Internationale Strafgerichtsbarkeit

Ein Garant für mehr Sicherheit und Frieden oder politische Spiegelfechterei?

Hankel führt in diesem Text durch die Entstehungsgeschichte des Internationalen Strafgerichtshofs. Dabei zeigt sich, wie schwierig es ist, internationale Strafgerichtshöfe von den Partikularinteressen einzelner Länder freizuhalten. Wenn es angeht, dass manche Länder ‘gleicher’ als andere sind, wird die internationale Straftgerichtsbarkeit zu nichts anderem als einem Mittel zur Selbstvergewisserung, meint Hankel.

Es mag merkwürdig und nachgerade lächerlich anmuten, heute über internationale Strafgerichtsbarkeit reden zu wollen. Ein erster Impuls sagt uns, daß es wohl richtiger ist, der im Titel genannten zweiten Alternative zuzuneigen, internationale Strafgerichtsbarkeit also als Spiegelfechterei zu bezeichnen, als ein Blendwerk, das da Fortschritt vorgaukeln soll, wo nach wie vor pure Machtpolitik waltet.

Die Gründe für diese Reaktion sind schnell genannt. Der erste liegt in der Weigerung der einzig verbliebenen Supermacht, eine internationale Strafgerichtsbarkeit zu akzeptieren. Was für andere – Jugoslawen, Ruander und künftig auch Kambodschaner – gelten mag, lehnt sie für sich selbst ab und bekämpft es. Daß auch mächtige Staaten wie Rußland oder China dieser Gerichtsbarkeit skeptisch gegenüberstehen, ist in diesem Zusammenhang nicht viel mehr als eine Randnotiz. Zum einen hat Rußland das Statut zur Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs bereits unterzeichnet und die Unterschrift später nicht, wie die USA, zurückgezogen. Zum andern wird weder in Rußland noch in China ein Menschenrechts-, Demokratie- und Freiheitsdiskurs gepflegt, der den Gedanken an eine internationale Strafgerichtsbarkeit zwingend erwartbar und deren vehemente Ablehnung um so unverständlicher macht.

Der zweite Grund für die pessimistische Reaktion hängt unmittelbar mit dem letzten Irak-Krieg zusammen. Dieser Krieg, dessen rechtswidriger Charakter mühelos nachzuweisen ist, beschädigt die internationale Rechtsordnung. Indem die kriegführenden Mächte und die sie unterstützende Allianz sich über das Gewaltverbot in der UN-Charta hinweggesetzt haben, beschädigten sie zugleich das Fundament, auf dem die Idee einer internationalen Strafgerichtsbarkeit entstehen konnte, nämlich die Idee eines alle Staaten verbindenden menschenrechtlichen Mindeststandards, der auf keinen Fall sanktionslos unterschritten werden darf. Das längst überwunden geglaubte -Argument in bezug auf das Verbot des Angriffskriegs droht in Zukunft wieder zur Rechtfertigung herangezogen zu werden, und was wir bisher von der Kriegführung im Irak wissen, zeigt einmal mehr, daß das in seiner Wahrnehmung und Durchsetzung verschiedenen Maßstäben zu gehorchen scheint. – Was also soll hier internationale Strafgerichtsbarkeit? Ist sie in Anbetracht des eben Skizzierten nicht meilenweit von dem entfernt, was 1945 der amerikanische Chefankläger Jackson in Nürnberg, im Pathos des Augenblicks sicherlich, aber dennoch im Bewußtsein, für die Überzeugung der Völkergemeinschaft zu sprechen, beschwor:

“[W]ir dürfen niemals vergessen, daß nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher reichen, bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen.”1

Der erste Vorschlag zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs, der über das Stadium einer bloßen Wunschformulierung hinausging und schon konkrete Vorstellungen hinsichtlich Aufbau und Kompetenzen enthielt, stammt von dem Schweizer Gustave Moynier und war von ihm unter dem Eindruck der im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 begangenen Grausamkeiten entwickelt worden.2 Wie andere, die sich für einen humanitären Mindestschutz im Krieg einsetzten und auf die Erarbeitung entsprechender Konventionen drangen, glaubte auch Moynier an den Siegeszug der Vernunft, an den Fortschritt nicht nur im technisch-wissenschaftlichen Bereich, sondern auch in der internationalen Politik. Kriege, so seine und die Überzeugung vieler anderer, würden infolge eines nüchternen Kosten-Nutzen-Kalküls nicht mehr geführt werden, und wenn doch, dann in einer gehegten Form, die der Kriegsgewalt enge Grenzen setze.

Das Bild einer prospektiv friedlichen Welt zerbrach im Ersten Weltkrieg. Es war in erster Linie das Deutsche Reich, das ganz maßgeblich dazu beitrug. Der Einfall in das neutrale Belgien und in Luxemburg, der uneingeschränkte U-Boot-Krieg, die gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Kriegführung, wie sie sich in Massenexekutionen und Deportationen äußerte, ließen sehr schnell auf seiten der Kriegsgegner den Ruf nach einer Bestrafung der Verantwortlichen laut werden. Der seit dem Westfälischen Frieden gewohnheitsrechtlich geltende Satz sollte der Vergangenheit angehören. Eine neue Friedensordnung schien nur möglich, wenn in ihr auch die Entschlossenheit der Siegermächte zum Ausdruck kam, einen Verstoß gegen grundlegende völkerrechtliche Normen nicht länger widerspruchslos hinzunehmen. Die Artikel 228 und 229 des Versailler Vertrags3 enthielten daher die Forderung, daß deutsche Militär- und Zivilpersonen, die nach alliierter Auffassung im Verdacht standen, Kriegsverbrechen begangen zu haben, vor ein alliiertes Militärgericht und sogar, wenn sie die Taten in mehreren alliierten Ländern begangen hatten, vor einen internationalen Gerichtshof gestellt werden sollten. Auch das ehemalige deutsche Staatsoberhaupt, der frühere Kaiser Wilhelm II., sollte wegen Verstoßes gegen die internationale Moral und die Heiligkeit der Verträge (man dachte dabei speziell an den deutschen Einmarsch in die neutralen Länder Belgien und Luxemburg) vor ein internationales Tribunal gestellt werden (Art. 227 des Versailler Vertrags). Daraus wurde nichts. Wilhelm II. hatte Asyl in den Niederlanden gefunden und wurde nicht ausgeliefert, womit sich die Alliierten abfanden, einige sehr schnell, so z. B. die USA, die auf den ihrer Meinung nach gewohnheitsrechtlich geltenden Rechtssatz verwiesen. Andere alliierte Staaten, beispielsweise Frankreich und Großbritannien, konnten die Auslieferungsverweigerung weniger leicht hinnehmen, denn sie stellten die – nicht abwegige – Frage, wie man denn einen Untergebenen des Kaisers verurteilen solle, wenn dieser sich auf einen Befehl des Kaisers berufe, der Kaiser selbst aber nicht zur Verantwortung gezogen worden sei.4

