Heraus aus dem Schulden-Dilemma

Wie Griechenland Europa stärken kann

“Funktional ausdifferenzierte Gesellschaften”, in denen also Wirtschaft, Politik und Moral getrennte Sphären sind und allein Marktpreise Angebot und Nachfrage regeln, gelten in der Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie als amoralisch.1 Jedoch lassen Marktakteure Emotionen, ethisches Räsonnement und ihre moralische Ordnungen bei wirtschaftlichen Geschäften keineswegs außen vor. Sicher kauft man ein Gut, wo es am günstigsten ist, aber hat man überhaupt die notwendigen Informationen? Und würde man kaufen, wenn der Verkäufer sich ausdrücklich als Gegner eigener Normen zu erkennen gäbe oder für einen bösen Zweck kassierte? Man tut es, wenn man darüber in Transaktionen nicht spricht, aber es gibt Fälle von Boykott gegen eine ethnische Gruppe (Juden), eine Firma (Shell), ein Produkt (gentechnisch veränderte Lebensmittel) usw. Die Moralisierung der Märkte findet auf allen Ebenen statt, der ethische Konsum ist nur eine Spielart davon.

Moralische Überlegungen sind im Wirtschaftsleben überall präsent, und ein wesentliches Moment ist dabei, wie zuletzt David Graeber in Erinnerung gerufen hat, wie intensiv Schulden mit Schuld verwoben sind.2 Am engsten ist der etymologische Konnex wohl im Deutschen: Das mittelhochdeutsche “schulden” hieß verpflichtet sein, zu danken haben und sich schuldig machen.3 Moralische Schulden werden damit monetarisiert und monetäre Forderungen moralisch untermauert. Der Kern dieser Beziehung von Geld und Moral ist, dass Menschen in der Regel überzeugt sind, Schulden zurückzahlen zu müssen, wobei sie jedoch misstrauisch betrachten, wenn jemand als professioneller Geldverleiher auftritt. Der Antisemitismus hat hier seine Wurzeln ebenso wie ein pauschaler Vorbehalt gegen “die Banken”.

Vermittlungsglied ist das Geld, das “es schafft, Moral in eine Frage der unpersönlichen Rechenkunst zu verwandeln – und auf diese Weise Dinge zu rechtfertigen, die uns ansonsten skandalös oder unanständig vorkämen.”4 Diesen Gedanken des Soziologen Georg Simmel hat der Anthropologe und Occupy-Aktivist David Graeber zu einer Theorie des Verhältnisses von Schuld und Schulden seit 5000 Jahren ausgebaut. Peter Sloterdijks analoge Frage lautete 2006: “Gibt es eine Alternative zu dem triebhaften Anhäufen von Wert, zum chronischen Zittern vor dem Augenblick der Bilanz und zu dem unerbittlichen Zwang des Zurückzahlens von Schulden?”5

Das war ein paar Jahre vor der aktuellen Griechenlandkrise, aber auch andernorts hatten Schuldenkrisen schon ganze Volkswirtschaften und Gesellschaften ruiniert, waren andererseits Schulden auch im Blick auf (neo-)koloniale Verfehlungen erlassen worden. Das reklamieren die Zornigen im heutigen Athen für sich. Sie sähen die Krise (Griechenland hat eine Schuldenquote von 175 Prozent des BIP) gern anders “erlöst” als von den Anwälten des Tilgungszwangs gefordert, der Gesellschaften stranguliert und nicht, wie es Joseph Schumpeters Theorem der schöpferischen Zerstörung unterstellt, in unternehmerische Aufbruchsstimmung versetzt. Die dirigistische Behandlung »der” Griechen durch die “Troika” (aka “die Institutionen”), der pejorative Druck der Massenpresse und die Ungeduld selbst wohlmeinender Beobachter haben gezeigt, dass man Griechenland als Ganzes im Schuldenturm auf eine Weise an eine belastete Vergangenheit kettet, die eine mögliche Zukunft kolonisiert oder ausschließt. Dass sich rechts- und linkspopulistische Kräfte in Griechenland nun von Europa und dem Westen abwenden und die Kooperation mit Russland suchen, ist ein Alarmsignal.6

