Krieg, Macht, neue OrdnerDiesem Beitrag liegt eine Mitteilung zugrunde, welche bei einem von Birgit Menzel im Juni 2001 organisierten Seminar an der Universität Germersheim (BRD) gemacht wurde. Die ursprüngliche, kürzere Variante des Textes mit der Bezeichnung "Expansion des Gewohnten" wurde von Andrej Mokrousov in ukrainischer Sprache in der Kiewer Zeitschrift Kritika (2001, Nr. 6)veröffentlicht.

In den letzten zwei Jahren- zwischen dem Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges 1998 und der Annahme der Staatssymbole an der Wende vom 20. ins 21. Jahrhundert1 – hat sich in Russland eine neue Situation in Politik und Informationswesen ergeben. Die allgemeine Tendenz und Sinn der von niemandem geplanten oder proklamierten, vielleicht sogar von niemanden gewünschten Änderungen, die in diesen Bereichen stattgefunden haben, kann man als einen weiteren Versuch der Nomenklatura charakterisieren, die fortschreitenden Zerfallsprozesse der politischen und wirtschaftlichen Institute der spätsowjetischen Gesellschaft aufzuhalten oder irgendwie unter Kontrolle zu bringen. Um konkreter zu werden: es handelt sich um den Übergang von Initiativgruppen, von Formen der sozialen Aktion in Richtung Reformen oder zumindest in Richtung der Absicht zu Reformen Ende der 1980er – Anfang der 1990er Jahre zu den nunmehrigen Machttechnologien hinter verschlossenen Türen und der anonymen Einwirkung der Massenmedien. Zu den bestimmenden Merkmalen der heutigen Situation in Politik und Informationswesen gehören2:

– Das deutliche Verkümmern des gesellschaftlichen Raumes, die fortschreitende Aufhebung der sozialen Vielfalt. Dies ist am deutlichsten im politischen Bereich, wo eine Art “unnatürliche Auswahl”, eine negative Selektion stattgefunden hat. Keine programmatischen Leader mit einem breiten Horizont und ernsthaften Zielen, auch keine ernstzunehmenden Organisatoren sind in die öffentliche Politik gekommen, sondern erstens Beamte, Ausführende, Leute des Systems, die nach dem Prinzip der korporativen Solidarität, früherer Verbindungen und persönlicher Loyalität ausgewählt wurden, und zweitens, von der höchsten Macht geduldete oder direkt eingesetzte Verteiler der grundlegenden (Natur-, Besitz- und Kommunikations-) Ressourcen der Gesellschaft aus den Reihen der früheren Nomenklatur der zweiten und dritten Ebene, einzelner jüngerer “Pragmatiker” und “Technologen”;

– Auf der politischen (Vor-)Bühne fehlen unabhängige soziale Kräfte, Vereinigungen oder Gruppen, die ihre Interessen vertreten und verteidigen. In Russland sind in den 90er Jahren keine alternativen sozialen (wie etwa Arbeiter-, Jugend-, Menschenrechts- oder Umweltschutz-) Bewegungen entstanden. Jene, welche sich abzeichneten, bleiben lokale mit geringer Autorität, die teilweise zu neuen Nomenklatur-Organisationen verkommen.

Wie die letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und die Neuverteilung der politischen Karten der folgenden Monate zeigten, führte das praktisch zur Abschaffung des Mehrparteiensystems im Land. Es sei darauf hingewiesen, dass jener Fall, da die Folge von (der Prozedur nach) demokratischer Wahlen eine Stärkung konservativer Elemente in der Gesellschaft, Reduktion der Komplexität des gesellschaftlichen Lebens und soziale Stagnation sind, Forschern in Ländern der sog. “Dritten Welt” allzu bekannt ist (als Beispiel kann hier Indien dienen). Das zwingt dazu, das Niveau und die Perspektiven der sogenannten “Demokratisierung” der heutigen postsowjetischen Gesellschaft anders, nämlich um vieles bescheidener zu bewerten;

