Kertész in seiner Zeit

Nicht jüdisch. Nicht ungarisch. Nicht antideutsch genug.

Obwohl das literarische Klima in Ungarn während der Kádár-Regierung in den 1960er Jahren offener war als in anderen Ostblock-Ländern, garantierte die Zensur, dass politisch unabhängige Schriftsteller unbekannt blieben. Obwohl 1975 sein erstes Buch Roman eines Schicksallosen mit mildem Beifall aufgenommen wurde, war es Imre Kertész nie möglich, in die geschlossenen literarischen Kreise einzudringen, noch das Misstrauen der breiteren Öffentlichkeit gegenüber seiner Person auszuäumen. Heute stößt er sowohl ungarische Nationalisten vor den Kopf als auch all jene, die meinen, als Auschwitz-Überlebender müsse er sich vehementer gegen Deutschland stellen. Der Schriftsteller György Spiro verteidigt die “perfekte Normalität” der Literatur seines langjährigen Freundes.

Hätte ich im Frühsommer 1975 nicht von meinem jung verstorbenen Schriftstellerfreund Péter Hajnóczy erfahren, Imre Kertész habe ein grossartiges Buch veröffentlicht, den Roman eines Schicksallosen , wäre es mir vermutlich entgangen. Damals erschienen, in gefälliger Gestaltung und mit handfester Werbung, zu viele interessante Werke. Ich las das Buch, drängte es meinen Freunden auf – wir alle waren enthusiasmiert. Und warteten auf Buchbesprechungen. Drei lobende Rezensionen erschienen, aber in keiner hiess es, hier sei ein Werk von weltliterarischem Rang entstanden.

Die kommunistische Wende nach dem Zweiten Weltkrieg führte in Ungarn zu einer Literatur, die dem sowjetischen Muster entsprach: In enormer Auflagenhöhe erschienen Autoren, die das System unterstützten, während andere, die sich widersetzten oder neutral verhielten, nicht erscheinen konnten. Nach Stalins Tod trat die harte Diktatur auch in Ungarn den Rückzug an, frühere begeisterte Kommunisten begannen das System zu kritisieren, und am Ausbruch der Revolution von 1956 hatten Schriftsteller einen beträchtlichen Anteil. Nach der Niederschlagung der Revolution wurden etliche reformkommunistische Schriftsteller eingesperrt, und andere mussten verstummen; die Kulturpolitiker suchten in allen Ecken und Winkeln nach jungen, systemtreuen Schriftstellerkadern, doch der frühere Zustand liess sich nicht völlig wiederherstellen. Das Kádársystem stabilisierte sich, und in der andauernden Konsolidierung durften immer mehr “Trittbrettfahrer” und “Mitläufer” veröffentlichen, wie in den sechziger Jahren im Sowjetreich auch die Poputtschiks eine wachsende Rolle spielten.

Es gab eine künstlich aufgeblasene Popularität der Autoren, die die offizielle Ideologie propagierten, und eine wachsende Beliebtheit derer, die nicht nach den Direktiven der Partei arbeiten wollten. Ein bemerkenswertes Ereignis der sechziger Jahre war es, als bisher verbotene ungarische Autoren erscheinen durften und auch die anderthalb Jahrzehnte verbotenen Schriftsteller der Weltliteratur in ungarischer Sprache erschienen. Die Werke von Thomas Mann, Kafka, Camus, Sartre oder Solschenizyn waren Entdeckungen auch für Imre Kertész. Viele lasen und debattierten über den Existenzialismus, der vielleicht die letzte ernst zu nehmende Philosophie im 20. Jahrhundert war.