Letztlich brauchte sie diese Sorge jedoch nicht weiter zu beschäftigen, denn auch aus der geplanten Aburteilung mutmaßlicher deutscher Kriegsverbrecher wurde nichts. Die Reichsregierung weigerte sich, die Beschuldigten auszuliefern, die Alliierten akzeptierten die Entscheidung nach langem diplomatischem Hin und Her und gegen die deutsche Zusage, die Beschuldigten – es waren etwa 900 – selbst vor Gericht zu stellen.5

Das geschah auch, allerdings in einem, verglichen mit der eben genannten Zahl, sehr beschränktem Maße: 1921 und 1922 fanden vor dem Reichsgericht in Leipzig Verfahren gegen insgesamt 17 Beschuldigte statt, die in zehn Fällen mit einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und fünf Jahren und in sieben Fällen mit Freispruch endeten. Rechtsgrundlage für die Verfahren war vor allem deutsches Recht, lediglich die Frage nach der Rechtswidrigkeit der Handlung bemaß sich nach Völkerrecht. Ein Beispiel: Ein Major war von Frankreich beschuldigt worden, nach einem Kampf im August 1914 seinen Soldaten den Befehl gegeben zu haben, die gefangengenommenen und die verwundeten französischen Soldaten zu erschießen. Der Befehl war in – die genaue Zahl konnte nicht festgestellt werden – 30 bis 50 Fällen befolgt worden, allerdings behauptete der Major, keinen eigenen Befehl, sondern lediglich den seines vorgesetzten Brigadegenerals weitergegeben zu haben. Das wiederum stritt der General vehement ab, und das Reichsgericht glaubte ihm. Es verurteilte den Major, dem es vorwarf, ohne nähere Überprüfung von der Existenz eines solchen kriegsrechtswidrigen (Art. 23 c der Haager Landkriegsordnung verbietet die “Tötung […] eines die Waffen streckenden oder wehrlosen Feindes, der sich auf Gnade oder Ungnade ergeben hat”) und daher in keinem Fall zu befolgenden Befehls ausgegangen zu sein, wegen fahrlässiger Tötung (§222 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren Gefängnis.6

Natürlich waren die Richter des Reichsgerichts nicht unbefangen. Zum Teil waren sie selbst im Krieg Soldaten gewesen und ihr in der Kaiserzeit erworbenes Wertesystem und Standesverständnis standen der Vorstellung im Wege, ein hoher Offizier, ein General zumal, könne an so etwas wie Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein. Außerdem gehörten auch die Richter zu einer Bevölkerung, die sich – in den Worten Sebastians Haffners aus seinem Buch “Geschichte eines Deutschen” – angesichts der aller Kriegspropaganda zum Trotz überraschenden Niederlage wie jemand fühlte, “der jahrelang große Summen zur Bank getragen hat, eines Tages seinen Kontoauszug anfordert und erfährt, daß er statt eines Vermögens eine erdrückende Schuldenlast besitzt […]”.7 Eine erneute Enttäuschung und Demütigung wollten sie nicht erleben und schon gar nicht an ihr mitwirken.

Andererseits aber hatte Reichsjustizminister Schiffer, als es um die Verhinderung einer Auslieferung der sogenannten Kriegsbeschuldigten an alliierte Staaten ging, versichert: “Das hohe Ansehen, welches das höchste deutsche Gericht in allen Kulturstaaten genießt, bietet volle Gewähr dafür, daß ohne Rücksicht auf die Person nur der Gerechtigkeit Geltung werden soll.”8 Und die deutsche Nationalversammlung hatte ein “Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen” beschlossen, das für sämtliche Straftaten, “die ein Deutscher im In- und Ausland während des Kriegs bis zum 28. Juni 1919 gegen feindliche Staatsangehörige oder feindliches Vermögen begangen hat”, einen Verfolgungszwang durch die Reichsanwaltschaft statuierte.9

Mit diesem selbstgesetzten Anspruch allerdings unvereinbar ist, daß in zahlreichen Verfahren trotz einer eindeutigen Beweislage nichts geschah und daß dem verantwortlichen Soldaten – wenn objektiv ein Verbrechen nicht zu übersehen war – mangelndes Unrechtsbewußtsein und damit fehlender Vorsatz zugebilligt wurde. Das ist das eine. Das andere ist, daß das Reichsgericht in der Begründung seiner Einstellungsbeschlüsse unfreiwillig deutlich machte, wie weit die deutsche Rechtsauffassung von der völkerrechtlichen entfernt war, beispielsweise in der Auslegung der Begriffe des Kriegsbrauchs und der Kriegsnotwendigkeit. So sah das Gericht kein rechtliches Problem darin, daß Angehörige der Zivilbevölkerung zu Opfern summarischer Erschießungen geworden waren (das betraf vor allem die Bekämpfung des angeblichen belgischen Volkskriegs und wurde pauschal mit dem Kriegsbrauch begründet), obschon das Völkerrecht auch schon zu jener Zeit Erschießungen ohne ein vorheriges Gerichtsverfahren nicht mehr zuließ.10 Kein Problem sah das Gericht auch darin, daß zur Sicherung eines taktischen oder strategischen Vorteils das Kriegsrecht durchbrochen wurde. Dadurch machte es die Beachtung der Regeln der Landkriegsordnung abhängig von bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen. Was von den Staaten auf den Haager Konferenzen als verpflichtend für die Kriegsführung gedacht war und nur in besonders gekennzeichneten Fällen durchbrochen werden durfte, war aus deutscher Sicht etwas, das nach dem Gutdünken eines jeden Befehlshabers gehandhabt werden konnte. Der Satz “Kriegsmanier geht vor Kriegsräson”, also die Art und Weise der Kriegführung ist bei der Bestimmung des Kriegsziels vorrangig zu beachten, wurde umgekehrt in “Kriegsräson geht vor Kriegsmanier”, also das Kriegsziel bestimmt und rechtfertigt die zu seiner Erreichung notwendigen Mittel.

