Imre Kertész. Der Fremde

Im Zug setzt sich Ágnes neben mich. Wir fahren Richtung Budapest, das Land ist flach, Bruck an der Leitha, die Grenze ist eindeutig die Grenze nach Osteuropa, und dann das ungarische Hegyeshalom, wo der Zug zwei Minuten Aufenthalt hat. In diesen zwei Minuten musste Imre Kertész vor Jahren, kurz nach dem Fall der Mauer, kurz nachdem Osteuropa und damit auch Ungarn sogenannt frei wurden, aus dem Zug nach Wien aussteigen. Er hatte dreitausend Schilling nicht deklariert. Hegyeshalom, wo Kertész darauf aufmerksam gemacht wurde, dass er zur Rückreise nach Budapest in eben diesen Zug nicht einsteigen dürfe als Ungar, “es sei ein internationaler Zug”. Hegyeshalom, wo die Miniaturversionen von Plattenbauten und Einfamilienhäusern über die Wiesen gestreut sind, dreckiggelb, kackbraun, das hässliche, aber universelle Gesicht des Ostens, wie es seine Kritiker immer abschreckte, und weiter: eine Landschaft, die nicht flurbereinigt ist, weite Wälder, Flüsse, die nicht begradigt sind, ein Europa, das den Nostalgikern wie ein Relikt aus besseren Zeiten vorkommt. “Fliegen Sie über Osteuropa im Tiefflug”, sagte Kertész anlässlich eines Interviews zu seinem Nobelpreis. “Von oben ist es herrlich, aber versuchen Sie nicht zu landen, denn dort zu leben ist unmöglich.”

“Ah, Sie lesen Kertész”, sagt Ágnes im Zug. Ja. Und nach einer kleinen Pause. “Kertész. – Ich kenne ihn leider nicht persönlich.” Wieso auch? Wieso muss man einen Autor persönlich kennen? Die andern beiden Protagonisten des international bekannten Triumvirats der ungarischen Gegenwartsliteratur sind ihr vertraut, “Péter Esterházy, Péter Nádas, sie treten auf, vor allem Esterházy, der Aristokrat, der extrovertierte, exaltierte Ironiker mit der abstrapazierten Hose, mit der göttergleichen Haarpracht, und auch Nádas, der brillante Analytiker mit dem unbestechlichen Blick”. Aber Kertész? Kertész nicht. “Es tut mir leid”, sagt sie, “und über Kertész kann ich auch nicht resümieren. Aber ich werde darüber nachdenken. Dann schreibe ich Ihnen einen Brief.”

“Budapest ist das Gefängnis, in dem ich vierzig Jahre lang eingesperrt war.” Heute lebt Kertész nur noch sporadisch in dieser Stadt, um Freunde zu treffen, um das Geschäftliche zu erledigen; den grösseren Teil des Jahres verbringt er in Berlin. Angefangen hat das 2001, als das nationalistische und antisemitische Klima in Budapest Kertész in eine tiefe Depression stürzte und die Arbeit an seinem Roman Liquidation blockierte. Seine Frau, Magda, schlug ihm vor, in Berlin eine kleine Wohnung zu mieten. “Sie hat entdeckt, dass ich mich an fremden Orten viel besser konzentrieren kann.”

Magda, die da ist, wo Imre ist, lacht. Vielleicht konnte sie das nur entdecken, weil sie selbst so anders ist, das genaue Gegenteil. “Imre braucht keine Dinge, die ihn an etwas erinnern, die ihm die Umgebung heimisch machen, im Gegensatz zu mir. Ich liebe Dinge. Ich habe eine ganze Reihe von Dingen, die mich an verschiedene Etappen meines Lebens erinnern.” Magda ist möbliert, behaust, sie ist rosa und wollig, sie hat in Amerika gelebt, sie lacht tief und herzlich und streckt die Arme aus, um Imre hineinzunehmen und zu beschützen. Und er begibt sich in ihre Obhut, nach diesem so anstrengenden Leben, nach KZ, Sozialismus, nach einer Ehe mit Albina, die selbst verfolgt und gefoltert worden war und Anfang der neunziger Jahre an Krebs gestorben ist, Kertész hat die Hölle “in einer halben Stunde erlebt”. An diesem Nachmittag ist er zerbrechlich, ein Termin beim Arzt steht an, und Magda ist da mit ihrer Wärme und ihrer Stärke.

