen einer kultischen Gemeindepraxis verwurzelt ist, darf sie die Aufgabe, unser Welt- und Selbstverständnis rational zu klären, allein mithilfe von Argumenten erfüllen, die ihrer Form nach den falliblen Anspruch auf allgemeine Anerkennung erheben dürfen.

Sodann halte ich die Funktion der Selbstverständigung auch für lebenswichtig, denn diese war stets mit einer sozialintegrativen Funktion vorkoppelt. Das war solange der Fall, wie die religiösen Weltbilder und metaphysischen Lehren die kollektiven Identitäten von Glaubensgemeinschaften stabilisiert haben. Aber auch nach dem Ende des “Zeitalters der Weltbilder” behält in modernen Gesellschaften die pluralisierte und individualisierte Selbstverständigung der Bürger ein integratives Moment. Mit der Säkularisierung der Staatsgewalt wird die Religion von der Aufgabe, die politische Herrschaft zu legitimieren, entlastet. Damit verschiebt sich die Bürde der Integration der Bürger von der Ebene der sozialen auf die Ebene der politischen Integration, und das heißt: von der Religion auf die Grundnormen des Verfassungsstaates, die in eine gemeinsame politische Kultur eingebettet sind. Diese Verfassungsnormen, die den Rest eines kollektiven Hintergrundeinverständnisses sichern, ziehen ihre Überzeugungskraft aus den immer wieder erneuerten philosophischen Argumentationen des Vernunftrechts und der politischen Theorie.

Heute klingt allerdings der schriller werdende Appell der Politiker an “unsere Werte” immer hohler – schon die Verwechslung von “Prinzipien”, die begründungsbedürftig sind, mit “Werten”, die mehr oder weniger attraktiv sind, ärgert mich maßlos. Wir können fast in Zeitlupe verfolgen, wie unsere politischen Einrichtungen im Zuge der technokratischen Anpassung an globalisierte Marktimperative immer weiter ihrer demokratischen Substanz beraubt werden. Unsere kapitalistischen Demokratien schrumpfen zu Fassadendemokratien. Diese Entwicklungen verlangen nach einer wissenschaftlich informierten Aufklärung. Aber keine der einschlägigen Fachwissenschaften – weder die Ökonomie, noch die Politikwissenschaft oder die Soziologie – kann, je für sich genommen, diese Aufklärung leisten. Die vielfältigen Beiträge dieser Disziplinen müssen vielmehr unter dem Gesichtspunkt einer kritischen Selbstverständigung verarbeitet werden. Seit Hegel und Marx ist genau das die Aufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie, die ich nach wie vor als Kern des philosophischen Diskurses der Moderne betrachte.

Published 23 September 2015
Original in German
Translated by Markus Seldaczek (questions only)
First published by Esprit 8-9/2015

Contributed by Esprit © Jürgen Habermas / Esprit / Eurozine

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