In Anbetracht dieser Bilanz kann es nicht verwundern, daß nach dem Zweiten Weltkrieg umgesetzt wurde, was nach dem Ersten Weltkrieg lediglich diskutiert worden war: Ein internationales Tribunal wurde gebildet, das zuständig sein sollte für die Ahndung von Kriegsverbrechen, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und von Verbrechen gegen den Frieden. Diese Verbrechenskomplexe waren – völkerrechtlich gesehen – nicht neu: Schon nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Alliierten in einer Liste von 32 Tatbeständen festgehalten, welche Handlungen sie als kriegsrechtswidrig und damit verbrecherisch ansahen.11
Was die Verbrechen gegen den Frieden bzw. gegen die Menschlichkeit anbelangt, so tauchten auch sie bereits während des Ersten Weltkriegs auf, wurden diskutiert und dann aber für (noch nicht) brauchbar erachtet: Einen Krieg zu beginnen sei noch kein Verbrechen, allerdings sei es eine Handlung, die politisch zu ächten wäre, lautete zu jener Zeit die übereinstimmende Meinung. Mit anderen Worten, wir haben es hier noch nicht mit einer rechtswidrigen Handlung zu tun, sondern mit einer, deren Bewertung sich als solche andeutete.12

Verbrechen gegen die Menschlichkeit – die sich von den Kriegsverbrechen, die ja an feindlichen Soldaten und Zivilisten begangen werden, dadurch unterscheiden, daß sie sich in erster Linie auf Verbrechen an der Zivilbevölkerung eines kriegführenden Staates, begangen durch eben diesen kriegführenden Staat selbst, beziehen – brachte man erstmals ins Spiel, um den massenhaften Mord an den Armeniern 1915/16 erfassen und bestrafen zu können. Es blieb seinerzeit aber bei dem Vorhaben, denn der Tatbestand “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” wurde abgelehnt, namentlich von den USA, die ihn für zu ungenau hielten und meinten, der Begriff der Menschlichkeit ändere sich je nach Zeit und Betrachtungsweise, er sei moralisch beliebig.13

Es läßt sich darüber streiten, ob die Komplexe Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit 1945 bereits als Recht anerkannt waren oder nicht. In Deutschland wurde größtenteils die Meinung vertreten, daß es sich um neugeschaffenes Recht handle, und dessen Einführung hielt man für einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot. Im Ausland hingegen sah man das anders. Der strenge Grundsatz gelte völkerrechtlich nicht. Es gelte nur , also kein Verbrechen ohne Gesetz, was nur erfordere, daß eine bestimmte Handlung als rechtswidrig anerkannt sei, mehr nicht. Festzuhalten bleibt jedoch, daß die deutschen Bedenken in der Völkerrechtsentwicklung keine große Rolle spielten. Seit Nürnberg lautet die Trias völkerrechtlicher Schwerverbrechen, an deren Schema sich jede staatliche Makrokriminalität messen lassen muß, daß

a) Verbrechen gegen den Frieden,
b) Kriegsverbrechen,
c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit

mit ihren jeweiligen Handlungsformen (Mord, Totschlag, Mißhandlung, Deportation, mutwillige Zerstörungen etc.) strafbar sind.

Noch eine entscheidende Entwicklung hatte sich vollzogen: Die drei Tatbestände waren originäre Strafrechtsnormen, sie dienten nicht als Indikatoren der Rechtswidrigkeit auf der Basis eines nationalen Rechts, wie es in den Verfahren vor dem Leipziger Reichsgericht der Fall gewesen war, sondern waren unmittelbar Grundlage individueller Bestrafung. Und im Kontext dieser individuellen Bestrafung galt nunmehr, daß auch das Bekleiden hoher und höchster Ämter nicht vor einer Bestrafung schützt (Art. 7 des Statuts für das Internationale Militärtribunal). Ob Staatsoberhaupt oder Militärbefehlshaber, jeder sollte sich verantworten müssen und keine Immunität zugebilligt bekommen.

Das war – alles in allem – ein bedeutender Schritt. Ein Staat, der sich durch seine verbrecherische Politik selbst aus der Völkergemeinschaft ausgeschlossen hatte, wird, personalisiert in seinen militärischen und politischen Entscheidungsträgern, vor Gericht gestellt und abgeurteilt. Doch wie sah es mit der in Nürnberg beschworenen Nachfolgepraxis aus? Zunächst war das, was geschah, durchaus vielversprechend. Die UN-Generalversammlung bestätigte im Dezember 1946 die im Nürnberger Urteil zum Ausdruck gekommenen Rechtsgrundsätze, die sogenannten “Nürnberger Prinzipien”. Einige Jahre später wurden sie von der UN-Völkerrechtskommission (International Law Commission/ILC) übernommen und bildeten seither die Grundlage aller Überlegungen für eine Strafbarkeit unmittelbar nach Völkerrecht.14
Sie lauten:

– völkerrechtliche Verantwortlichkeit ist unabhängig von den Festlegungen einer nationalen Rechtsordnung;
– Handeln in amtlicher Eigenschaft schließt die Strafbarkeit nicht aus, so daß auch ein Staatsoberhaupt dem Zugriff des Völkerrechts unterliegt;
– Handeln auf Befehl ist grundsätzlich kein Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund;
– die Nürnberger Trias ist das Kernstück des materiellen Strafrechts.15