– Selbständige Figuren, die soziale Innovationen verkörpern, wie auch jene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die mit den Begriffen Aktivismus, Freiheit, Reichtum und Unabhängigkeit zusammenhängen und in welchen diese Innovationsfiguren tätig sind, werden so in der öffentlichen Sprache, den Massenmedien und im Massenbewusstsein eindeutig negativ bewertet. Es handelt sich um die Diskreditierung der Begriffe “Reformen” und “Demokraten”; das Hinausgedrängtwerden dieser Begriffe aus der öffentlichen Rhetorik und der sie verkörpernden Figuren von der politischen Bühne und den Bildschirmen, was eine deutliche Einschränkung der Perspektive der Veränderungen und die Entfernung des Elementes der Unbestimmtheit aus dem Leben der Gesellschaft bedeutet, wird von der Masse der Bevölkerung wie auch von den der Macht Nahestehenden und deren Reservetruppen, den Gruppen, die sie bedienen und unterstützen, als eines der positiven Merkmale der “Stabilisierung”, des Zunehmens des “gesellschaftlichen Einvernehmens” gesehen. Es handelt sich dabei im weiteren um den konsequenten Abbau des abstrakten Bildes des “initiativen Anderen”, “des selbständigen Anderen” im gesellschaftlichen Bewusstsein, um die wachsende Feindseligkeit der Gesellschaft gegenüber Agenten möglicher Veränderungen, um das Wachsen verschiedener kollektiver Phobien (das Aufkommen verschiedenartiger Phantasie-“Feinde”, v.a. der sog. “Personen kaukasischer Nationalität”; der zweite Tschetschenienkrieg spielte eine entscheidende Rolle in diesen Prozessen, weil er gleichsam diese Kanalisierung der eigenen Ängste und Unzufriedenheit der Russen erlaubte, deren Übertragung auf das negative Bild des “unzivilisierten Fremden”, der noch dazu “fremden Glaubens” ist, des nicht orthodoxen eben);
um eine zunehmend demonstrative antiwestliche und antiamerikanische Einstellung im russischen Massenbewusstsein und in der politischen Rhetorik der Macht, die sich in ambivalenter Form, durchaus deutlich in Abhängigkeit von der Masse und von den heimischen Massenmedien, sogar nach den Terroranschlägen in New York und Washington im September abzeichnen;

– Die deutliche Verwischung der Unterschiede zwischen Bewertungen und Reaktionen gebildeter und ungebildeter Respondenten, die Verwirrung jener, welche früher auf die Rolle einer sozialen, kulturellen und informierten “Elite” Anspruch erhoben und heute zu den prinzipiellen, lebenswichtigen Fragen den Standpunkt der weniger gebildeten Gruppen einnehmen (das Bewusstsein der letzteren birgt (als Folge der Einwirkung einer veralteten Schule, der Mittel der Massenpropaganda u.a.) Bewertungsstereotypen früherer Zeiten in sich. Randschichten der Gesellschaft treten heute ebenso in den Vordergrund wie deren Routinevorstellungen, primitivste Formen sozialen Handelns wie Panik, Gewohnheit, Geduld und andere Taktiken des passiven Überlebens. Gleichzeitig wird in der Masse das Bewusstein eines wachsenden und unüberwindbaren Bruchs zwischen “Macht” und “Volk”, zwischen Zentrum (der Hauptstadt) und Peripherie (“Provinz”, “ganz Russland”), zwischen gebildeten, initiativreichen, relativ erfolgreichen und begüterten jungen Russen und dem übrigen Teil der Bevölkerung gestärkt;

– Als Formen der Orientierung der Massen werden Neotraditionalismus und Isolationismus verstärkt. Mit der Hoffnung auf eine “strenge Ordnung” im Land wird die Symbolik des “besonderen Weges” Russlands gestärkt, es wächst die Anziehungskraft der Symbole der “eisernen Hand”, die Nostalgie nach der Breschnew-Zeit, der Hang dazu, sich an melodramatischen Bildern des vorrevolutionären Lebens in Kostüm-Filmen zu weiden usw.;

– Die Strukturen negativer Identifizierung des Russen von der Strasse bei deutlicher Abnahme jeglicher idealistischer Orientierungsrichtlinien, Kriterien und Maßstäbe in seinem Bewusstsein gewinnen immer mehr an Bedeutung. Im öffentlichen Raum und in der Alltagsrhetorik der Massenmedien herrschen bereits gewohnheitsmäßig Vorstellungen über die allgemeine Korrumpiertheit und Brutalität vor, sowie nihilistische Bewertung der absoluten Mehrheit der öffentlichen Institutionen, ein niederer und obszöner Wortschatz, Jargon, welche gewohnheitsmäßig einhergehen mit der Demonstration einer massenhaften Ergebenheit den Symbolen der Orthodoxie gegenüber, mit Stereotypen betreffend die eigene “Geistlichkeit” u.a.

Das Schlüsselereignis der letzten Jahre ist der Tschetschenienkrieg, der – im Unterschied zu den Kriegshandlungen 1994-1996 – von der Mehrheit der Bevölkerung, von fast allen politischen Kräften einschliesslich der liberalen Leader der “Rechten”3 gutgeheissen und unterstützt wird. Die Bedeutung des Krieges für die gesamte russische Gesellschaft am Ende der 90-er Jahre wird in diesem Kontext als Mittel der negativen Mobilisierung der russischen Bevölkerung bestimmt. Es handelt sich um eine Mobilisierung “aus dem Gegensatz heraus” oder “vom Widerwärtigen”, v.a. eine Mobilisierung von Massenängsten und eines allgemeinen Gefühls der Perspektivlosigkeit. Ein solcher Krieg kanalisiert erstens negative Stimmungen, die sich bei der Mehrheit der Bevölkerung in den Neunzigerjahren angesammelt haben und hilft zweitens den Menschen, das Niveau der Ansprüche zu senken und das Verhalten auf ein Minimum zu reduzieren, und drittens führt sie die Russen in eine besondere Existenzform ein und bereitet sie auf “ausserordentliche Ereignisse” und “besondere Massnahmen”4 vor.

