Händeschütteln mit der Geschichte

Literary Perspectives

Am Rande der Verhandlungen zum nordirischen Karfreitagsabkommen im Jahr 1998 sagte der damalige britische Premierminister Tony Blair: “Ich spüre die Hand der Geschichte auf unserer Schulter.” Zehn Jahre später hat die Provinzregierung tatsächlich die Amtsgeschäfte aufgenommen, dennoch scheint es, als bewege sich die Hand der Geschichte weitaus langsamer, als so mancher gedacht hatte. Natürlich wirkte die Aussage des Premiers auf unterschwellige Art ironisch; denn obwohl man sich auf die Geschichte berief, um langjährige Rivalitäten auszuräumen, war gerade in Nordirland die Geschichte selbst immer wieder das Problem. Die entsprechenden historischen Daten sind ins kollektive Gedächtnis eingebrannt – 1690, 1798, 1916, der 12. Juli, Ostern1. Man könnte meinen, dass sich in Nordirland abspielt, was Stephen Dedalus in Ulysses (1922) in seinem berühmten Ausspruch beschrieb – dass die Geschichte ein Albtraum sei, aus dem es zu erwachen gelte.

Für die Kritikerin Edna Longley besteht eine der rückständigeren Eigenschaften der Nordiren in ihrer ungesunden Fixierung auf die Vergangenheit. Für eine auf das Erinnern versessene Gesellschaft, sagt Longley, wäre ein kleiner, kollektiver Gedächtnisverlust nicht das Schlechteste. Während Nordirland zögerlich die ersten Schritte ins neue Jahrtausend wagt, bleibt es Sache der nachrückenden Schriftstellergeneration, die Schrecken der jüngsten Vergangenheit aufzuarbeiten. Kaum im Widerspruch hierzu lässt sich feststellen, dass die zeitgenössische nordirische Literatur sich gleichzeitig durch besondere Lebendigkeit und Mut auszeichnet, mit der sie alle klischeehaften Erwartungen zurückweist, wie nordirische Literatur denn nun auszusehen habe. Im Hinblick auf die nordirische Gegenwartsliteratur zeichnet die Metapher vom “Händeschütteln mit der Geschichte” einen doppelten Bewegungsablauf nach: Man findet sich mit der Vergangenheit ab und befreit sich zugleich von ihrem ideologischen Ballast.

In der Vergangenheit hat sich gerade die Lyrik als nachhaltigste und bedeutendste Form des literarischen Umgangs mit den “troubles”2, der sektiererischen Gewalt in Nordirland, erwiesen. Der Norden hat mit einem zeitgemäßen literarischen Trend gebrochen, demzufolge nur der Romancier zu Ruhm und Ehren gelangt (Amis, Rushdie et cetera). Heaney, Longley und Mahon brachten den Ball in den 1960er-Jahren ins Rollen, in den 1980ern meldeten sich erstmals Muldoon, Carson und McGuckian zu Wort, Dichter, die gegen den Strom und im Kielwasser ihrer berühmten Vorgänger schwammen und schrieben. Das Jahrzehnte andauernde Kritikerlob lässt vermuten, die Gewalt schade zwar der nordirischen Gesellschaft, der nordirischen Lyrik jedoch nicht notwendigerweise. Ein etwas umsichtigerer Ansatz würde berücksichtigen, dass die Chancen der Literatur steigen, wenn die offizielle Erzählung darin scheitert, Erklärungsmuster für die gesellschaftliche Situation zu liefern. Das Gedicht ist immerhin eine ganz besondere Ausdrucksform und in der Lage, eine Art von Wahrheit auszusprechen, die in anderen Diskursen verschleiert, übergangen und nicht ausgesprochen wird.

Im Laufe der letzten Jahre hat sich eine neue Dichtergeneration mit zunehmender Schärfe und Lebendigkeit Gehör verschafft. In den 1970er-Jahren geborene Autoren und Autorinnen wie Alan Gillis, Leontia Flynn, Nick Laird, Sinéad Morrissey und Colette Bryce wuchsen inmitten der alltäglichen Wirren des Nordirlandkonflikts auf. Man muss sich an dieser Stelle vor irreführenden Verallgemeinerungen hüten, denn die Unterschiedlichkeit der poetischen Ansätze und die Vielfalt der Themen verbieten es, über diesen Werkkomplex pauschale Urteile abzugeben. Die nach dem Karfreitagsabkommen erschienene Lyrik widerlegt jedoch alle abwertenden Interpretationen, die der nordirischen Literatur unterstellen, effekthascherisch und kunstlos vom Leben abgekupfert zu sein, weil der Dichter das lyrische Moment ausschließlich aus der Gewalt in seinem unmittelbaren Umfeld bezieht. Bereits im Jahr 1994 fragte Francie Cunningham: “Was wird mit den vielen nordirischen Schriftstellern passieren, jetzt, wo die Waffenruhe ausgerufen wurde? Woher sollen sie nun ihr Material nehmen?”3. Derartige Befürchtungen zeugen von einem literaturkritischen Reduktionismus, von intellektueller Bequemlichkeit und von einer Denkweise, die sich an Abkürzungen orientiert. Die nordirische Literatur hat sich nie in der Beobachtung oder Verarbeitung von politisch motivierter Gewalt erschöpft.

