Glaubensgemeinschaften zwischen nationalen Staatskirchen und globalen Religionsmärkten

Zur Regulierung religiös motivierter Konflikte - im Blick auf die Muslime in Deutschland

 

Muslime im Westen

Die Islam-Konferenz, deren zweite Sitzung am vergangenen Mittwoch stattfand, ist glücklich gescheitert. Gescheitert ist der Versuch, den Islam in Deutschland zu offizialisieren, ihm also den Rang einer Quasi-Kirche zuzubilligen nach dem Muster des Zentralrats der Juden in Deutschland, dem diese Bedeutung wiederum nach dem Vorbild der christlichen Kirchen zuteil wurde. Das Staats-Kirche-Verhältnis legt dergleichen nahe, aber was schon bei den Juden sichtbar wurde – Zweifel an der Repräsentativität ihrer Sprecher –, potenziert sich bei den islamischen Gemeinden, die noch heterogener sind und kirchliche Organisation nicht kennen. Diversität und Organisationsferne der Muslime sind weder von oben, durch den deutschen Staat, noch aus ihrer Mitte heraus zu überwinden; der “Ansprechpartner”, mit dem man Bildung, Soziales und nicht zuletzt Sicherheit verabreden kann, läßt auf sich warten.

Glücklich gescheitert, also halbwegs gelungen, ist das Experiment genau deswegen, weil die Muslime nicht mit einer Stimme sprechen müssen und sie von ihrer Umwelt nicht länger zum monolithischen Feind- oder Freundbild (“Mekka Deutschland”) stilisiert werden können. Jetzt zeigt sich die religiös-theologische, weltanschaulich-politische, lebensweltlich-soziale und ethnisch-nationale Vielfalt der Muslime und, wichtiger noch: die rege innermuslimische Debatte vereitelt forsche Vereinnahmung durch konservative, national-türkische und geschlechterpolitisch reaktionäre Kräfte. Diese sollen nicht die Körperschaft öffentlichen Rechts dirigieren, die der deutsche Staat und die organisierten Muslime anstreben, um die überfällige rechtliche Gleichstellung des Islam in Deutschland zu verwirklichen; auch auswärtige Instanzen – der türkische Staat, ägyptische Bruderschaften oder saudische Finanziers – müssen zurückstehen, wenn ein europäischer Islam Gestalt annehmen soll.

Wie viele Muslime überhaupt in Deutschland leben, ist die erste Streitfrage, genauer: wer darüber zu befinden hat. Antworten geben eine demografische Hochrechnung, eine interessengeleitete Selektion und eine kulturelle Hypothese. Die Hochrechnung summiert alle Einwanderer aus islamischen Gesellschaften als Muslime; das sind bald vier Millionen, darunter zunehmend eingebürgerte und konvertierte Deutsche. Wer so zählt, macht den Islam zur alsbald zweitgrößten Religionsgemeinschaft in Deutschland. Diese Größenordnung kommt islamischen Verbänden gelegen: Obwohl sie, dank ihrer eigenen selektiven Auslegung von Zugehörigkeit, maximal 300.000 Personen vertreten, beanspruchen sie stets, für Millionen zu sprechen. Diese angemaßte Verbandsmacht sprechen ihnen einfache und prominente Muslime in wachsender Entschiedenheit ab, gegen den Alleinvertretungsanspruch setzen sie die kulturelle Hypothese: Wer Muslim und Muslima ist, bestimmt weder die Abstammung noch eine engstirnige Theologie, sondern jeder und jede Einzelne für sich. Die wenigsten, die sich vor dem Migrationshintergrund familiärer Erinnerung als “Kultur-Muslime” fühlen, gehören einem Moscheeverein an oder praktizieren die “fünf Säulen und sechs Glaubensartikel”, die der jüngst gegründete “Koordinierungsrat der Muslime” (KRM) litaneiartig zum Kriterium von Zugehörigkeit erhebt.