Imre Kertész, damals ein Aussenseiter, entschied sich zu dieser Zeit, seinen ersten Roman zu schreiben, und er hoffte zu Recht, sein Werk werde eine breite Anerkennung finden. Unbekannte Autoren, die mit einem ersten Werk aufwarteten, konnten damals davon ausgehen, dass es in einer Auflagenhöhe von 5000 bis 10 000 Exemplaren erscheinen würde. So radikal wie Kertész bekannte sich meines Wissens niemand zur Schriftstellerei: Er hatte keinen festen Arbeitsplatz, er lebte von geistigen Gelegenheitsarbeiten, eigentlich aber von seiner opferbereiten Frau, die das Geld nach Hause brachte, damit er sich uneingeschränkt seinem Roman widmen konnte. Nichtsdestoweniger war die Zeit für ein so haarsträubendes Unternehmen günstig: Alle lebten in Armut, aber niemand verhungerte, und jeder hatte ein Dach über dem Kopf – eine genaue Beschreibung der Kertészschen Lebensumstände findet man in seinem Buch Fiasko -, und obgleich niemand reich werden konnte, fand man mangels anderer Dinge genügend Zeit, sich zu bilden, zu lesen, zu lernen. Damals lasen die Ungarn noch – das war der letzte archaische Augenblick vor der betäubenden Explosion der Bildkultur.

Die Zensur war nicht mehr so streng wie in den fünfziger Jahren und unmittelbar nach der Revolution. Manche Dinge, so etwa die Anwesenheit sowjetischer Besatzer, durften nicht erwähnt werden, die Revolution von 1956 galt offiziell als Konterrevolution, die kommunistische Ideologie war unanfechtbar; doch die Schriftsteller lernten, mit Auslassungen umzugehen, und die komplizenhaften Leser fanden sich zwischen den Zeilen prächtig zurecht. Janusgesicht der Zensur Russische Schriftsteller sagen scherzhaft, die russische Literatur des 19. Jahrhunderts sei durch die Zensur gross geworden: Weil sie politische Themen nicht berühren durften, mussten sie sich den Seelentiefen zuwenden. Die Wahrheit sieht so aus, dass die Zensoren des Zaren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – gebildete, belesene Literaturliebhaber waren und nach Möglichkeit den Autoren halfen. Aus dieser Tradition hat sich etwas in das Sowjetsystem hinübergerettet. Wenn wir zum Beispiel die erste sowjetische mit der in der Schweiz herausgegebenen vollständigen russischen Ausgabe von Bulgakows Der Meister und Margarita miteinander vergleichen, stellen wir fest, dass der sowjetische Zensor nur unwesentliche Teile gestrichen hatte und das Werk kaum beschädigt wurde.

So arbeitete auch die überwiegende Mehrheit der ungarischen Zensoren, die verschämt als Lektoren bezeichnet wurden. Sie arbeiteten nicht immer gegen den Autor, sondern sie fürchteten sich vor den benachbarten Lektoren, die sie eventuell – oder mit Sicherheit – verrieten, wenn sie nicht wachsam genug waren. Was dann der Verlagslektor augenzwinkernd durchgehen liess, dem drohte eine weitere Zensur: Beide ungarischen Verlage für Belletristik hatten je einen Oberlektor, das waren zuverlässige und parteigetreue, aber auch qualitätsbewusste Akademiker. Danach gelangte das Manuskript zum Ministerium, wo es in der entsprechenden Abteilung einen Stempel für die Druckgenehmigung bekam. In Zweifelsfällen aber schickte man es weiter zur entsprechenden Abteilung der Parteizentrale. Doch ein derartig abgesichertes Manuskript war noch keinesfalls sicher. Das fertige Buch durchlief den gesamten Weg zurück, weil in den anderthalb bis zwei Jahren, die das Manuskript bis zum Buch brauchte, draussen in der Welt etwas geschehen sein konnte, was das vorher ungefährliche Werk nun zum Zündstoff für den internationalen Imperialismus werden liess, weshalb es nicht sofort, sondern erst später herausgegeben wurde, wenn die politische Situation es erlaubte. Viele brillante Bücher mussten ein Jahrzehnt lang warten, bis sie erscheinen durften.

In Ungarn erschienen jedoch früher oder später alle Bücher, und als die politische Wende eintrat, gaben die Schreibtischkästen kein einziges bedeutendes Werk her. Unter den im Samisdat publizierenden Autoren gab es lediglich einen bedeutenden, den Dichter György Petri. Ihn hatten die Mächtigen vergeblich versucht an sich zu ziehen, er hatte sich auf keinen Kompromiss eingelassen.

In Ungarn waren die Verhältnisse besser als in den anderen sozialistischen Ländern Europas; in den sechziger und siebziger Jahren beneideten uns die Tschechen und die Polen. Der Samisdat, der sich in den siebziger Jahren auch in Ungarn entwickelte, publizierte philosophische, politologische und soziologische Texte, jedoch – mit Ausnahme Petris – keine Belletristik.