Festzuhalten ist, dass auch das geschwundene Selbstwertgefühl vieler Russen und die Erwartungen auf etwas Außergewöhnliches im Massenbewusstsein zur Routine geworden sind, beides ist über die gesamte Oberfläche der Alltagsexistenz verschüttet. In einer Situation, in der nach dem Empfinden der Mehrheit der Menschen ihr Leben ihnen gleichsam “nicht gehört”, wenn sie nach ihrem Eingeständnis der Möglichkeit beraubt, auf den Gang des Lebens einzuwirken, es zu verändern und zu verbessern, sich einfach nur an das Geschehen anzupassen, – können alle diese diffusen Anspannungen, Stimmungen einer unklaren Unzufriedenheit, das Gefühl von allgemeiner Käuflichkeit, Verbrechen und Verkommenheit wie auch die Bereitschaft zu “außergewöhnlichen Maßnahmen” ziemlich leicht lokalisiert und aktiviert werden. Die Terrorakte von 1998 in Moskau und einigen anderen russischen Städten (unabhängig davon, wer sie nun wirklich organisiert und durchgeführt hat – es ist viel wichtiger, welche Kräfte diesen Effekt zu nutzen verstanden), der zweite Tschetschenienkrieg und der Wahlkampf – sowohl jener vor den Parlaments- als auch insbesondere der vor den Präsidentschaftswahlen – haben gezeigt, dass eine außerordentliche Mobilisierung der negativen Erfahrung und kurzfristige Rückkehr zur früheren “mobilisierten Gesellschaft” durchaus möglich sind. In bestimmten engen Grenzen, in pragmatischen Berechnungen der einen oder anderen Fraktionen der Macht oder der Kandidaten der Macht können sie sich sogar als gewinnbringend erweisen (eine andere Sache ist, dass derartige “einfache Lösungen” weder der Gesellschaft noch der Macht reale Perspektiven eröffnen).

In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre und besonders in den zwei letzten Jahren hat sich die funktionelle Struktur der Massenmedien grundlegend verändert5. Im Vergleich zur Wende der 1980-1990er Jahre hat die Rolle der Presse deutlich abgenommen, die Auflagen sind gefallen. Heute macht der Leserkreis der russischen Presse etwas mehr als ein Zehntel von jenem Anfang der 90er Jahre aus. Aber auch die Struktur der für die Jahre der Perestroika charakteristischen Printmedien ist bereits Mitte der 90er Jahre zerfallen. Es gibt heute in Russland keine allgemein verbreitete nationale Zeitung (oder einige Zeitungen, nicht zu reden von den in den Industrieländern verbreiteten “dicken” soliden Zeitungen mit zahlreichen Themenbeilagen, monatelangen Diskussionen zu gesellschaftlich wichtigen Themen). Zeitschriften haben ihren Platz als Sprachrohr der Meinungen und Bewertungen von Initiativgruppen bzw. als Organ der Kommunikation zwischen Gruppen verloren, da das Niveau der Gruppen im gesellschaftlichen Leben des heutigen Russland äusserst schwach ist. Eine Reihe neuer Druckwerke hat einzelne, relativ bescheidene Nischen beim lesenden Publikum gefunden, sie erheben allerdings keinen Anspruch auf Verbreitung in ganz Russland (die durchschnittliche Auflage der Zeitschriften ist gegen Ende der 90er Jahre um das 8-10 Fache zurückgegangen, jener der Zeitungen mehr als um ein Drittel).