Dieses konservativ besetzte Gremium wurde aus vier auch in der Islam-Konferenz tonangebenden Dachverbände gebildet, deren Ausrichtung man so skizzieren kann: Am stärksten ist Ditib, der Ableger des türkischen Religions-Amtes, ein vormals säkular ausgerichteter Vertreter Ankaras, dessen theologisch-moralische Haltung indessen ländlich-konservativ ist; Ditib bestellt die meisten Vorbeter, die bisher meist weder der deutschen Sprache mächtig noch mit der hiesigen Gesellschaft vertraut waren. Der vom Kemalismus verfolgte Islam türkischer Provenienz sammelte sich im Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), ein Ausfluß jener Kultur-Vereine, die die erste Gastarbeiter-Generation in Ermangelung eines politischen oder religiösen Mandats ins Leben gerufen hat. Städtisch-modern und ganz auf Einbürgerung in Deutschland ausgerichtet, ist der ebenfalls von türkischen Muslimen geführte Islamrat, bei dem die fundamentalistische (vom Verfassungsschutz beobachtete) Milli Görüs-Vereinigung den Ton angibt; sie gibt sich grundgesetztreu und ist, dank ihrer Expertise in Rechtsfragen, Vorkämpfer des islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen. Zentralrat der Muslime heißt schließlich, nach jüdischem Namensvorbild, ein multinationaler Zusammenschluß von Muslimen mit überwiegend arabischem Hintergrund, der sich hartnäckig gegen Koedukation stellt und Positionen der ägyptischen Moslem-Bruderschaften Raum gibt, aber den “Mainstream-Islam” vertreten will.

In diesem Hauptstrom wären weder die Aleviten, eine in Deutschland stark vertretene religiöse Minderheit vertreten, noch Schiiten und Ahmadiyya-Muslime; auch haben die Dachverbände keine Kontrolle über den radikalen Islamismus, der vor allem das Internet als dschihadistische Propagandaplattform nutzt. Gegen die Vorherrschaft der Frommen aller Richtungen hat sich die “schweigende Mehrheit” gemeldet und prominente Sprecherinnen gefunden, die sich als Gelegenheits-, Ex- und Nicht-Muslime deklarieren und die konservative Lobby herausfordern. Eine Stimme bekommen haben die säkularen Kräfte, die den Eigensinn der weltlichen Sphäre und der Politik respektieren, nicht zuletzt durch die Einrichtung der Islam-Konferenz und ihr Medienecho.

Am Tisch sitzen sie dort als argwöhnisch beäugte “Medien-Prominente” , doch sie können drei wichtige Voraussetzungen für die Ankunft und Verankerung des Islam im Westen benennen. Die erste lautet: Aus dem Islam darf man austreten wie aus jeder anderen Religionsgemeinschaft, es darf keine religiöse Sippenhaft geben. Die Essenz von Säkularisierung (und letztlich die Garantie religiöser Autonomie) liegt in der Anerkennung pluralistischer Gesellschafts- und Religionsverhältnisse, was konkret auch negative Religionsfreiheit und individuelle Religionswahl bedeutet. Religionsgemeinschaften, die das ihren Mitgliedern de jure oder de facto verweigern, sind ebenso erbärmlich wie ein Glaube, der sich gegen Kritik, selbst wenn sie in blasphemischer Weise vorgetragen wird, nur mit Larmoyanz und Aggressivität zur Wehr zu setzen weiß wie im “Karikaturenstreit” . Zugespitzt gesagt: das Reifezeugnis für multireligiöse Gemeinwesen ist die Fähigkeit, Glaubenszweifel, Kritik und sogar Beleidigungen souverän auszuhalten.

Zweitens ist die durch konservative Theologen propagierte oder hingenommene Unterdrückung muslimischer Mädchen und Frauen nicht aus dem Koran abzuleiten; folglich dürfen Gerichte und Gesetzgeber sie nicht als Entscheidungsgrundlage nehmen, ebensowenig die Diskriminierung von Homosexuellen. Die Hauptdifferenz zwischen dem Westen und islamischen Gesellschaften liegt nicht im Verhältnis zu Demokratie und Bürgergesellschaft, sondern in der obstinaten Frauendiskriminierung und Homophobie, für die der Koran als Quelle zitiert wird. Es ist noch nicht gelungen, eine aus obskuren patriarchalen Stammesgesellschaften schöpfende Tradition zu zivilisieren, wie es anderen Religionsgemeinschaften (gegen ähnlichen Widerstand) möglich war. Nur in dieser Verwechslung von religiösen Werte und patriarchaler Macht sind unhaltbare Praktiken wie Zwangsheiraten und Ehrenmorde möglich.