Mit Magda, nach vierzig Jahren Budapest und Bewegungslosigkeit, begann auch das Reisen. “Ich reise gern, im Grunde das einzige, was ich gern tue. Auch ich bin stets der glücklichste Reisende und der Allerunglücklichste Ankommende, wie Bernhard es über sich sagt. Ich liebe es, unterwegs zu sein, das heisst nirgendwo.” Und Kertész ist viel unterwegs, Lesungen, Gespräche, Berlin, Budapest, tour, retour, und dann das Schlafen im Hotel, vielleicht auch das Arbeiten, frei, an einem nichtgeprägten, unverbrauchten Ort.

Nicht, dass es vierzig nur schreckliche Jahre gewesen wären, aber “wissen Sie, in einer Diktatur zu leben bedeutet, mit der Absurdität zu leben. Im Sozialismus gab es keine Wirklichkeit. Wir lebten wie Papierpuppen. Alles war falsch. Alles war irre und gelogen.” Man sieht ein Leben vor sich, und wenn man danach greifen will, löst es sich in Luft auf. “Die Rolle des Geldes im Sozialismus ist exemplarisch. Ich hatte Geld, aber ich konnte nichts damit kaufen. Ich hatte Geld, das für nichts da war. Als ich 1983 auf Einladung des Goethe-Instituts in den Westen gereist bin, bekam ich für das Stipendium D-Mark. Ich sass in einem Taxi und gab dem Chauffeur zum ersten Mal in meinem Leben ein Trinkgeld mit wirklichem Geld. Ich habe ihm eine Mark gegeben. Er sagte danke, und ich habe ihm noch eine Mark gegeben. Das war ein grosses Gefühl.” Für einen Moment deckte sich die Wirklichkeit mit der Idee, die man von ihr hatte. Das war im Westen.

Das falsche Leben. Imre Kertész wurde die Fremdheit aufgezwungen. Als Kind, als Jude, natürlich, habe er eine Sonderklasse besuchen müssen, später in der Raffinierie in Csepel arbeiten, dann sei er ins Konzentrationslager gekommen. Ausgrenzung, Abschiebung, Liquidation hiess das offizielle Programm, das Kertész traf. Dann, nach dem Lager, der Sozialismus; der Befehl, im Gleichschritt zu leben, eine Scheinwelt zu stützen, bei Verweigerung: Zensur, und ausserdem und vor allem: die Abgrenzung von der Welt, die Ausgrenzung aus der Welt. Die ungarische Sprache, die so wenigen Nicht-Ungarn zugänglich ist, die schriftstellerische Isolation bedeutet und die Unmöglichkeit auszuwandern und anderswo in der Muttersprache zu schreiben, in der Muttersprache, die andere ihm noch streitig machen, wie der Kollege, der, nach der Wende, bei einer Holocaust-Gedenklesung lobend anmerkt, wie gut der Jude Kertész doch ungarisch spreche.

Die Fremdheit ist Kertész¹ Begleiter von Anfang an; und er fügt sich ihr: “Ich bin in dieser Welt fremd. Aber das ist überhaupt nicht schlimm.” Im Gegenteil: Er macht die Fremdheit zum Lebensprinzip. Er entscheidet sich für sie und verinnerlicht sie. Er lässt sie in sein Innerstes. “Immer schon hasste ich meinen Namen”, schreibt er in Ich, ein anderer. Bereits in meiner frühen Kindheit haftete zu viel Schmach an ihm. Um genau zu sein: Ich glaube, ich habe mich vor meinem Namen gefürchtet. Ein bisschen tue ich es noch heute. Höre ich meinen Namen oder sehe ich ihn geschrieben, fühle ich mich gewissermassen aus dem friedlichen Versteck meiner Anonymität herausgerissen “identifizieren jedoch werde ich mich nie mit ihm.”

Diese Fremdheit, die er sogar sich selber gegenüber spürt, lässt immer einen Spalt offen. Sie verhindert Identifikation, Identität, Idylle. Sie ist skeptisch, sie hinterfragt alles. Sie kennt keine Grenzen. Fremdheit ist ein anderes Wort für unbedingte Offenheit. Vielleicht liebt Imre Kertész das Meer. In Berlin geht er, wenn er schlechte Laune hat, auf den Kurfürstendamm und trinkt einen Kaffee, “dort umgibt mich eine sehr bewegliche, sehr fremde Welt”, und er lässt sich treiben. Kertész ist ein freier Mensch, sagt György Spiró über seinen Freund. Er ist fremd in der Welt, die ihn umgibt, entzieht sich ihren Zwängen, ihrer Wirklichkeit.