Die Russen ziehen heute lokale Publikationen den zentralen vor und unter diesen vor allem Wochenzeitschriften, die nützliche praktische Information über das Leben, Werbung lokaler Firmen, lokale Nachrichten, Informationen zum Unterhaltungsprogramm usw. geben; wenn 1991 fast drei Viertel der Zeitungsabonnements in Russland Abonnements zentraler Periodika ausmachte, so waren das 1997 Abonnements lokaler Periodika. Das Wichtigste dabei ist folgendes: jene Personen und Gruppen, die heute hinter den einen oder anderen periodischen Medien stehen, haben das Selbstwertgefühl von Leadern (Meinungsmachern) verloren, ihr Ansehen in der Gesellschaft ist gesunken, sie haben ihre Pioniersrolle verloren. Heute gibt das Fernsehen in Russland Weltbild, Wertesystem und deren allgemeinen Ton an, und hier vor allem (besonders nach der faktischen gewaltsamen Auflösung von NTV im Frühjahr 2001) die zwei Kanäle ORT und RTR. Die Grundfunktion des heutigen Fernsehens besteht in der mehrmaligen täglichen “Massage” des Publikums mit Informationen, Sensationen und Unterhaltung (indem ich den berühmten Begriff von Marshall McLuhan verwende und seine Wortfindung trivialisiere, werde ich sagen, dass die “Massage” hier auch die “Message” ist).

Nach einer Umfrage des WCIOM im Oktober 2000 (2001 Stadtbewohner) sehen 91% der russischen Stadtbewohner täglich fern. Zum Vergleich: 24% lesen täglich Zeitung, 4% Zeitschriften. Man kann sagen, dass das Fernsehen heute die Massengesellschaft in Russland erzeugt und unterstützt, Standards einer Massenkultur als einer Kultur v.a. des Zusehens, des Schauspiels vorgibt. Wir sehen eine sehr russifizierte Variante von Guy Debords “Gesellschaft des Spektakels”6 vor uns, die ich im folgenden auch genauer zu untersuchen versuchen werde.

Das Vertrauen der russsischen Bevölkerung in die Massenmedien (kein absolutes, aber ein dennoch vergleichsweise hohes, obwohl es vermischt ist mit dem Gefühl der eigenen Abhängigkeit vom Fernsehschirm) ist eine veränderte Form der Entfremdung der Rezipienten vom Geschehen im politischen und zivilen Leben, Ausdruck ihrer ausschliesslichen Teilnahme an der sozialen Wirklichkeit als Zuseher. Die andere Seite dieses “Vertrauens der Abhängigen” ist das erhöhte Misstrauen gegenüber den Massenmedien von seiten der Machtspitze und besonders des Präsidenten. Ich erinnere daran, das Putin, nachdem er plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, ohne politische Biografie und Gesicht, ohne eigenständige gesellschaftliche Autorität und politisches Gewicht, seine Bekanntheit – eine Bekanntheit als Figur, die über den Kämpfen steht, die nicht so sehr die Macht als die von fast allen heissersehnte “Zähmung der Macht”7präsentiert – in vielem dem heutigen Fernsehen verdankt. Verständlicherweise kann hinsichtlich einer derartigen Figur am wenigsten von Pragmatik als Instrument gesprochen werden, d.h. es geht nicht um tatsächliches Ordnungmachen sondern ausschließlich um symbolische Aspekte der entsprechenden sozialen Rolle, der gesellschaftlichen Funktion, die einem von unten “zugedacht” wird abermals als negative Kompensation für die allgemeine “Unordnung”. Nicht zufällig ist die absolute Mehrheit der Bevölkerung nicht mit Putins Handlungen in praktisch allen Bereich der Politik außer jener der “Repräsentation nach Außen” unzufrieden, wobei diese Tatsache das Vertrauen der Massen in den Präsidenten praktisch nicht verringert, welches um vieles das Vertrauen in die Regierung u.a. übersteigt.

Durch den Charakter des Appells an die Menschenmassen, die sich selbst für Menschen “wie alle” halten wollen, erzeugt das Fernsehen eine soziale Gemeinsamkeit, Ganzheit, die außerhalb dieses systematisch sich wiederholenden Kommunikationsaktes nicht existiert. In dieser Hinsicht nivelliert sie existente soziale und kulturelle, Status- und Bildungsunterschiede und schafft aus verschiedenen Individuen eine homogene “Gesellschaft der Zuseher”, von Menschen, die Gemeinsamkeit mit anderen ihnen ähnlichen gerade darin erleben, dass sie alle Zuseher sind. Die Schaffung einer solchen Gesellschaft und deren symbolische Integration in die kalendarische Zeit, die alltäglichen Rituale des familiären Studierens der Fernsehprogramme ist die Grundfunktion des Fernsehens im heutigen Russland.
Wichtig ist auch worauf sie dabei schauen. Spricht man von den beim Zuseher populärsten Genres von Fernsehsendungen, kann man sagen, dass die Konstruktion einer “Fernsehrealität” als symbolische Form des sozialen Zusammenwirkens sich auf mehrere durchgehende Bedeutungskomponenten stützt:

– mehr oder weniger mit der Zeit der Sendung synchrone Reportagen über reale, “heutige” Ereignisse, einschließlich des direkten Zeigens von Augenblicken (Nachrichten über offizielle Politik wie auch solche sensationeller und krimineller Natur – gemeinsam bilden sie die Hauptachse der Fernsehprogramme, sie werden von der Mehrheit der Zuseher, v.a. den älteren – mehrmals täglich auf verschiedenen Kanälen – gesehen);