Somebody, Somewhere (“Irgendwer, Irgendwo”; The Gallery Press 2004) lautet der Titel des ersten Gedichtbandes von Alan Gillis. Der in Belfast geborene Autor ergötzt sich an Verfremdungen und fordert den Leser dazu auf, in Frage zu stellen, was er bislang für sicher hielt. Gillis’ Gedichte feiern die unausweichliche Entropie einer Kultur nach der Jahrtausendwende, in der Yeats, Rilke und keltische Sagen auf Elvis, Guinness und Star Wars treffen. Das Eröffnungsgedicht des Bandes, “The Ulster Way” (“Der Ulster-Weg”), bezieht sich auf den 900 Kilometer langen Wanderpfad entlang der nordirischen Grenze. Gleich zu Anfang weist das Gedicht all jene Naturidealisierungen zurück, die der Ulster Way mittlerweile symbolisiert.

Hier geht es nicht um Bächlein und Hecken.
Es gibt keinen Ginster. Sie werden nicht
die unaufhörliche Fotosynthese bemerken
oder die tausend Finger des toten Baums,
die Unmenschlichkeit des Stammes, gekrümmte Struktur,
während Sie auf keinen Ackerboden treten.

Der Rhythmus des Gedichts erinnert in seiner beschwörungsformelhaften Ablehnung der freien Natur an Gil Scott Herons “The revolution will not be televised”. Gleichzeitig kann man den Text als eine Abkehr vom ländlichen Imperativ lesen, der in der Vergangenheit einen großen Teil der nordirischen Lyrik bestimmt hat.4 Erinnerungen an die heilige Kuh der nordirischen Lyrik werden wach, an Seamus Heaney und Gedichte wie “Graben” oder “Mossbawm”. Gillis’ Gedichte sind viel stärker von Rap und neuen Beats beeinflusst als von der Belfaster Gruppe. Die metaphysischen Naturbeschreibungen des Gedichts schwelgen im Gefühl der Nachäffung, sie sperren sich gegen die stereotype, abgedroschene Wahrnehmung des irischen Nordens.

Obwohl “The Ulster Way” einen Spaziergang heraufbeschwört, einen zu erlaufenden Weg, vermittelt er auch einen bestimmten Weg der Wahrnehmung, einen Blickwinkel, der ausgesprochen eigen und einheimisch ist. Dem Ulster Way zu folgen bedeutet auf gewisse Weise, einer Grenze nachzuspüren. In ähnlicher Manier stärkt und entfesselt die organische Zwangsläufigkeit, die in vielen nordirischen Texten eingeschlossen liegt, neue Möglichkeiten, über Nordirland zu denken und zu schreiben. Gillis’ Text ist feierlich insofern, als das er die Willkürlichkeit der ideologischen Grenzen bloßstellt. Er ist bemüht, einige der Unterstellungen/Vorstellungen auszuräumen, die typisch sind für die bequeme Konstruktion der nordirischen Identität. Das Gedicht verlangt von uns, allgemein akzeptierte literarische Mythen zu überdenken und zu hinterfragen, es fordert einen Neuanfang ein, unbelastet von der vertrauten, aber mittlerweile erschöpften Rhetorik – “All das ist in deinem Kopf. Wenn du gehst / dann geh nicht weg (…) Es gilt, anderen Pfaden zu folgen. / Alles dreht sich um dich. Hör zu.” In letzter Konsequenz ist vielleicht genau das der wahre “Ulster Way” – eine Herausforderung, ein Wettkampf und ein Kräftemessen, eine Anforderung also, die dem nordirischen Kontext bemerkenswert angemessen scheint. Somebody, Somewhere wartet mit einer ganzen Reihe von Antworten auf die in “The Ulster Way” aufgeworfenen Fragen auf. Der Band beschäftigt sich mit der urbanisierten, technologisierten Landschaft, mit Musik, mit den stillgelegten Individuen im Nordirland des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Auf diese Weise entlässt es die Region aus jenen Falschinterpretationen, die den Norden als Sammelpunkt des Anormalen auffassen, und stellt ihre Geschichte wieder in Bezug zu den zahlreichen anderen Erzählungen, die das Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert hervorgebracht hat.