Nun war die Kodifikation eines materiellen Völkerstrafrechts eine, seine Durchsetzung aber eine ganz andere Sache. Sie konnte realistischerweise nur gelingen, wenn es eine internationale Strafinstanz geben würde. Genau da lag jedoch das Problem, wie beispielhaft an der Kontroverse um die Völkermordkonvention gezeigt werden kann. Diese Konvention, die mit vollem Namen “Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes” heißt und 1948 von der UN-Generalversammlung angenommen wurde, erklärt in ihrem Artikel I, daß Völkermord ein Verbrechen “gemäß internationalem Recht” ist, und verpflichtet die Vertragsparteien daher zu dessen Bestrafung. Dementsprechend enthält Artikel VI die Regelung, daß “Personen, denen Völkermord […] zur Last gelegt wird, vor ein zuständiges Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist, oder vor das internationale Gericht gestellt [werden], das für die vertragschließenden Parteien, die seine Gerichtsbarkeit anerkannt haben, zuständig ist”.

Wohl kaum jemand hätte seinerzeit bestritten – und heute vermutlich ebenfalls nicht -, daß die Vorstellung, ein Staat ahnde durch seine Gerichte ein Verbrechen, das ohne seine Beteiligung nicht möglich gewesen wäre, etwas Absurdes hat. Nur etwas weniger realitätsfremd war und ist die Hoffnung, ein Regimewechsel könne eine Bestrafung der Völkermörder gewährleisten.16 Bleibt die Alternative der Ahndung des Völkermords durch ein internationales Strafgericht. Ein solches Gericht war aber genau das, was viele Staaten, ängstlich auf die Wahrung ihrer Souveränität bedacht, nicht wollten. Schon auf den Redaktionskonferenzen erklärte der Delegierte der Sowjetunion, die Verhütung und Bestrafung des Völkermords müsse Sache der nationalen Gesetzgebung sein und dürfe nicht “einem vagen Völkerstrafrecht und einer Völkerstrafgerichtsbarkeit überlassen werden”.17 Der Delegierte der USA warnte, “das Prinzip der universalen Gerichtsbarkeit sei eines der gefährlichsten und unannehmbarsten Prinzipien, und er hoffe, daß der [Redaktions-]Ausschuß es verwerfen werde”.18 China zeigte sich weniger ablehnend. Die Bestimmung sei zwar von geringer praktischer Bedeutung, so der chinesische Delegierte, enthalte aber “den Ausdruck einer Hoffnung”.19

Nur ein paar Jahre nach der Ermordung der europäischen Juden und der Erkenntnis, daß wegen der weitverzweigten Beteiligung deutscher staatlicher Stellen an diesem Verbrechen die dafür Verantwortlichen von einem internationalen Tribunal abgeurteilt werden müßten, sprachen sich also die damals mächtigsten Staaten gegen eine internationale Strafgerichtsbarkeit aus. Als die Sowjetunion der Konvention 1954 beitrat, brachte sie zwar keinen Vorbehalt gegen Artikel VI an, ebensowenig wie China 1983. Die USA hingegen versahen ihren Beitritt 1988 u.a. mit einem Vorbehalt und einer interpretierenden Erklärung (understanding),die beide jede Verpflichtung zur Schaffung eines internationalen Gerichts ablehnten.20 Diese kompromißlose Haltung der USA und der Umstand, daß sie von anderen Staaten als Begründung oder Vorwand für die eigene Position genutzt werden konnte, waren es vor allem,21 die fast vierzig Jahre lang die Arbeit der ILC am Statut eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs blockierten. Erst gegen Ende des Kalten Kriegs verschwand die dadurch begründete Resignation innerhalb der UN-Gremien. Zu einer neuen Weltordnung schien auch, so dachte man dort, eine internationale Strafgerichtsbarkeit zu gehören.

1993 wurde vom UN-Sicherheitsrat ein internationaler Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien geschaffen. 1994 folgte die Schaffung eines zweiten internationalen Gerichts, das für die Ahndung des Völkermords in Ruanda zuständig sein sollte. In beiden Fällen berief sich der Sicherheitsrat auf Kapitel VII der UN-Charta, konstatierte mithin eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, zu deren Wiederherstellung und Wahrung die Tätigkeit der Gerichte das geeignete Mittel sei.22 Die Gerichte sollten abschreckend wirken, sie sollten, wie es in der Resolution zur Schaffung des Ruanda-Tribunals hieß, “dazu beitragen, daß diesen Verstößen [gegen das humanitäre Völkerrecht] Einhalt geboten und wirksame Abhilfe geschaffen wird”.

Rufen wir uns die damaligen Geschehnisse in die Erinnerung zurück, müssen wir feststellen, daß dieser Wunsch von großer Hilflosigkeit getragen wurde und auch nicht frei von Heuchelei ist. Zum Zeitpunkt der Resolutionsannahme im November 1994 war der Völkermord in Ruanda schon vier Monate beendet und hatte etwa 800.000 Menschen das Leben gekostet. “Einhalt zu gebieten oder Abhilfe zuschaffen” bedurfte es nicht mehr, das hatte schon die Front Patriotique Rwandais besorgt, indem sie die Hutu-Völkermörder vertrieb, denen die UNO vorher kampflos das Land überlassen hatte.23 Und was den Krieg im ehemaligen Jugoslawien anbelangt, so gab es dort 1995 noch das Massaker von Srebrenica, in dem nahezu 8.000 Menschen innerhalb von wenigen Tagen ermordet wurden.24 Der Krieg wurde erst beendet, als die USA Luftangriffe auf serbische Stellungen flogen und die Kriegsparteien zwangen, im Herbst 1995 dem Friedensvertrag von Dayton zuzustimmen. Auch hier also hatte die Einsetzung eines internationalen Gerichts erkennbar keinen Einfluß auf die Wiederherstellung des Friedens.