– erfundene Geschichten, von fiktiven Helden, Schauspielern, normalerweise “Stars” gespielt, die der Zuseher nach Namen, Äußerem, anderen Rollen, Familienbanden und Skandalgeschichten aus der die Massenmedien umgebenden Reklame- und Unterhaltungspresse kennt, häufig in periodischer Abfolge (das sind Kinofilme, Serien, Fernsehschauspiele);

szenische Spiele: Wettbewerb und Zustimmung, Polemik und Konsens, einschliesslich der symbolischen Belohnung der Sieger (auch die ironische, spielerische Verdoppelung, Umdrehung, Distanzierung von derartigen Schauspielen und deren Protagonisten, komische Streifen).
Für Zuseher mittleren und höheren Alters tritt die Übertragung von Sportbewerben als gewohntes Modell auf, als neues Model die von einem Fernsehstar organisierten Quiz-Shows mit Beteiligung anderer “Stars”, mit interaktiven Elementen der symbolischen Teilnahme von Zusehern, deren Erscheinen auf dem Bildschirm u.s.w.8;

– Akte emotioneller Einheit mit der affektiven Gemeinsamkeit “aller” besonders bedeutsam für die Jugend, obwohl bei allen Altersgruppen der russischen Gesellschaft populär, die durch die symbolische Figur eines “Virtuosen der Erlebnisse” repräsentiert – eines jungen Sängers, Musikers, einer Popmusikgrupe.

“Neues” suchen die Zuseher dabei auf den Fernsehschirmen am wenigsten. Sogar Nachrichten sehen sie mehrmals täglich morgens und abends, und unter den anderen Sendungen suchen sie in erster Linie bereits bekannte. Die Zuseher – besonders jene der älteren Generation – ziehen es häufig vor, dass die Lieblingssendungen immer zur selben Zeit gebracht werden usw. Der Akt der Wiederholung senkt die informative Bedeutung einer Sendung, erhöht aber ihr rituelles und symbolisches Potenzial (das ist der Mechanismus der Parade, der Marschmusik, des Refrains, des Rhythmus überhaupt). Die Wiederholung schließt die gezeigte Handlung in sich, verwandelt sie in eine Spiegelkonstruktion, kurz gesagt, in ein Symbol, welches auf eine andere, nicht empirische Realität verweist, auf die Realität des kollektiven Bewusstseins, für welche das Symbol als Moment der “inneren” Organisation auftritt, indem es es als Ganzes aufbaut und dieses Ganze auf sich hält, indem es es als Fokus aufnimmt9. Das Wiederholte wird damit aus dem Strom der Video- und Audiobilder herausgenommen, “wird abgeschlossen” aus seinem Ereigniskontext wie auch aus der Verbindung mit anderen Sendungen des Tages, befreit vom gesamten Gang der Tageszeit, bricht mit der Zeit der Geschichte. Das Vorhandensein einer Fernsteuerung erleichtert die Suche nach dem Bekannten und Erkennbaren, das Zapping “zerteilt” die Zeit in noch feiner Abschnitte, und paralysiert fast – beim äußeren Flimmern der Kader, ihre sinnhafte Bewegung, verwandelt sich ins Gewohnheitsmäßige. Das Fernsehen (ich unterstreiche, dass die Fernsteuerung hier nur die technische Lösung der Funktion, welche selbst um vieles “älter” als diese ist, gewährleistet) hält an, zerkleinert und zersetzt die Zeit, und pulverisiert, verstreut ihre Problemstruktur, ihre historische Dauer, die inhaltliche Sättigung.