Nick Lairds lyrisches Debüt mit dem Titel To a Fault (“Dass es nicht mehr schön ist”, 2005) weist einen ähnlichen Hang zum ikonoklastischen Revisionismus auf. “Nacherben” bringt eine Art Entfremdung zum Ausdruck, eine spirituelle Distanzierung von jenen, die zurückgeblieben sind und sich in den mit aller Macht zu verteidigenden Positionen der nordirischen Politik eingerichtet haben.

Es gibt andere, die wissen, was es heißt
zu verlieren, Bilder vom Norden zu behalten
so einzigartig brutal, dass die Welt
auf ewig überfrieren mag.

Jemand hat sie fast schon aufgeschrieben,
die letzten fünfzig Jahre unserer Sprache,
und nicht ein einziges Mal
das Wort traurig gebraucht

oder Shift gedrückt, um jenes Zeichen zu setzen,
das das Ende einer Frage markiert.

Die Reaktion gegen solche Abschottungsversuche ist einer der Gründe für die Bereitwilligkeit, mit der zeitgenössische nordirische Autoren sich Konzepten von Flux und Flüchtigkeit verschreiben. Die Zwischenräume werden zum Rückzugsgebiet einer selbstreflexiven und höchst ich-bewussten Poesie. Lairds “Nacherben”, gefangen in der Tiefkühltruhe der alten Vorurteile, sind der Nachhall von Yeats’ “Ostern 1916”. Abkommen sind unterzeichnet, das Rad der Geschichte weitergedreht worden, aber für einige klingt das Wort “Fortschritt” immer noch wie ein Bannfluch. Der Titel von Lairds Gedichtband “Dass es nicht mehr schön ist” spielt auf eine umgangssprachliche Wendung an – so großzügig, dass es nicht mehr schön ist. Seine Lyrik bewohnt jenen Raum, wo die binären Gegensätze der moralischen Konventionen nicht mehr greifen, wo Schwarz und Weiß zu Grau verlaufen und die Welt sich als viel komplexer und verzweigter erweist, als es die aus Stammesdenken konstruierten Identitäten erlauben. Das kürzlich durch einen Schuss ins Knie verletzte Gewaltopfer5 liegt im Krankenhausbett und schaut aus dem Fenster, vor dem sich zwei Kräne langsam über Belfast drehen. Während der Wiederaufbau der Stadt beginnt, erteilen die Baumaschinen den unten Lebenden ihren stillen Segen.

In Nordirland bestand die gängigste und einfachste Methode, der Hand der Geschichte zu entkommen, immer schon in der Auswanderung. Die Emigration bleibt ein überraschend selten untersuchter Aspekt des Nordirlandkonflikts. Die neue Generation nordirischer Dichter legt in ihren Texten eine gesteigerte Sensibilität für das Anderswo an den Tag. Alan Gillis lebt zurzeit in Edinburgh, die in Derry geborene Colette Bryce lebte in London und seit kurzem in Dundee, während Nick Lairds Reise ihn von Tyrone nach Rom geführt hat, mit Abstechern nach Oxford und London. Diese Entwurzelungen spiegeln sich in einem großen Teil der zeitgenössischen Lyrik wider. Das Titelgedicht aus Colette Bryces zweitem Gedichtband The Full Indian Rope Trick (“Der indianische Seiltrick”, 2004), ist eine Meditation über das Verschwinden und über das überwältigende Verlangen, der klaustrophobischen Enge des Kleinstadtlebens zu entkommen. Auf dem Guildhall Square in Derry markiert ein rätselhafter Zaubertrick vor den Augen der umstehenden Passanten den Beginn einer gleichermaßen spirituellen wie körperlichen Reise.

Da waren Mauern, Glocken, Leute stehn;
ein geworfenes Seil, der Himmel hielt es kühn
und ich, noch jung, rauf und weg,
auf Wiedersehn.

Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn.
Dünne Luft. Versuch zu gehn.
Die Menge verstummt, Augen blinzeln
in die helle Sonne. Da
auf den Steinen
das schlaffe Gewicht von Seilen

aufgewickelt im Topf, ein Zopf,
achtzehn Sommer lang,
und ich –
ich bin längst weg,
mein Einmaltrick
ein Unikat und seither unerreicht.

Obwohl sie einen festen Bestandteil der Literatur des Nordirlandkonfliktes bilden, sind Reisen und das Erkunden fremder Orte kein spezifisch nordirisches Phänomen. Solche Themen konstituieren eine neue, globalisierte Existenz, deren Mobilität existenzieller Bestandteil des modernen westlichen Lebensstils ist.

Das Reisen unterfüttert auch einen großen Teil des Werks von Sinéad Morrissey. 1972 in Portadown geboren, arbeitete und lebte Morrissey in Neuseeland und Japan, bevor sie nach Belfast zurückkehrte. Das japanisch inspirierte Goldfish (“Goldfisch”) begibt sich spielerisch auf das Terrain des Zen-Koan, und die Erzählstimme kommt an einem Ort zur Ruhe, “wo man mit geschlossenen Augen sieht”. “In Belfast”, ein Gedicht über die Heimkehr der Autorin, ist ebenfalls deutlich von dieser Erfahrung geprägt. Die Rückkehr wird als ruhige, leidenschaftslose und konditionierte Handlung dargestellt: “Ich bin hier / so zu Hause, wie ich es jemals sein werde.” Auch Leontia Flynns These Days (“Dieser Tage”, 2004) kommt mit einer überbordenden Sensibilität und Austariertheit daher, wie sie unter dem Einfluss der magnetischen Kräfte der vertrauten Perspektive niemals zu erreichen wären. Industrieanlagen, das Familienleben und der Alkohol sind das Rohmaterial der “alltäglichen Geistesblitze”, die charakteristisch für Flynns Werk sind. In ihren Gedichten halten sich Humor und Einsicht die Balance, darüber hinaus zeugen sie von bemerkenswertem handwerklichen Geschick. “FÜR STUART, DER VERSEHENTLICH EINEN JOB BEI DER BEHÖRDE BEKAM” ist nur ein Beispiel:

In meinem Tagebuch steht 6. Mai
Und ein schöner Abend. Wir gehen schweigend
Zu mir nach Hause. Es gibt Beileidsbekundungen;
Wir sitzen rum wie bei einer Totenwache,
Irgendwer spricht von Kafka.

Du erklärst was über deine Mutter.
Vorübergehend, ich sag’s dir, nur vorübergehend …
Das Abendlicht und ein Funke, gefallen
Von deiner Zigarettenkippe in den Wollpullover
Auf dein wildes Herz, langsames Sterben.

Im Gegensatz zur Lyrik genießt der nordirische Roman als literarisches Genre weniger hohes Ansehen. Patricia Craigs Vorwort zu einer Anthologie nordirischer Prosa mit dem Titel The Rattle of the North (“Der Klang des Nordens”, 1992) ist halb Warnung, halb Entschuldigung: “[E]s ist allzu bekannt, dass die Lebensbedingungen in Nordirland seit der Zeit der großen Umsiedlungen alles andere als beständig genug waren, um der literarischen Produktion förderlich zu sein, und dass sich ganz besonders die Entwicklung des Romans aus diesem Grund verzögerte.”6 Wenn der Roman, wie Benedict Anderson bemerkt, in historischem Zusammenhang zur mythischen Erzählung und dem Selbstbild einer Nation steht, überrascht es vielleicht nicht, dass dieses Genre auf dem unsicheren und umkämpften nordirischen Boden nicht gedeihen konnte. Obwohl der nordirische Roman in der Vergangenheit eine gefährdete und eingeschränkte Form war, gibt es ein zweites, oftmals übersehenes Genre, das eine Alternative des literarischen Ausdrucks bietet – die Kurzgeschichte. Vielleicht erinnert sich mancher noch an den irischen Schriftsteller Frank O’Connor, ein Virtuose dieser Form, der überzeugt war, die Kurzgeschichte eigne sich in krisengeschüttelten, chaotischen und zerfallenen Gesellschaften als das passendste Genre. Der Kritiker Charles E. May schlägt einen brauchbaren theoretischen Rahmen vor, innerhalb dessen sich die Kurzgeschichte und ihre Bedeutung für die zeitgenössische nordirische Literatur neu betrachten lassen: “Obwohl sich die allgemein akzeptierte Aussage, die Kurzgeschichte als eigenständiges Genre sei eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts, nicht ganz von der Hand weisen lässt, sind die Quellen dieser literarischen Form so alt wie das Reich der primitiven Mythen. Anthropologische Studien legen nahe, dass es sich bei kurzen, episodenhaften Erzählungen – die Grundlage einer jeden Kurzgeschichte – um ein ursprüngliches Phänomen handelt, das den späteren, epischen Formen – der Grundlage des Romans – vorausging.”7