Die Deutschen, denen Abzahlen und Heimzahlen nach 1918 und 1945 (ohne Zweifel zu Recht) widerfahren ist, müssten wissen, wie man sich dabei fühlt. So konnte eigentlich niemanden verwundern, dass zahlungsunwillige Griechen ihre deutschen Zuchtmeister im Gegenzug an den Holocaust und die Nazi-Okkupation erinnerten und nun ihrerseits Ansprüche auf Wiedergutmachung ableiteten. Verlangt wird sie zum einen für Kriegsverbrechen der SS und Wehrmacht, zum anderen für die Rückzahlung der Zwangsanleihe von 476 Millionen Reichsmark zur Finanzierung von Besatzungskosten, die das Deutsche Reich der griechischen Nationalbank 1942 auferlegt hatte. (Selbst die NS-Führung hatte angekündigt, die Anleihe nach Ende des Krieges zurückzuzahlen.) Sämtliche griechischen Regierungen seit 1950 haben darauf gepocht, dass diese Ansprüche, anders als deutsche Gerichte und Gutachter behaupten, keineswegs durch das Londoner Schuldenabkommen von 1953 bzw. den Zwei-Plus-Vier-Vertrag von 1990 abgegolten seien.

Hermann Josef Abs signs the London Debt Agreement on 27 February 1953. Source:Wikipedia / Deutsche Bank AG, Kultur und Gesellschaft Historisches Institut, Frankfurt am Main

Bekanntestes Beispiel einer von Griechenland geforderten Entschädigung für Kriegsverbrechen ist das ungesühnte Massaker von Distomo am 10. Juni 1944. In dieser mittelgriechischen Ortschaft hat die 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division in einer “Vergeltungsaktion”, wie das Bonner Landgericht1997 feststellte, 218 Dorfbewohner umgebracht, die an Partisanenkämpfen nicht beteiligt waren. Das Dorf wurde dem Erdboden gleichgemacht, Opfer waren alte Menschen, Frauen, Kinder und Säuglinge. Es kam dabei zu unvorstellbaren Grausamkeiten: “Männer wie Kinder wurden wahllos erschossen, Frauen vergewaltigt und niedergemetzelt, vielen schnitten die Soldaten die Brüste ab. Schwangere Frauen wurden aufgeschlitzt, manche Opfer wurden mit dem Bajonett gemeuchelt. Anderen wurden die Köpfe abgetrennt oder die Augen ausgestochen” (nach SPIEGEL 1988/1, S. 43).

Diese Taten sind strafrechtlich ungesühnt geblieben, es unterblieb auch die Entschädigung in Höhe von 37,5 Millionen Euro, zu der das von den Kindern der Opfer des Massakers von Distomo angerufene Landgericht Livadia die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1997 verurteilt hat. Einer Zwangsvollstreckung von Vermögen (darunter die Pfändung des Goethe-Instituts in Athen) versagte die griechische Regierung bislang die Einwilligung. Deutsche Gerichte (LG Bonn, OLG Köln, BGH und BverfG) und internationale Gerichte haben zivilrechtliche Klagen abgewiesen. Die obersten deutschen Gerichte argumentieren, das Massaker sei in einem “von der Haager Landkriegsordnung erfassten Bereich” geschehen, also eine militärische Operation; deshalb erblickte das BVerfG darin kein spezifisch nationalsozialistisches Unrecht. Auch der offensichtlich völkerrechtswidrige Exzess sei als seinerzeit normale Kriegshandlung anzusehen.