Das Fernsehen als Methode der sozialen Kommunikation hat anscheinend keine Mittel, visuelle Illusionen der epischen Zeit bzw. der Romanzeit zu schaffen, welche – wie etwa im Erziehungsroman – sich in verstehbaren und miteinander verbundenen Etappen vom Ausgangspunkt über den Kulminationspunkt bis zur Auflösung entwickelte. Anstattdessen wird die Fernseherzählung entweder in Serien zerstückelt, wie das vor 150 Jahren das spannungsgeladene, abenteuerhafte Romanfeuilleton gemacht hat (ich möchte darauf hinweisen, dass die serielle Methode der Organisation der Semantik das Genre der Tragödie ausschließt), oder es werden “Zirkusstücke” in der Art der Komödien des ursprünglichen Stummfilms “montiert”. Das Fernsehen als Kommunikationsmittel kommt überhaupt schlecht mit dem Narrativen zurecht. Gewöhnlich “zitiert” es nur Erzählungen wie auch Tragödien, indem es seine Kanäle (die Technik) für das Vorführen von Spielfilmen, Theateraufführungen u.ä. zur Verfügung stellt. Darin ist es die Frucht der Post-Tragödien- und Post-Narrativ-Epoche mit ihrer Empfindung des “Endes der Tragödie” , dem “Tod des Autors” und dem “Tod des Helden”, der “Unmöglichkeit der Erzählung” u.ä. Phänomenen (alle diese aktuellen Themen wurden zum letzten Mal fast gleichzeitig in der westlichen Öffentlichkeit, in McLuhans Büchern über das Ende der “Gutenberg-Galaxis”, Dumazedier “Zivilisation der Freizeit” u.s.w. intensiv diskutiert). In diesem Sinne ist das Fernsehen nicht nur post-traditionell (die Tragödie selbst ist bereits post-traditionell, post-mythologisch), sondern auch postmodern (post-historisch). Ich möchte ergänzen, dass natürlich auch die entwickelte Massengesellschaft als solche postmodern ist: Die Massenmedien sind nur technische Wartungssysteme ihrer Kommunikationsströme.

Die Massenkultur im allgemeinen tendiert zu einer Serienproduktion und zur Wiederholung, welche die Zeit “ausschalten” (wenn man sie im “modernen” Sinn versteht als eine Zeit der bewussten, einsichtigen und in diesem Sinne irreversiblen Veränderungen). Es ist jedoch wichtig, dass es im heutigen Russland außer dem Fernsehen scheinbar keine anderen Stufen eines “allgemeinen”, symbolisch die Menschen vereinigenden Etwas gibt. Das ist sozusagen die Gesellschaft der Fernsehzuschauer, die Bekanntes und Gewohntes erwarten, und Gesellschaft ist sie nur dann und nur insofern, als sie die Menschen, die immer wieder das Leben über den Bildschirm ansehen und wiederum in ihm “ein und dasselbe” sehen, vereint. Der Akt ihrer rituell-symbolischen Solidarität als Zuseher, ihre Selbstbestätigung und ihr Selbstverständnis als Mitglieder der Zusehergemeinschaft wären ohne diese Wiederholung unmöglich10.
Deswegen wird alles, was im Fernsehen gesehen wird, vom Zuseher (besonders den Älteren, weniger Gebildeten, in der Provinz lebenden) als Vergnügen wahrgenommen, das seinen Glanz durch die Wiederholung nicht verliert. Ganz im Gegenteil wird es noch vieldeutiger, emotional näher. Es ist nicht so sehr Verfolgen der aktuellen Information als die Erwartung eines Signals, dass “alles bei Alten” ist und nichts passiert ist, das über den Rahmen des Gewöhnlichen hinausgeht. Im Interesse für Spielfilme und Fernsehserien werden dieselben verdeckten Wahrnehmungsstrukturen und Erwartungsstereotype offenbar – die Orientierung auf das Gewohnte, sich Wiederholende, Vorhersehbare11. Bis zu drei Fünftel der Stadtbewohner im heutigen Russland versuchen, alt bekannte Sendungen zu suchen und zu schauen, verhalten sich aber neuen gegenüber misstrauisch. Nach Meinung von mehr als zwei Drittel von uns Befragten ist es daher wichtig, dass dieselben Sendungen zur selben Zeit laufen. Diese Wiederholung (die positive Bewertung von bereits Gesehenem und Bekanntem, sich in einem gewohnten Rahmen Befindlichen) ist für die Zuschauer sowohl Signal der Stabilität, Gewohnheit des im Fernsehen übertragenen Weltbildes, aber gleichzeitig auch ein Verweis auf die Bedeutung und die Wichtigkeit des Gezeigten. Im Verständnis des Massenzusehers wird etwas wiederholt, weil es bedeutsam ist, und ist es bedeutsam, weil es wiederholt wird.
Das Symbol funktioniet nach dem Prinzip der Selbstbegründung: es isoliert ein Fragment der Realität, gibt ihm zusätzliche Bedeutung, zusätzlichen Sinn, baut es bis zu einem selbständigen Ganzen aus, zur Norm des Einheitlichen. Eine derartige Tautologie des Gezeigten gibt für den Zuseher gleichzeitig die Garantie der Dokumentarität, der “Realität” des Fernsehspiels: es wird wiederholt, wie “das Leben selbst”.
Unter diesen Umständen haben die gebildeten Schichten Russlands, die “Elite”-Kandidaten, die in vielem sich noch an die Kategorie der vorherigen geschichtlichen Epochen klammern und sich “Intelligentsia” nennen, trotzdem auf ihre Hauptaufgabe praktisch verzichtet, Sinn- und Werteverlust der Gesellschaft aufzudecken, entstehende, noch nicht ausformulierte Gesichtspunkte in der öffentlichen Diskussion kritisch zu beleuchten und sie in Form neuer Texte, visueller Praktiken und Typen des öffentlichen Diskurses zu gestalten. Nicht zufällig war die führende öffentliche Figur der ausgehenden 1990-er Jahre der Manager oder der mit den Mitteln der Massenkommunikation ausgerüstete Technologe, so auch der PR-Manager als neuer sich selbst darstellender Held der politischen Bühne – eine Art “Schurke mit Computer”, ein Chlestakow12 des Internetzeitalters, einer aus der für das Russland der letzten Jahre charakteristischen Gruppe der Selbstberufenen. Man gewinnt den Eindruck, dass die rein von der Nomenklatur bestimmten Kanäle des beruflichen Aufstiegs in der postsowjetischen Zeit bereits eingeschränkt, vielleicht auch nicht effizient oder schnell genug sind (was wichtig ist, weil das “Laufen” heute ausschließlich über kurze Strecken geht), wahrscheinlicher noch, nicht für jeden gleichermaßen prestigeträchtig. Gleichzeitig gibt es heute kein abstraktes, öffentlich ausgeprägtes System der Werte und Normen, die bedeutende Errungenschaften erlauben und von der Gesellschaft und ihren führenden Gruppen akzeptiert werden. Es gibt nicht einmal Kraftlinien, die ein solches allgemeines System steuern. Prinzip und Praxis der Selbstberufung – nicht zu verwechseln mit der von der Gesellschaft anerkannten Ethik der persönlichen Errungenschaft, den Richtlinien und der Taktik des Selfmademan – werden aus marginalen, abweichenden, ausschließlichen zu führenden und allgemein anerkannten, und dies in den verschiedensten Bereichen. Man kann sie -wie auch in anderen Fällen und in einem anderen Sinn das Schmiergeld, Beziehungen, offene Impertinenz oder demonstrative Grobheit nach dem Prinzip “Frechheit siegt” – geheim oder sogar vor den anderen nicht akzeptieren, nicht gutheißen, dennoch versteht und verwendet man sie. Diese Aneignung überzogener Vollmachten, genauer, die Aneignung deren Merkmale in der Kalkulation darauf, dass die Umgebung sich entsprechend diesen Merkmalen verhalten wird, erinnert der Mechanik nach an Betrug und ergänzt bereits von der Soziologie erforschte Mechanismen des deutlichen Vertrauens der Masse, das Bild deren Erosion, Transformation und Degeneration (Pseudomorphose) in der heutigen russischen Gesellschaft13.