Als Konsequenz folgt drittens: Allgemeine Menschen- und Bürgerrechte rangieren stärker als bisher vor religiös begründeter Toleranz diesbezüglicher Einschränkungen in Familie, Schule und Arbeitswelt, die den Alltag von Einwanderungsgesellschaften beherrschen (Verschleierung, Schächten, Sportunterricht, Sexualkunde etc.) Das Grundgesetz bricht fragwürdige familien- und zivilrechtliche Importe aus türkisch-arabischen Gesellschaften, Schulpflicht und Bildungsrecht beschneiden den namens der Religionsfreiheit erstrittenen Raum für Ausschlüsse von Mädchen und jungen Frauen und für eine generelle Sanktionierung abweichenden Verhaltens.

Mixed Governance: zur Regulierung transnationaler Religionskonflikte

Dass die konservative Islam-Lobby sich derart in den Vordergrund spielen konnte, hängt allerdings mit hausgemachten Problemen des deutschen Staatskirchenrechts zusammen, das auf den einwanderungsbedingten Wandel der Religionslandschaft nicht eingestellt war und im Analogieschluß zur Sonderrolle der christlichen Kirchen auf eine zentrale Instanz fixiert ist. Zwei Eigenheiten der alten Bundesrepublik kommen hier zusammen: die anachronistische Symbiose von Staat und Kirche und die problematisch gewordene Konfliktregulierung durch organisierte Interessen. Wer nicht bereit war, die Privilegierung der christlichen Kirchen zu relativieren, mußte nicht-christliche Religionsgemeinschaften nolens volens aufwerten. Wenn nun der Koordinierungsrat eine ganz unislamische Selbstverkirchlichung des Islam betreibt, ergreift er nur die vom Staatskirchenrecht gebotene Gelegenheit. Der deutsche Staat war ein Geburtshelfer des organisierten Islam, den er nach dem Modell von Tarifverhandlungen oder Kernenergie-Dialogen in ein neokorporatistisches Gefüge einbaut – beim staatlich unterstützen interreligiösen Dialog und nun sogar als Mediator innermuslimischer Divergenzen.

Die konservativen Großverbände haben den Verbändestaat begriffen und sich “germanisiert”. Nun zeigt Dissens der säkularen Muslime allerdings, dass sie keine “Durchgriffsmöglichkeiten” auf die von ihnen reklamierten Mitglieder besitzen, um als Ansprechpartner effektiv wirken zu können. Integration und Gleichstellung des Islam müssen auf breiterer und pluralistischer Basis erfolgen. Je vielstimmiger der Islam auftritt, desto besser, und man wird sich daran gewöhnen müssen, dass Muslime laut, sichtbar und politisch auftreten. Wer nicht-christliche Religionsgemeinschaften gleichstellen will, muß eine behutsame Revision des Verhältnisses von Religion und Politik in Deutschland vornehmen und die “religiös-christlich-großkirchliche Schlagseite” (Ulrich Willems) beseitigen. Dazu trägt schon die Globalisierung bei, die auch die religiösen Verhältnisse zum Tanzen bringt. Glaube und Gläubige haben noch nie an Schlagbäumen und Sprachgrenzen haltgemacht, aber organisierte Religionen haben sich erfolgreich “nationalisiert” : An diese Territorialisierung der Bekenntnisse war die neuzeitliche Souveränitätsformel gebunden, die vom Augsburger und Westfälischen Frieden bis ins 20. Jahrhundert bestimmend blieb.

Wir sind unterdessen jedoch ins “postwestfälische Zeitalter” eines globalisierten Religionsmarktes eingetreten. Der Weltmarkt verflüssigte alle territorialen Grenzen und Arbeitsemigranten mit religiösem Gepäck bildeten Diaspora-Gemeinschaften, die sich im Fall des Islam nun zunehmend als Teil einer grenzenlosen ‘umma betrachten und Loyalitäten ausbilden, die weder einem bestimmten Herkunftsland noch einer “ultramontanen” Kirche gelten. Für Europa ist die religiöse Transnationalisierung besonders gravierend, denn trotz der formalen Entflechtung von Politik und Religion hielten sich offene und versteckte Formen von Staatskirchen, die nun mächtig unter Druck geraten. Religion und (nationale) Kultur haben sich nicht nur bei Muslimen entkoppelt, evangelikale Sekten demonstrieren ihre globale, von ethnisch-nationaler Herkunft entbundene Präsenz besonders deutlich.