Ganz augenscheinlich sind Sinn und Zweck einer internationalen Strafgerichtsbarkeit nicht in einer kurzfristigen Abschreckung der Täter zu suchen. Das Räderwerk der Gewalt dreht sich zu schnell, als daß es mit juristischen Mitteln gestoppt werden könnte. Zuallererst wird es bei der Tätigkeit eines internationalen Gerichts um das gehen, was auch von der Tätigkeit eines nationalen Gerichts zunächst erwartet wird, nämlich um die Qualifizierung eines Verhaltens als Recht oder Unrecht und um die eventuelle Bestrafung des Täters. Inwieweit dies auch, wie im innerstaatlichen Recht, der Normverdeutlichung und positiven Prävention dient, sei mangels empirischer Belege dahingestellt.25 Sicher ist, daß die internationale Justiz über die Klärung bestimmter Geschehensabläufe und deren Hintergründe den Opfern deutlich machen kann, daß das, was ihnen geschehen ist, nicht hätte geschehen dürfen, daß sie Opfer von Verbrechen waren, daß sie als solche anerkannt werden und deshalb Anspruch auf Hilfe und finanzielle Wiedergutmachung haben. Zugleich kann auf diese Weise der Entstehung und Festigung geschichtlicher Mythen, die für immer wieder neue Revanchegelüste gegen den angeblichen Feind sorgen, entgegengewirkt werden. Insofern leisten sie einen entscheidenden Beitrag zur Historiographie der Ereignisse. Die individuelle Zuschreibung von Verantwortung verhindert einen kollektiven Schuldvorwurf und schafft eine wichtige Voraussetzung dafür, daß überhaupt so etwas wie ein Prozeß der Annäherung und Versöhnung möglich wird.
Allerdings ist hier sogleich noch eine weitere Einschränkung zu machen: Das Gericht darf, sei es durch die Verhandlungsführung der Richter, sei es durch die Ermittlungen der Anklagebehörde, nicht in den Verdacht der Parteilichkeit oder – zurückhaltender formuliert – der politischen Willfährigkeit geraten. Das Ruanda-Tribunal stand von Anfang an in dem Ruf, seine Einrichtung lediglich dem schlechten Gewissen der internationalen Gemeinschaft zu verdanken, die damit ihr Wegsehen vor und während des Völkermords vergessen machen wollte. Und auch heute wird man in Ruanda kaum jemanden finden, der dem Gericht etwas abzugewinnen vermag, wobei als zusätzliches Argument noch auf die entwürdigende Art der Zeugenbefragung, die Korruption in der Gerichtsverwaltung und vor allem auf die äußerst magere Bilanz des Gerichts – nur acht letztinstanzliche Verurteilungen in einer fast neunjährigen Tätigkeit – verwiesen wird.26 Die Bilanz des Jugoslawien-Tribunals sieht zwar besser aus, doch wird ihm gegenüber des öfteren der Vorwurf laut, mit großem Eifer serbische Verdächtige zur Verantwortung zu ziehen, während Verdächtige aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina kaum behelligt werden.27 Außerdem ist nicht zu übersehen, daß die erste Anklage gegen Milosevic, die selbst von wohlwollenden Kommentatoren der Gerichtstätigkeit als “mit heißer Nadel zusammengestrickt” bezeichnet wird,28 auf verdächtige Weise mit dem Beginn des völkerrechtswidrigen Kosovokrieges zusammenfiel, ganz so, als habe es hier eine Absprache zwischen Tribunal und Nato gegeben. Der Eindruck einer Instrumentalisierung des Tribunals zu Legitimationszwecken verfestigt sich noch, wenn die Entscheidung von Carla del Ponte, der Chefanklägerin beider Ad-hoc-Tribunale, keine Ermittlungen gegen Nato-Staaten wegen der Begehung von Kriegsverbrechen im Kosovo einzuleiten, berücksichtigt wird.29 Daß, wie von del Ponte behauptet, die Nato “keine gezielten Bombenangriffe gegen Zivilisten geflogen habe”, wird bereits durch den Angriff von Varvarin (bei der zweimaligen Bombardierung einer Brücke in der Nähe der serbischen Kleinstadt Varvarin wurden am 30. Mai 1999 zehn Zivilpersonen getötet und 16 verletzt)30 widerlegt.

Man kann Bedenken oder Einwände dieser Art mit dem Hinweis zu entkräften suchen, daß in der Bestrafung von Kriegsverbrechern oder von demagogischen, völkermörderischen Politikern kein Übel gesehen werden könne. Auch wenn sie aus politischem Kalkül erfolgt oder das Ergebnis eines Deals – Gewährung eines Kredits gegen Überstellung eines Beschuldigten an das Gericht – ist, schade das nicht. Und daß nicht alle Verbrecher dieser Sorte bestraft würden, heiße nicht, nun gleich überhaupt keinen vor Gericht zu stellen.31 Andererseits aber wird man zugeben müssen, daß diese Überlegungen zwar dem – im übrigen sehr umstrittenen – Vergeltungsgedanken32 entsprechen, ansonsten jedoch deutlich gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen. Das Recht wird von den Betroffenen als Willkür empfunden werden und seine Autorität einbüßen. Mit der Zeit wird nur sehr schwer und schließlich gar nicht mehr zu vermitteln sein, inwiefern es der Gerechtigkeit oder Versöhnung dienen soll, wenn fast ausschließlich Angehörige nur einer Kriegspartei verurteilt werden.33

Die Gefahr einer selektiven Rechtsanwendung war denn auch der entscheidende Impuls, der der Erarbeitung eines Statuts für einen ständigen internationalen Strafgerichtshof ihre besondere Dringlichkeit gab. Der Vorwurf, eine internationale Strafgerichtsbarkeit nur für “die anderen” zu etablieren, sich selbst aber davon befreien zu wollen, sollte nicht länger erhoben werden können. Ob kleine und schwache oder große und mächtige Staaten, alle sollten dem gleichen rechtlichen Maßstab unterworfen sein. Jacksons Appell, so schien es, würde endlich Gehör finden.