Imre Kertész reichte seinen ersten Roman dem einen der beiden Belletristikverlage ein, der lehnte ihn ab. In seinem Roman Fiasko hat er darüber berichtet. Nun ging das Manuskript an den anderen Verlag, dessen Chef kein ehemaliger Geheimdienstmann und überzeugter (jüdischer) Kommunist war, sondern ein mit dem System ganz gut zu Rande kommender “bürgerlicher” Autor der zweiten Garnitur. Der veröffentlichte das Buch. Bis dahin verlief alles ganz normal.

Ein ungeliebter Individualist

Normal war auch, dass drei lobende Kritiken erschienen. Übermässig war das Lob allerdings nicht. Der Autor, der mit 46 Jahren sein erstes Werk vorstellte, gehörte nämlich keiner Gruppierung an. In seiner Generation gab es aber eine Gruppe von anerkannten Schriftstellern, in die er nicht eindringen konnte. Generationenzwietracht gehört allemal zum Literaturbetrieb. Die osteuropäische Mentalität erträgt den Individualisten im allgemeinen nur, wenn sie ihn als gehorsamen Teil des Kollektivs betrachten kann. Die Unter- und Überordnungsverhältnisse des ungarischen Literaturbetriebs waren feudal geblieben, und diese kollektive Mentalität bäuerlichen Ursprungs, zu der sich eine kleinbürgerliche Romantik gesellte, wurde durch den von oben diktierten Mythos der kommunistischen Idee noch verstärkt. Neueinsteiger wurden von einigen offiziell anerkannten “Beobachtern” begutachtet, und trat einer von ihnen mit origineller Stimme und kraftvoller Persönlichkeit auf, nicht aber als Waffenträger irgendeiner literarischen Grösse, dann musste er verstummen; sein Werk durfte zwar erscheinen, aber Werbung wurde dafür nicht gemacht. Die zeitgenössische Kritik analysierte die Werke auf politischer und ideologischer, nicht aber auf ästhetischer Grundlage. Kertész¹ Haltung entsprach keiner zeitgenössischen ungarischen Ideologie, weder der offiziellen noch der mehr oder weniger oppositionellen, die in kleinen Kreisen die systemimmanente Machtstruktur nachahmten und sich von ihr nur ideologisch unterschieden.

Niemand schrieb also, der Roman eines Schicksallosen sei ein Meisterwerk, und es wurde auch kaum wahrgenommen. Péter Hajnóczy bemerkte es, ein gebildeter, sensibler Aussenseiter und Alkoholiker. Er ahnte, dass er es mit einem vom Üblichen abweichenden Autor zu tun hatte. Und etwas Ähnliches verspürten auch die Intellektuellen, die das Buch zwar lasen, es aber eher ablehnten. Die gnadenlos ironische und respektlose tragische Haltung des Buches passte nicht zur literarischen Etikette Ungarns.

Der Roman eines Schicksallosen handelt, wie Kertész sich äussert, nicht nur vom Nazismus; zu seiner Entstehung waren auch Erfahrungen mit dem ungarischen Sozialismus erforderlich. Insbesondere aber befasst er sich mit dem Weg des ungarischen Judentums, das im 19. Jahrhundert durch uneingeschränkte Assimilation seine Religion, seine Sprache und seine Tradition vollständig aufgab, konsequenter noch als die deutschen Juden. Deshalb war es für die ungarischen Juden ein so grosser Schock, als sie nach dem Ersten Weltkrieg dissimiliert wurden und in den dreissiger Jahren immer schärfere Gesetze gegen sie in Kraft traten. Sie nahmen das ohne Gegenwehr hin. Auch als sie den gelben Stern tragen mussten und schliesslich zu Hunderttausenden zusammengepfercht und in Todeslager transportiert wurden. Das alles überraschte die polnischen und die rumänischen Juden weniger: Sie waren nicht wirklich assimiliert, und sie brachten mehr Widerstand auf.