Warum ist nun allenthalben von der “Rückkehr des Religiösen” die Rede, wenn gleichzeitig über leere Kirchen und Priestermangel geklagt wird? Offenbar schreiten Säkularisierung und Entsäkularisierung parallel voran, und zur Erklärung muß man drei Aspekte und zwei Pfade der Säkularisierung unterscheiden: Der europäische Pfad trennte (selbst im laizistischen Frankreich) Kirche und Staat eher halbherzig; christlichen Religionsgemeinschaften blieb das erwähnte Monopol religiöser Sammlung und Mobilisierung, an dessen Ende – nur scheinbar paradox – die umfassende Privatisierung der Religion und die weitgehende Entchristlichung Europas stehen.

Ganz anders Amerika: Die Trennmauer zwischen Religion und Politik wurde höher gezogen, aber Religiöses blieb im öffentlichen Raum und in der “Zivilreligion” präsent, die Varianz der Bekenntnisse wuchs ebenso wie die Zahl der Gläubigen. Auch hier läßt sich das Resultat besichtigen: Die amerikanischen Multi-Religiosität hat mehrere Wellen der Glaubensinfragestellung überstanden, sie durchdringt weiter das öffentliche Leben und prägt die allgemeine Sittlichkeit – ganz ohne “Staatsknete”.

Die Muslime in den USA haben sich alles in allem besser assimiliert als in Europa. Das liegt nicht nur daran, dass sie in der Regel sozial besser situiert sind; sie sind auch wie frühere Religionsimporte im “religiösen Supermarkt” (Ruthven) aufgegangen und haben sich darin “amerikanisiert” ; an Stelle des organisierten, hierarchischen Kirchenwesens, das ihnen das deutsche Staatskirchenrecht anbietet, paßten sie sich in das horizontal-egalitäre Sektenwesen Amerikas ein und in die für Europäer unübersichtliche, aber lebendig in lokalen Gemeinden verankerte Religionslandschaft.

Dieses Integrationsmuster scheint sich global auszubreiten, so dass eher West- und Mitteleuropa den Sonderweg beschreiten, den viele Religionssoziologen in der Nachfolge Max Webers für Amerika vorausgesehen haben. Wenn religiöse Globalisierung “Amerikanisierung” bedeutet, heißt das für die europäische Religionslandschaft:

(a) Die striktere Trennung von Staat und Kirche bei gleichzeitig ungenierter Präsenz vieler Religionen im öffentlichen Raum;
(b) die Erosion religiöser Oligopole zugunsten einer horizontalen, in der Struktur eher sektenartigen als kirchenförmigen Koexistenz von Religionsgemeinschaften;
(c) mehr Volksfrömmigkeit und damit eine intensivierte Ausübung der Religionen;
(d) bei gleichzeitiger Subjektivierung und Individualisierung der Religionspraxis und
(e) Chancen für politisierte Religionslobbies in der Innen- und Außenpolitik.

Religiöses durchwirkt heute innergesellschaftliche wie internationale Konflikte, und wiederum unterscheiden sich Amerika, Europa und der Rest der Welt darin, wie solche Konflikte “reguliert” werden: politisch-staatlich, gemeinschaftlich oder marktförmig. Hier liegt eine geschichtliche Pfadabhängigkeit vor: In Europa folgte aus der Erfahrung mörderischer Religionskriege für rivalisierende Religionsgemeinschaften mit ihren exklusiven Wahrheitsansprüchen die Anerkennung der Alleinzuständigkeit einer politischen Ordnungsmacht, also des Gewaltmonopols eines als territoriale Gebietskörperschaft verfaßten Staates.