Am 18. Juli 1998 war es soweit. In Rom nahm die überwältigende Mehrheit einer Staatenkonferenz das Statut zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs an.34 Laut Artikel 1 des Statuts hat der Gerichtshof die Gerichtsbarkeit über Personen, die “Verbrechen von internationalem Belang” begangen haben. Welche das sind, zählt Artikel 5 auf. Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression fallen unter die Jurisdiktionsbefugnis des Gerichts, das Aggressionsverbrechen jedoch erst dann, wenn inhaltlich geklärt ist, was darunter zu verstehen ist. Am 1. Juli 2002, nachdem die 60. Ratifikationsurkunde hinterlegt worden war, trat das Statut in Kraft. Im März 2002 wurden die 18 Richter und Richterinnen des Strafgerichtshofs gewählt, und einen Monat später wählte die Versammlung der Vertragsstaaten den Argentinier Luis Moreno Ocampo zum Chefankläger. Zur Zeit sind beim Gerichtshof schon über 200 Eingaben registriert, die allesamt mögliche Verbrechen betreffen, welche sich nach dem 1. Juli 2002 ereignet haben, da die zeitliche Zuständigkeit des Gerichts erst mit diesem Datum beginnt. Wegen zahlreicher noch zu besetzender Stellen wird es seine Arbeit jedoch nicht vor 2004 aufnehmen.

Das alles klingt sehr gut und wäre es auch, wenn der Internationale Strafgerichtshof Akzeptanz und Unterstützung genösse. Fast 140 Staaten, die das Statut unterzeichnet und gut 90 Staaten, die es ratifiziert haben, müßten insofern eine deutliche Sprache sprechen. Doch nicht selten entsteht der Eindruck, daß die Begeisterung über die Schaffung einer internationalen Strafinstanz im umgekehrten Verhältnis zu seiner erwartbaren tatsächlichen Bedeutung steht. Daß China eine internationale Strafgerichtsbarkeit ablehnt, darauf ist eingangs bereits hingewiesen worden. Und daß von den Staaten, die nachdrücklich die Notwendigkeit eines Weltstrafrechts und seiner Beachtung beschwören, gerade Frankreich die Zuständigkeit des Gerichts für Kriegsverbrechen, die von französischen Staatsangehörigen begangen worden sind, für die Dauer von sieben Jahren ausgeschlossen hat,35 hat zwar einen ganz speziellen Hautgout. Andererseits fällt dies wegen der Befristung nicht so sehr ins Gewicht, zumal Frankreich anläßlich dieser Erklärung noch einmal die generelle Verfolgungspflicht für schwerste Völkerrechtsverbrechen bekräftigt hat.
Viel schlimmer – aus Gründen der ihnen lange zugebilligten Vorbildfunktion – ist, daß die USA alles, was auch nur im entferntesten mit einer auch sie verpflichtenden Strafgerichtsbarkeit zu tun hat, erbittert bekämpfen.

Sucht man nach den Gründen dafür, stößt man zunächst auf die Regelung in Artikel 12 des Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof. So sieht Artikel 12 (1) allgemein vor, daß der Gerichtshof seine Gerichtsbarkeit über Angehörige von Vertragsstaaten ausüben kann, Artikel 12 (2) (a) aber erweitert diese Kompetenz auch auf den Fall, daß der Staat, auf dessen Hoheitsgebiet das verbrecherische Verhalten stattgefunden hat, Vertragspartei des Statuts ist. Das bedeutet, daß sich dann die Ermittlungen des Gerichts auch gegen Angehörige eines Nichtvertragsstaates richten können, sofern diese an dem Verbrechen beteiligt waren. Um genau dies zu vermeiden, brachten die USA durch einen Akt der Erpressung36 den UN-Sicherheitsrat dazu, eine Resolution zu verabschieden,37 die – zunächst für die Dauer eines Jahres und danach für jeweils ein Jahr verlängerbar – Ermittlungen gegen Angehörige von Nichtvertragsstaaten aufgrund von solchen Handlungen verhindert, welche mit einer von der UNO autorisierten friedenserhaltenden oder friedensdurchsetzenden Operation im Zusammenhang stehen. Außerdem hat die US-Regierung mit etwa 30 Staaten Nicht-Auslieferungsabkommen abgeschlossen, wiederum unter Anwendung ganz erheblichen Drucks.38 Und um ganz sicherzugehen, daß das völkerstrafrechtliche Sonderregime für die USA unter allen Umständen erhalten bleibt, unterzeichnete Präsident Bush am 3. August 2002 den American Servicemembers Protection Act, der zusätzlich zum Verbot für US-Behörden, mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenzuarbeiten, in Section 2008 (a) die Ermächtigung zum Gewalteinsatz für die Befreiung amerikanischer Staatsangehöriger, denen ein Verfahren vor dem Gerichtshof droht, enthält.39

Das alles geschieht, wohlgemerkt, vor dem Hintergrund, daß das internationale Gericht längst nicht so weitreichende Kompetenzen hat wie das Jugoslawien- oder das Ruanda-Tribunal. Während diese Vorrang vor den einzelstaatlichen Gerichtsbarkeiten haben, mithin jederzeit ein Verfahren an sich ziehen können, hat der Internationale Strafgerichtshof lediglich eine komplementäre Kompetenz, d.h. bei ihm geht die einzelstaatliche Strafgerichtsbarkeit vor. Sollte also ein US-amerikanisches Gericht ein Verfahren wegen eines schwerwiegenden Völkerrechtsverbrechens durchführen, bliebe der Internationale Strafgerichtshof außen vor. Die Ahndung des Verbrechens wäre allein Sache der amerikanischen Justiz. Sie könnte nur dann wieder zu einer Angelegenheit der internationalen Strafjustiz werden, wenn das Verfahren eine Art Scheinverfahren ist und erkennbar nicht auf eine Ahndung des Verbrechens, sondern auf eine Verschleierung desselben abzielt. Eine solche “bad face investigation” ist aber, wie der ehemalige Ankläger der Ad-hoc-Tribunale Richard Goldstone erklärte, gegenüber einem Rechtsstaat so gut wie nicht nachzuweisen.40