Der Versuch, den römischen Kassationsgerichtshof als das oberste italienische Zivilgericht zur Eintragung einer Hypothek auf deutschen Besitz in Italien zu veranlassen, wurde vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag für unzulässig erklärt und die Staatenimmunität bestätigt: Staaten können nicht von Individuen fremder Staaten verklagt werden. Der japanische Präsident des Internationalen Gerichtshofs, Hisashi Owada, hat sein Bedauern und Erstaunen über die ausgebliebene Entschädigung ausgedrückt und empfahl politische Verhandlungen. Hier muss nun die Logik des Gabentausches zum Tragen kommen, in der der französische Soziologe Marcel Mauss genau wie Lord Keynes nach dem Ersten Weltkrieg die Behandlung des Deutschen Reiches angemahnt hat: nämlich Reparationen zu verlangen, aber sie in einer Weise zu dosieren, dass kein Revanchismus entsteht, und dass der zur Zahlung gezwungene Schuldner zugleich als künftiger Kooperationspartner bestehen und zum gemeinsamen Wohl Europas beitragen kann.7

Bekanntlich wurden die Forderungen aus dem Versailler Vertrag bis 1932 eher unerbittlich exekutiert, so dass die Weimarer Republik von ihren Gegnern desavouiert werden konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wendeten die West-Allliierten eine andere Logik an: Wichtiger als die Zahlung war der Beitrag zu einer supranationalen Wirtschaftsgemeinschaft, die sich als Friedens- und Entwicklungsgemeinschaft dann auch politisch an die Überwindung des europäischen Nationalismus machen konnte. Die Londoner Konferenz von 1952/53 passte die Verpflichtungen des Schuldendienstes der jungen Bundesrepublik Deutschland ihrer damaligen Leistungsfähigkeit an. “Gnädige” Gläubiger ermöglichten damit paradoxerweise ein so genanntes “Wirtschaftswunder” und den Wiederaufstieg Deutschland zur économie dominante in Europa, was sie mit höheren Forderungen verhindert oder verzögert hätten, wenn sie dies vorausgesehen hätten.

Den Deutschen obliegt also eine besondere Verantwortung, wie der Historiker Constantin Goschler ausführt: “Der deutsche Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg hatte viel mit der Großzügigkeit der ehemaligen Gegner zu tun, die im Gegenzug damit rechnen konnten, von der ökonomischen Stärke der Bundesrepublik zu profitieren. Umgekehrt sollte aber die Reparationsfrage auch nicht für kurzfristige politische Positionsgewinne instrumentalisiert werden, zumal sich das Problem angesichts der Vielzahl der betroffenen Länder nur im europäischen Gesamtkontext behandeln lässt. Die Grundlagen des Gabentausches, auf dem die europäische Integration und der Friede nach 1945 beruhten, müssen also dringend neu diskutiert werden.”8

Gibt es zum Schuldenzyklus im Blick auf Griechenland und andere “Schuldner-Länder” eine Alternative? Gegen Abzahlen stünde Vergebung, gegen Schuldknechtschaft: Freiheit. »Für eine transkapitalistische Ökonomie können darum nur die vorwärtsweisenden, die stiftenden, gebenden und überschießenden Gesten konstitutiv sein. Allein futurisch engagierte Operationen sprengen das Gesetz des Äquivalententauschs auf, indem sie dem Schuldigwerden und Schuldenmachen zuvorkommen.”9 Nur die radikale Unterbrechung des »öden Rückzahlungsgeschäfts” erlaubt einen neuen Anfang und gibt – vermutlich zur Verwunderung des Geschädigten selbst – auch diesem die Freiheit wieder.