Die Kurzgeschichte, alles andere als zweitrangig, wird hier als erzählerische Urform betrachtet. Sie ist destilliertes Erzählen. In ihrer Knappheit und mit ihrer Tendenz, den Fokus auf ein einziges Ereignis zu richten, weist die Kurzgeschichte bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit unserer alltäglichen Kommunikation auf. Sie vermittelt ein Gefühl der Unmittelbarkeit und hat einen, wenn man so will, demokratischen Unterton. Gerade das elliptische Wesen der Kurzgeschichte weist ihr im Verständnis der gelebten Realität des Nordirlandkonflikts eine grundlegende Bedeutung zu. Seit den 1970er-Jahren hat Bernard MacLaverty die ästhetischen Möglichkeiten der Kurzgeschichte und ihre Abhängigkeit von den Alltagserfahrungen der nordirischen Bevölkerung immer wieder ausgelotet. MacLaverty war ein Gründungsmitglied der Belfaster Gruppe der 1960er-Jahre; seine jüngste Veröffentlichung Matters of Life and Death (“Fragen von Leben und Tod”, Cape 2006) beinhaltet eine Geschichte mit dem Titel “Im Kreisverkehr”, die nach Aussage des Autors vielleicht letzte Erzählung, die er in direktem Bezug auf den Nordirlandkonflikt geschrieben hat.

Seamus Heaney hat die sektiererischen Loyalitätsbestrebungen Nordirlands in einem berühmten Ausspruch als einen Haufen “anachronistischer Passionen” bezeichnet. Dieser Satz unterstellt der Kultur, in gewisser Hinsicht von der Geschichte vergessen worden zu sein. Der Norden war vom Pfad des Fortschritts abgekommen und hatte sich in einem Teufelskreis aus Misstrauen und gegenseitiger Zerstörung verfangen. Dieses Gefühl des Festsitzens fängt MacLavertys Erzählung “Im Kreisverkehr” ein. Sie beginnt mit dem alltäglichsten aller Bilder – ein Ehemann, eine Ehefrau und zwei kleine Kinder fahren zurück nach Belfast. Die aus der Sicht des Ehemanns geschilderte Geschichte kommt in einem beiläufigen, umgangssprachlichen Ton daher. Als sich die Familie dem Kreisverkehr am Ende der Autobahn nähert, entdeckt sie einen Tramper, der von Männern der Ulster Defence Association (UDA) zusammengeschlagen wird. In einer verstörenden Wendung zieht jemand einen Hammer heraus und “haut ihn dem Typen, der trampen wollte, ins Gesicht”. Der von Panik und Wut ergriffene Ehemann lenkt den Wagen auf den Seitenstreifen und fährt auf die Männer zu. Er lädt den Tramper ins Auto, während die Angreifer lachend danebenstehen. Auf dem Rücksitz des Autos verliert der Tramper immer wieder das Bewusstsein. Aus seinem Mund quillt schwarzes Blut, und an seiner Schläfe klafft “ein Loch von der Größe einer Zehnpencemünze”. Der Vater rast durch den Kreisverkehr und bringt den Mann ins nächste Krankenhaus.

MacLaverty beginnt hier mit einem ganz normalen Tag und beobachtet, wie er sich urplötzlich in ein Horrorszenario verwandelt. Die knappen und unumwundenen Beschreibungen von MacLavertys Prosa erreichen in diesen Momenten eine Übelkeit erregende Intensität. Im Krankenhaus versucht der Vater, seinen Namen anzugeben, aber weder die Ärzte und Krankenschwestern noch ein anwesender britischer Soldat sind daran interessiert. Die Vorstellung, im Zeugenstand der UDA entgegentreten zu müssen, kühlt den Zorn des Vaters schnell ab: “Wir haben deine Personalien, wir kennen deine Familie.” Einige Wochen später erscheint in der Zeitung ein Dankesbrief des Trampers an den “guten Samariter”, der ihm in jener Nacht zu Hilfe kam. Die Geschichte endet mit den Sätzen: “War das nicht gut von ihm? Die Geschichte zu erzählen.”