Die Tradition der Verdrängung

Nach meinem Dafürhalten fehlt in Ungarn eine Auseinandersetzung mit der Tatsache der Ausrottung einer halben Million ungarischer Juden unter ungarischer Beteiligung. So war es, bevor der Roman eines Schicksallosen geschrieben wurde, so ist es geblieben, und es hat sich seither nicht geändert. Nach der Wende verschärfte sich der in den achtziger Jahren von der damaligen Parteiführung zum Zweck des inneren Machtkampfes initiierte politische Antisemitismus. Die Rassentheorie ist heute wieder so lebendig wie in den dreissiger Jahren. Mit dem Unterschied, dass der Antisemitismus nur in Kreisen der geistigen Intelligenz in Mode ist, während die Zigeunerfeindlichkeit – und der Fremdenhass überhaupt – im ganzen Land grassiert.

Die Grundhaltung, die den Roman eines Schicksallosen bestimmt, war den meisten Ungarn unangenehm und blieb es bis heute. Etwas Ähnliches schrieb nur der geniale polnische Autor Tadeusz Borowski in zwei Novellenzyklen über Auschwitz und seine Folgen. Er nahm sich zu Beginn der fünfziger Jahre das Leben. Man kann nicht sagen, dass er in Polen oder irgendwo in der Welt populär wäre. Kertész und auch Borowski entmythisieren den Holocaust und stellen ihn als Folge der modernen Welt dar. (Borowski dehnt die Bedeutung des Wortes Holocaust – dieses äusserst ungenauen, aber eben doch verbreiteten Wortes – auf das gesamte institutionalisierte System der Versklavung aus.) Bei Kertész wie bei Borowski besteht kein Qualitätsunterschied zwischen dem friedlichen Hinterland und dem Todeslager. Keiner sieht mit Rührung auf die Opfer; sie werden meistens als mehr oder weniger aktive Kollaborateure dargestellt. Die Mörder sind in ihren Augen normale Menschen, die an einer durchorganisierten, von der Gesellschaft weitgehend unterstützten Handlung teilnehmen. Die Verbrechen sind mit den Menschen anthropologisch verbunden, was aber – und das ist die Grundlage des paradoxen Optimismus ihrer Werke – nicht bedeutet, sie sollten nicht als Verbrechen gewertet werden.

Diese Herangehensweise passte nicht und passt auch heute nicht in die ungarischen Geisteshaltungen. Was sich übrigens nicht auf Ungarn beschränkt. Sie ist unangenehm. Peinlich. Nicht jüdisch. Nicht ungarisch. Nicht antideutsch genug. Mit mörderischer Ironie die Wahrheit sagen? Wem nützt das schon? Politisch nicht verwendbar. Die Seelen dürsten – als Folge der Versuchungen des 20.Jahrhunderts und der völligen Perspektivlosigkeit – nach Kitsch. Die Seelen sehnen sich nach einem Führer, und da die Religiosität schon eine Weile pausiert, flüchten sie in Quasi-Religionen, egal ob diese konservativ-chauvinistischer oder aber liberaler Natur sind. So passt der radikale Roman eines Schicksallosen weder sprachlich noch konzeptionell in die übliche tränenschwere jüdische Heilsgeschichte, deren Höhepunkt, deren “ausserhistorisches Ereignis” (Ágnes Heller) Auschwitz war.

Zwischen 1961 und 1973, als Kertész an seinem Roman arbeitete, gab es in der ungarischen Gesellschaft anscheinend die Neigung, geistige Originalität anzuerkennen. Die Zeit war dafür reif, sich selber ins Auge zu schauen und das Tragische nachzuvollziehen. Unser Glück ist, dass Kertész daran glaubte und dass sich erst später herausstellte, dass alle menschenfeindlichen Ideologien, die das 19. und das 20. Jahrhundert hervorgebracht hatten, unaufgearbeitet in den Seelen schwelten. Seither wütet ein wildromantischer Nationalismus auch dort, wo die Waffen gerade ruhen. In diesem geistigen Umfeld war Kertész¹ Roman in seiner verblüffenden Nüchternheit und perfekten Normalität ein Verstoss gegen die Norm. Und das bleibt er auch.

Published 20 July 2005
Original in Hungarian
Translated by Hans Skirecki
First published by Du

Contributed by Du © Hans Skirecki / Du / Eurozine

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Read in: HU / EN / DE

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