In Griechenland wird häufig eine Schuldenkonferenz und ein Schuldenschnitt nach der Art der Londoner Verhandlungen 1952/3 gefordert oder vorgeschlagen. Eine Kopie ist aus vielen Gründen unmöglich: Weder hat Griechenland einen Krieg angezettelt und verloren, noch kann man derart hinter verschlossenen Türen verhandeln, wie dies Anfang der 1950er Jahre auch im Blick auf die deutsche Wiedergutmachung an den Staat Israel (gegen die öffentliche Meinung in beiden Ländern) geschehen konnte.10 Und ein Schuldenschnitt kann kein Abweichen von der Forderung nach inneren Reformen im griechischen Verwaltungsapparat bedeuten. Gleichwohl muss man die aktuellen Herausforderungen, also die Schulden Griechenlands, die historische Verantwortung Deutschlands und die aktuelle Mitverantwortung der internationalen Finanzmärkte und europäischen Banken in einen Verhandlungskontext neuen Typs einbetten. Dazu gehört der Erlass von Schulden und die Herstellung von Steuergerechtigkeit ebenso wie die Entrichtung von Reparationen und individuellen Entschädigungen.

Wind turbines on the Panachaiko, Greece. Photo: Koliri. Source:Wikipedia

Zwischen Griechenland und den EU-Ländern muss nicht nur rhetorische Entspannung eintreten, also das Gerede von den “faulen Griechen” und die Paranoia vom “Merkelismus” aufhören.11 Es geht um den Aufbau politischer und ökonomischer Beziehungen, die der griechischen Gesellschaft in Europa eine Zukunft geben. Wichtiger noch als die Aufarbeitung der Vergangenheit sind somit zukunftsweisende Investitionen in Bereichen alternativer erneuerbarer Energien, die Griechenland von Ölimporten entlasten, eine emissionsarme Reindustrialisierung erlauben und Exporte sauberen Stroms in die Balkanregion ermöglichen; und im Zusammenhang damit auch einen sanfteren Tourismus, eine umweltverträgliche Landwirtschaft und den Aufbau einer Wissensgesellschaft in Aussicht stellen.12

Zur Diskussion der These Nico Stehr, Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 2007; vgl. auch Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1988 und Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1978

David Graeber, Debt. The First 5000 Years, New York (Melville) 2011

Graeber, Schuld und Liebe, in: Der Spiegel 47/2001, S. 140, s. auch Georg Simmel, Gesamtausgabe in 24 Bänden, Band 6: Philosophie des Geldes, hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1987

Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 2006, S. 51

Claus Leggewie, "Es wird Zeit, Alarm zu schlagen", in: tageszeitung, 29. Januar 2015

Pierre Mallard, "The Gift revisited: Marcel Mauss on war, debt, and the politics of reparations", in: Sociological Theory, Volume 29, Issue 4, pages 225-247, December 2011

Constantin Goschler, "Schuld und Schulden", in: Süddeutsche Zeitung, 19. März 2015, S. 2, vgl. auch Gesine Schwan, Das reiche Deutschland wirkt peinlich, Spiegel Online 17. März 2015, www.spiegel.de/politik/deutschland/griechenland-schwan-fordert-entschaedigung-fuer-ns-verbrechen-a-1023956.html

Sloterdijk, Zorn, S. 53

Hagen Fleischer/Despina Konstantinakou, "Ad calendas graecas? Griechenland und die deutsche Wiedergutmachung", in: Hans-Günter Hockerts, Claudia Moisel, Tobias Winstel (Hrsg.): Grenzen der Wiedergutmachung: Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa, Göttingen (Wallstein) 2006, S. 375-457; Dan Diner, Rituelle Distanz: Israels deutsche Frage, München (Deutsche Verlags-Anstalt) 2015

So die wechselseitige Verabredung beim Antrittsbesuch des griechischen Premierministers Tsipras bei Bundeskanzlerin Merkel am 23. März 2015 in Berlin

Näheres Claus Leggewie, Zukunft im Süden. Wie die Mittelmeerunion Europa wiederbeleben kann, Hamburg 2012, s. auch www.eurozine.com/articles/2011-11-02-leggewie-en.html

Published 2 April 2015
Original in German
First published by Eurozine (English and German versions)

© Claus Leggewie / Eurozine

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