Und schafft sich eine andere Welt. Eine eigene Welt aus Worten und Ideen. Fremdheit ist bei Kertész eine Grundbedingung zum Schreiben. “Der Schriftsteller, glaube ich, muss entweder völlig in etwas aufgehen “oder er muss fremd sein, ganz fremd. Ich glaube, ein Schriftsteller ist ein Mann, der zwei sind. Einer ist der Beobachter, der andere der Handelnde. Der Beobachter tut meistens nichts, aber er ist immer da. Und dann, wenn es unbedingt sein muss, dann spricht er.”

Imre Kertész hat ein auffälliges Gesicht. Ein Gesicht, das sich immer verändert und dessen Konturen immer wieder anders verlaufen. Ein Gesicht, das sich stark bewegt, viel bewegt. Vor allem, wenn er lacht. Dieses Lachen, das so unerwartet kommt bei einem Menschen, dessen ganze Lebensgeschichte von Leid durchzogen ist. Dieses Lachen. Es öffnet, natürlich, aber es schafft auch Distanz, man lacht mit jemandem oder man lacht über etwas. Man sieht das, worüber man lacht, aus einer anderen Perspektive. Man hält es von sich weg. Das Lachen, sagt Kertész, ist eine Methode, um die Absurdität des Lebens auszuhalten. Das Leben im Sozialismus ist nur ein Beispiel dafür. Im Zug nach Wien, vor Hegyeshalom, muss er seine Taschen leeren, er wird beleidigt, gedemütigt; da steht er, ein “chaplineskes Wesen”, eine Witzfigur, ein Kasperle. Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Thomas Bernhard, Beckett, Kafka, Dostojewski, selbstverständlich Camus sind Kertész¹ Lieblingsautoren. Auf sie alle reimt sich der Begriff der Alltags-Absurdität, zu der die tragikomische Situation gehört.

Dann aber überrascht die Fremdheit ihn selbst, den ehemaligen Häftling und Spurensucher, der zurückkehrt nach Buchenwald und Weimar. Der Versuch einer Erinnerungsreise. Doch die Erinnerung verweigert sich, zumindest da, wo er sie erwartet. “Er spürte, wie sein Blick an den Dingen abglitt und zerbrach.” Die Dinge, die erinnern sollten, sind fremd, sie verschliessen sich und “legen über nichts Rechenschaft ab”.

Erst in dem Moment, da er keine konkreten Erwartungen mehr hat, “jetzt, da sein mutloser Blick ziellos und sozusagen zerstreut etwa in der Höhe der höchsten Stockwerke der Häuser dahinflog, jetzt kam er nur mit Hilfe des Einfallswinkels des Lichtes und unter dem Eindruck einer vorherrschenden Farbe “eine Farbe, die zu ändern man vergessen hatte oder nicht hatte ändern können “auf einmal ans Ziel.” Das unverdächtige Gelb! Die Erinnerung hat keinen Raum in festgesteckten Bildern, sondern geht einen eigenen Weg. Sie nistet im Nebensächlichen, in Gerüchen und Farben und Tönen. Die verlorene Zeit kann man nicht einfach wieder einholen. “Wenn ich gegen mein vergängliches Ich und die ständige Wandelbarkeit der Schauplätze ankämpfen wollte, musste ich mir, mich auf mein schöpferisches Gedächtnis verlassend, alles von neuem erschaffen.” Einen anderen, neuen, fremden Blick wagen und den Horizont weiten, den Blick hinausführen über das Augenscheinliche. Das ist das Prinzip der Erinnerung, ein universelles Prinzip, und es ist das Prinzip des Dichtens.

In dem Budapester Mehrfamilienhaus, wo Kertész wohnt, lässt sich der Fahrstuhl nur vom Erdgeschoss aus bedienen. Wer kommt, kann ihn, ganz normal, mit einem Knopfdruck rufen. Wer gehen will, muss zu Fuss die Treppe hinuntersteigen. Ausser der Lift blieb zufällig im richtigen Stockwerk zurück.

Von Ágnes übrigens kam bis heute kein Brief.

Published 20 July 2005
Original in German
First published by Du

Contributed by Du © Helga Leiprecht / Du / Eurozine

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