Hauptproblem der avancierten Gruppen am Ende der 90er Jahre wurde nicht das Einbringen neuer Ideen und Symbole, sondern das Erreichen des sofortigen und breiten Erfolges – d.h. die Ausarbeitung von Massenmustern eines etwas höheren Niveaus als die sowjetischen oder die ausländischen und die Aneignung effizienter Marketingtechniken deren raschestmöglicher Durchsetzung auf dem Markt des geistigen Eigentums. Das Erreichen einer Professionalität, d.h. der Spezialisierung u.ä der Rolle des “Schöpfers” bis zum Emploi des Produzenten verschiedener, immer sich gut verkaufender Kulturgüter – das ist die nicht wegzudenkende Anfangsphase der Massenkultur wie auch der Kult der “Stars” ein von dieser Kultur nicht wegzudenkender Versuch ist, diesem Produzenten irgendwelche, wenn auch sogar negative Merkmale des früheren Schöpfers zu verleihen. Es gab jedoch immer nur einen einzigen, wenn auch mächtigen Bestandteil eines Prozesses, währenddessen auch andere Gruppen von Produzenten symbolischer Güter, die für andere, Nicht-Massen-Niveaus der Kultur arbeiten, stärker, autonom wurden und sich ihrer Position und ihres Interesses bewusst wurden. Im Russland der Mitte und zweiten Hälfte der 1990er Jahre aber haben irgendwie bedeutsame Ereignisse nur in der Massenkultur oder in deren Grenzbereichen stattgefunden, unabhängig davon, ob der Initiator eines “gut geprobten Sturms” das neue Establishment, die gestrige Avantgarde oder sogar der Underground war. Daher die Konzentration der heutigen Kulturmanager auf die Beliebtheit der einzelnen “Star”-Kandidaten, die Versuche, einen nationalen Bestseller zu schaffen oder “durchzusetzen”, die Suche nach einer Mittellinie zwischen “intellektuellen” (“Art”) und Massen(“Genre”)-Mustern. Derart beschaffen sind etwa die letzen Filme N.Michalkovs, die aufsehenerregenden de Filme “Bruder” und “Bruder-2”, die dekorativ-historischen Krimis von B.Akunin, Versuche mit den Genres der “russian fantasy” und der “alternativen Geschichte” (P.Krusanow, S.Smirnow u.a.). Die Ideologie und Symbolik dieser hier nur als Beispiele erwähnten Arbeiten, deren Schlüsselmotive, Weltmuster, Behandlung “nationaler Besonderheiten” berühre ich hier nicht wie auch im Großen und Ganzen die Welt der Kunst sie nicht diskutiert, die sich in demonstrativer Selbstbegeisterung ihrerseits auf Fragen der “Sprache”, des “Geschmackes” und des “Stils” konzentriert.