Damit bleibt die Frage nach den eigentlichen Gründen für die schroffe Ablehnung der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Das häufig vorgebrachte Argument, unterschiedliche strafprozessuale Standards verböten eine Ratifizierung des Statuts, ist genaugenommen keins.41 Zum einen sind die Verfahrensrechte des Internationalen Strafgerichtshofs so strukturiert, daß sie sich sehr eng an die Garantien der amerikanischen Bill of Rights und anderer liberaler Verfassungssysteme anlehnen, zum andern trat in der Vergangenheit der amerikanische Kongreß ausdrücklich für das Jugoslawien- und das Ruanda-Tribunal ein, deren Prozeßrecht nicht mit dem amerikanischen identisch ist und deren Entscheidungen gleichwohl Leben und Eigentum amerikanischer Bürger betreffen.42 Die Gründe sind daher, was nicht überraschen wird, im Bereich des amerikanischen Selbstverständnisses und der teilweise selbst zugewiesenen, teilweise übertragenen Rolle als weltweit agierende Ordnungsmacht zu suchen. Überzeugt von den Werten der amerikanischen Demokratie und beseelt von einem kritischen Einwürfen unzugänglichen Sendungsbewußtsein ist der US-Administration die Vorstellung unerträglich, sich in irgendeiner Weise vor einer internationalen Instanz verantworten zu müssen. Befangen in anti-amerikanischen Vorurteilen werden einige der Richter dieser Instanz, so die amerikanische Befürchtung, nicht Recht sprechen, sondern ideologischen Orientierungen folgen und so zwangsläufig zu einer Verurteilung amerikanischer Politik gelangen. Eben diese “Tyrannei der Richter”43 ist für die USA nicht hinnehmbar.

In vielen Regionen der Welt wird diese Haltung als Bestätigung des allgemeinen Verdachts, es werde international ein doppelter Maßstab angelegt, aufgefaßt werden. Und wenn dieser allgemeine Verdacht durch konkrete Ereignisse, in denen sich der angebliche Rechtspfleger als Rechtsbrecher erweist, bestätigt und bestärkt wird, nimmt das der internationalen Strafgerichtsbarkeit das, was sie für ein wirkungsvolles Funktionieren braucht, nämlich Autorität. Ein Recht, das nur unter Gleichen gilt, von denen es nicht so viele gibt, wird die internationale Strafgerichtsbarkeit jedoch zu einem trügerischen Instrument der Selbstvergewisserung und nicht zu einem Mittel zur Förderung von Sicherheit und Frieden werden lassen.

Zitiert aus der Anklagerede vom 21. November 1945, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, 14. November 1945 - 1. Oktober 1946, Bd. 1, Nürnberg 1947, S. 118.

Vgl. Hans-Peter Kaul, Durchbruch in Rom. Der Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof, in: Vereinte Nationen 4/1998, S. 125.

RGBl. 1919, S. 980 - 983.

Vgl. dazu den Notenwechsel zwischen den Alliierten und der niederländischen Regierung, in: Das Diktat von Versailles. Entstehung, Inhalt, Zerfall. Eine Darstellung in Dokumenten, hrsg. von Fritz Berber, Essen 1939, S. 1194 - 1202.

Dazu ausführlich Walter Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage. Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen als Problem des Friedensschlusses 1919/20, Stuttgart 1982, S. 233 - 343.

Zu diesem und zu den anderen Verfahren vor dem Leipziger Reichsgericht, ihrer Vorgeschichte und ihren Nachwirkungen vgl. Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003.

Vgl. Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 - 1933, Stuttgart und München 2000, S. 31.

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 3003, ORA/RG, Generalia, Bd. 46.

RGBl. 1919, S. 2125.

Das galt nicht, wenn die betreffende Zivilperson als Partisan "auf frischer Tat betroffen" wurde.

La Paix de Versailles. Responsabilités des auteurs de la Guerre et Sanctions, Paris 1930, S. 473f.

Ebenda, S. 477 -479.

Ebenda, S. 459; Robert Lansing, Some legal questions of the Peace Conference, in: The American Journal of International Law, 8 (1919), S. 647.

Vgl. Christian Tomuschat, Die Arbeit der ILC im Bereich des materiellen Völkerstrafrechts, in: Gerd Hankel, Gerhard Stuby (Hrsg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen, Hamburg 1995, S. 270.

GAOR A/1316, 5. Sitzung, Anhang 12. Das letzte Prinzip bestimmt die Strafbarkeit der Komplizenschaft bei der Begehung eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit.

Auch Ruanda, das hier als Ausnahme genannt werden könnte, steht trotz aller Bemühungen vor großen Problemen. Vgl. Gerd Hankel, "Wir möchten, dass ihr uns verzeiht". Die Anfänge der Gacaca-Justiz in Ruanda, in: Ruanda Revue, 2/2002, S. 16 -21.

Vgl. William A. Schabas, Genocide in International Law, Cambridge 2000, S.90, 356.

Ebenda, S. 358.

Ebenda, S. 375.

Ebenda, S. 378.

Daß China der Genozidkonvention erst 1983 beitrat, lag nicht an Art. VI, sondern am ungeklärten völkerrechtlichen Status Taiwans. Vgl. ebenda, S. 508.

Vgl. Resolution 827 (1993) vom 25. Mai 1993 bzw. Resolution 955 (1994) vom 8. November 1994, abgedruckt in: Vereinte Nationen 41 (1993), S. 156 sowie 43 (1995), S. 39.

Zu den Hintergründen siehe Alison Des Forges, Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda, Hamburg 2002, S. 707ff.

Vgl. dazu David Rohde, Die letzten Tage von Srebrenica. Was geschah und wie es möglich wurde, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 209ff.