“Im Kreisverkehr” wird zum Symbol für das metaphysische In-der-Falle-Sitzen, für den unentrinnbaren Teufelskreis der Gewalt, der das Leben im Norden während der Konflikte bestimmte. Im Krankenhaus wird die Gewalt als so gewöhnlich empfunden, dass für die Einzelheiten der persönlichen Geschichten kein Raum mehr bleibt. Der Konflikt ist zur Ein-Wort-Phrase geworden, die das Individuum und die Einzigartigkeit persönlicher Erfahrungen ignoriert. “Im Kreisverkehr” ist eine Geschichte über Geschichten. Sie beteuert die moralische Notwendigkeit, die individuellen Geschichten trotz allem zu erzählen. Allein zu sagen: “Es ist passiert” ist von fundamentaler Bedeutung, denn der Sprechakt selbst wird zu einer Entgegnung auf die Gewalt. Vielleicht lässt sich aus diesem Grund verstehen, warum ein Buch mit dem Titel Lost Lives (“Verlorene Leben”, 1999) einer der populärsten Texte war, die aus den Wirren des Nordirlandkonflikts heraus entstanden. Wie der Titel schon andeutet, geht es hier um die individuellen Schicksale jener 3600 Männer, Frauen und Kinder, die während der Konflikte ihr Leben ließen. Das Buch meidet die üblichen Politisierungen und stellt eine Art Protokoll dar, es legt Zeugnis ab im Sinne der Opfer des Konflikts. Auf ähnliche Weise stellt auch das Werk von Bernard MacLaverty einen wichtigen Bestandteil der künstlerischen Antwort auf die Gewalt in Nordirland dar, und als solche verdient sie der weiteren, tiefer gehenden Analyse.

Als er gefragt wurde, was das Leben während des Nordirlandkonflikts geprägt habe, antwortete der Dichter Ciaran Carson: “Ich habe mein gesamtes Leben in Belfast zugebracht, trotzdem hätte ich Ihnen nicht auch nur ansatzweise erklären können, was vor sich geht. Ich kann nicht mehr tun, als Geschichten zu erzählen.”8 Das Geschichtenerzählen nicht aufzugeben, ob als Prosa oder Poesie, bleibt für die nordirische Gesellschaft einer der wichtigsten Ansatzpunkte, will sie die Hand der Geschichte schütteln. Gespannt und voller Vorfreude werden wir auch in Zukunft beobachten, wie sich dieser Prozess entwickelt.

1690 -- Die Schlacht am Boyne zwischen dem abgesetzten englischen Katholikenkönig James II. und dem Protestanten William of Orange, die mit einem Sieg für Letzteren endete; 1798 -- Rebellion der Iren, niedergeschlagener antibritischer Aufstand; 1916 -- Osteraufstand, eine anti-britische, republikanische Rebellion in Dublin; 12. Juli -- Datum der Schlacht am Boyne, derer die nordirischen Protestanten gedenken; Ostern -- Jahrestag der Osteraufstände, derer die nordirischen Katholiken gedenken.

"The troubles" -- umgangssprachlicher Ausdruck für den Nordirlandkonflikt. Wespennestredaktion

Francie Cunningham: "Writing in the Rag and Bone Shop of the Troubles" ("Schreiben im den Trümmern des Nordirlandkonflikts"), The Sunday Business Post, 11. September 1994, S. 24.

Vgl. Aaron Kelly: The Thriller and Nothern Ireland since 1969: Utterly Resigned Terror ("Der norirische Thriller seit 1969: Dem Terror ganz und gar ergeben"), Hampshire: Ashgate 2005.

Die Standard-"Bestrafung" für Verräter und andere Abweichler durch IRA und UDF beinhaltete oftmals einen Schuss ins Knie des Opfers. (Wespennestredaktion)

Patricia Craig (Hg.): The Rattle of the North: An Anthology of Ulster Prose ("Der Klang des Nordens: eine Prosa-Anthologie der Provinz Ulster"), Belfast: Blackstaff Press 1992, S. 1.

Charles E. May: The Short Story: The Reality of Artifice ("Die Kurzgeschichte: Realität des Künstlichen"), London und New York: Routledge 2002, S. 1.

Ciaran Carson im Gespräch mit Rand Brandes, Irish Review Nr. 8 (1990).

Published 2 September 2008
Original in English
Translated by Eva Bonné
First published by Wespennest 152 (2008) (German version)

Contributed by Wespennest © Matt McGuire / Wespennest / Eurozine

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Read in: EN / TR / DE / LT / HU

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