Annahme der neuen russischen Hymne Ende 1999 (A.d.Ü.)

S.im Detail. Gudkov L., Dubin B. Das Ende der 90er Jahre: Einhüllen der Schaumuster. In: Monitoring obschtschestwennogo mnenija (Monitoring der öffentlichen Meinung) 2001. Nr. 1 (51). S.15-30

S. die "Tschetschenien"-Beiträge von L.Gudkov in Neprikosnovennyj zapas (2000, Nr. 5; 2001, Nr. 2) und die dazugehörenden Materialien in der letzten der genannten Nummern.

S.: Dubin B. Über Gewohnheitsmässiges und Außerordentliches. In: Neprikosnovennyj zapas 2000, Nr. 5, S.4-10

S. detailliert: Gudkov L., Dubin B. " Die Gesellschaft der Fernseher : Massen und Massenkommunikation in Russland Ende der 90er Jahre". In: Monitoring obschtschestwennogo mnenija (Monitoring der öffentlichen Meinung) 2001, Nr. 2, S. 31-45

Debord G., Die Gesellschaft des Spektakels, Edition Nautilus, Hamburg 1978

Ich erinnere daran, dass unter anderem darauf auch das Image Jelzins aufbaute, wobei in der damaligen Perestroika-Presse erstmals das Thema des politischen Populismus aufgegriffen worden war. Derartige populistische Figuren begleiten die neue Geschichte Russlands und die sowjetische Geschichte ständig, sie sind ausführlich in Literatur und Kunst dargestellt (das ganze Spektrum an Helden vom "Fürsprecher des Volkes" wie Dubrowskij bis zum gogolschen "Revisor", für welche unschwer Parallelen in späterer Zeit gefunden werden können, wie bei Platonow, P.Romanow oder Soschtschenko.

In dieser Hinsicht wäre es interessant, das Verhalten der Fernsehzuseher nach dem Muster von Sportfans oder Touristen zu deuten, indem man untersucht, wie in ähnlichen Fällen jedes Mal die symbolische Distanz zwischen Zuseher und "Objekt" mit besonderen Mitteln konstruiert wird -

Die Soziologie interessieren vor allem gerade diese Funktionen des Symbols als Methode der "inneren" Organisation der kollektiven Vorstellungen, seine Korrelation zu den Werten der handelnden Personen, und nicht zur empirischen"Realität". In der Terminologie des strukturellen Funktionalismus trennt das expressive Symbole (oder die expressiven Aspekte der Symbole) von den kognitiven.

Über die Konstruktion des Aktes des Fernsehens und seinen kollektiven Charakter (den Charakter des sich dabei bildenden Kollektivs) s.: Morley D. Television: Not so much a visual medium, mroe a visible object. In: Visual culture London; N.Y., 1995. p. 174-175; From receiver to remote control: The TV set. N.Y., 1990; The female gaze. Women as viewers of popular culture. Seattle, 1989..

Für die anderen Gruppen - die etwas jüngeren, Gebildeten, Urbanisierten - spielen heute etwa die wie eine Epidemie verbreitete Kreuzworträtsel u.a. eine ähnliche Funktion der positiven Trivialisierung, des Zusammenführens auf ein Eindeutig-verständliches, Bekanntes und Vorhersagbares. .

Protagonist in Gogols "Toten Seelen" (A.d.Ü.)

S. Darüber die Artikel von Ju.LO. Levada: 1) Faktoren und Phantome des gesellschaftlichen Vertrauens. In: Ekonomitscheskie i socialnye peremeny: Monitoring obschtschestwennogo mnenija (Wirtschaftliche und soziale Veränderungen: Monitoring der öffentlichen Meinung) 1996, Nr. 5, S. 7-12; 2) Mechanismen und Funktion des gesellschaftlichen Vertrauens. In: Monitoring obschtschestwennogo mnenija (Wirtschaftliche und soziale Veränderungen: Monitoring der öffentlichen Meinung) 2001, Nr. 3, S.7-12.

Published 2 October 2002
Original in Russian
Translated by Susanne Macht

Contributed by Neprikosnovennij Zapas (NZ) © Neprikosnovennij Zapas (NZ) eurozine

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Read in: EN / DE / FR / RU

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