Zu diesem Aspekt umfassend: Christina Möller, Völkerstrafrecht und Internationaler Strafgerichtshof - kriminologische, straftheoretische und rechtspolitische Aspekte, Münster, Hamburg, London 2003, S. 413ff., 521 f., sowie Herbert Jäger, Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts - kriminalpolitisch-kriminologische Aspekte, in: Hankel und Stuby (Anm. 14), S. 339ff.

Das negative Urteil über das Gericht wird jedoch auch von der ruandischen Regierung kräftig gefördert. Grund dafür ist, daß die möglichen Verbrechen, die die aktuell dominierende Partei und ihr militärischer Arm während der Befreiung des Landes 1994 begangen haben, zunehmend ins Visier der Ermittler geraten.

Vgl. Monique Chemillier-Gendreau, Progrès et carences de la justice internationale, in: Le Monde Diplomatique, 9/2001, S. 29; Norbert Mappes-Niediek, Kann denn Strafe Sünde sein?, in: Freitag, 12. 4. 2002, S. 8; Slavenka Drakulic, Vor dem Tribunal. Kroatien und seine Kriegsverbrecher, in: Süddeutsche Zeitung, 30. 11. /1. 12. 2002, S. 17.

So Christian Schmidt-Häuer, Supermacht gegen Welttribunal. Die Uno stellt Milosevic vor Gericht - Amerika macht dem Völkerrecht den Prozess, in: Die Zeit, 7. 2. 2002, S. 4.

Vgl. Norman Paech, Sinn und Missbrauch internationaler Strafgerichtsbarkeit, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2002, S. 449.

Vgl. Gabriele Senft, Lutz Herden, Die Brücke von Varvarin, in: Freitag, 8. 6. 2001, S. 11.

Zu diesen Argumenten ausführlicher Jäger (Anm. 25), S. 336f.

So wird in der Rechtsprechung namentlich des Jugoslawien-Tribunals allgemein auf die Vergeltung (retribution) als Strafzweck verwiesen, lediglich in einem Fall heißt es: "Retributive punishment by itself does not bring justice." Mit diesem Argument wird auch in der Wissenschaft der Vergeltungsgedanke abgelehnt. Schuldgrad und Strafgröße könnten wegen der Art der zu verhandelnden Verbrechen im Völkerstrafrecht noch viel weniger als im nationalen Strafrecht in Einklang gebracht werden. Vgl. dazu Möller (Anm. 25), S. 443 - 447.

Die Frage stellt sich, ob es bis heute eine andere Entwicklung gegeben hätte, wenn die Ad-hoc-Tribunale nicht als Zwangsmaßnahme nach Kapitel VII der UN-Charta eingesetzt worden wären. Die Alternative zum Beschluß des Sicherheitsrats wäre ein internationaler Vertrag gewesen, dem alle Kriegsparteien hätten zustimmen müssen und der auch dem Gebot aus Art 14 I 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (jeder Angeklagte hat Anspruch auf den gesetzlichen Richter) entsprochen hätte. Abgesehen davon, daß das Völkermordregime in Ruanda einem solchen Vertrag niemals zugestimmt hätte, ist auch zweifelhaft, ob die am Balkankrieg beteiligten Staaten ihn akzeptiert hätten. Und selbst wenn sie den Vertrag akzeptiert hätten, ist es noch eine ganz andere Frage, ob er nicht nach Beginn der Ermittlungstätigkeit des Chefanklägers oder nach den ersten Urteilen schon wieder hinfällig geworden wäre. Wie schwierig es ist, eine Ad-hoc-Strafgerichtsbarkeit per Vertrag zu installieren, zeigen und zeigten die Bemühungen um ein solches Tribunal für Kambodscha und Sierra Leone, und das, obwohl die Kriege dort einen weit ausgeprägteren internen Charakter als im ehemaligen Jugoslawien hatten.

120 Staaten stimmten für das Statut, 21 enthielten sich der Stimme, 7 (China, Irak, Israel, Jemen, Katar, Libyen, USA) stimmten dagegen. Vgl. Kaul (Anm. 2), S. 125.

Dieser zeitlich befristete Ausschluß der Zuständigkeit stützt sich auf Artikel 124 des Statuts.

Andernfalls hätten sich die USA aus den weltweiten UN-Friedensmissionen zurückgezogen.

S/RES/1422 vom 12.7.2002.

Zur Zeit finden entsprechende Verhandlungen mit der Regierung von Bosnien-Herzegowina statt. Vgl. Gemma Pörzgen, Die Regierung in Sarajewo möchte zwei Herren dienen, in: Frankfurter Rundschau, 10. 5. 2003, S. 1.

Vgl. dazu Anne Kindt, Die USA und der Internationale Strafgerichtshof, in: Kritische Justiz, 4/2002, S. 428f.; Clauß Kreß, Der Internationale Strafgerichtshof und die USA, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2002, S. 1099; kürzlich wurde im Repräsentantenhaus sogar ein Gesetzentwurf eingebracht, der sich gegen das sogenannte Weltrechtsprinzip wendet. Allen Staaten, die dieses Prinzip, das bei schweren Völkerrechtsverbrechen die Verfolgung unabhängig vom Tatort und der Nationalität von Tätern und Opfern vorsieht, anwenden, werden darin auch militärische Zwangsmaßnahmen für den Fall angedroht, daß sie US-amerikanische Staatsangehörige inhaftieren. Vgl. Stefan Ulrich, Anschlag auf die Weltjustiz. Washington will Rechtssysteme anderer Staaten aushebeln, in: Süddeutsche Zeitung, 17./18. 5. 2003, S. 1.

Vgl. Rolf Paasch, Das Völkerrecht ist keine Speisekarte, in: Frankfurter Rundschau, 3.7.2002, S. 3.

Vgl. David J. Scheffler, The United States and the International Criminal Court, in: The American Journal of International Law, 93/1999, S. 12 - 22.

Vgl. dazu Kindt (Anm. 40), S. 439.

Vgl. Henry A. Kissinger, The Pitfalls of Universal Jurisdiction, in: Foreign Affairs, Juli und August 2001, S. 86 -96.

Published 22 July 2003
Original in German

Contributed by Mittelweg 36 © Mittelweg 36 Eurozine

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