Dagegen vertraute man in der “staatslosen Gesellschaft” jenseits des Atlantiks in Erfahrung religiöser Intoleranz und multireligiöser Einwanderung stärker auf den friedlichen Wettbewerb der Sekten. Frieden stiftet nicht der Hobbesianische Staat, sondern der Markt und die auf ihm getätigten Nutzenkalküle der Individuen, die sich zudem in lokalen Gemeinschaften zusammenschließen und ihre religiöse Identität pflegen. Dieser religiös fundierten Vergemeinschaftung kam in den USA die früh auf Wettbewerb getrimmte Religionsstruktur entgegen: Sekten können nicht über ihre Gläubigen verfügen, sie müssen um sie werben, die Gläubigen werden als autonome und eigensinnige Individuen angesprochen, die aus eigener Gewissensentscheidung zu ihrem Bekenntnis gelangen. Wo sie darüber hinaus wie Konsumenten behandelt werden, gibt es auch zwanglose Mission. Unkomplizierte, womöglich mehrfache Konversionen und ein blühender Mischmasch religiöser Versatzstücke gehören zu dieser offenen Religiosität.

Am stärksten prosperieren auf den globalen Religionsmärkten neben esoterisch-spirituellen Strömungen evangelikale Freikirchen und charismatische Pfingstler-Bewegungen, die den Mainline-Protestantismus in den USA überholt haben und sich auch im katholisch geprägten Lateinamerika, in Westafrika im Wettstreit mit der Reislamisierung, im “heidnischen” postsowjetischen Osteuropa und in ganz Asien ausbreiten. Die erstaunliche Anschlußfähigkeit der Pentecostalists hängt damit zusammen, dass sie die religiöse Praxis von “kalt” auf “heiß” umstellen: Die Glaubenserfahrung übertrifft die Glaubensdoktrin, Bewegung wird der Hierarchie vorgezogen, Emotion gilt mehr als Verstand; und weil Wunder Wissenschaft übertrumpfen, finden sogar der Kreationismus und die evolutionskritischen Lehre vom “Intelligent Design” in Europa Anhänger. Die Informalisierung des Glaubens (” believing without belonging”) geht auch an der stabilsten Amtskirche der Welt nicht vorbei; der Vatikan ist, wie alle großen Massenorganisationen, mit dem Schwung episodischer Bewegungen und dezentraler Netzwerke konfrontiert und zur Anpassung gezwungen.

In dieses Bild einer “amerikanisierten” Religionslandschaft paßt überraschend gut der neofundamentalistische Islam. Auch er agiert transnational, indem er sich von den arabisch-islamischen Kernländern emanzipiert und von seiner Diaspora-Identität löst; und er wird individualistisch, indem er die Autorität konservativer Theologen und Rechtsgelehrten bestreitet und statt der Orthodoxie religiöse Erfahrung ins Zentrum rückt. Religiosität wird auch hier born again (wiedergeboren): eine starke Überzeugung von Menschen, die ihren verlorenen Glauben in einer existenziellen Krise wiedergefunden haben und ihr Leben fortan in der Emphase dieser Wiedergeburt führen.

Auch der islamische Neofundamentalismus propagiert Glauben als individuelle Erfahrung und radikalen Bruch mit der Tradition. Das macht ihn anziehend für marginalisierte Migranten der dritten Generation in den Vorstädten, die sich einer (nicht bloß imaginären) Weltgemeinschaft des kämpferischen Islam anschließen. Um das vor aller Welt zu bekennen, sind Zeichensetzung (Kopftuch), symbolische Präsenz (Moschee), Orthopraxie (Halal-Konsum) bedeutsam – und zunehmend die Propaganda der Tat.

” Steinzeit-Islam” ist das nicht, die Rückkehr einer puritanischen Religiosität bedeutet vielmehr Modernisierung. Für den Islam kommt er auch einer Verwestlichung gleich, selbst wo er sich vehement gegen die westliche Konsumkultur auflehnt, in die junge Muslime verstrickt sind – als deviante Drogendealer genau wie als vorbildliche Informatikstudenten. Oder als Bremer Schiffsbauer: Der Lebensplan eines Murad Kurnaz mag einem seltsam vorkommen, in sich ist er ebenso rational und konsequent wie Protestkonversionen zu Al-Qaeda. Beides versteht man besser – gerade im Sinne der “Gegnerbeobachtung” (Lepenies) des westlich-antiwestlichen Islam – wenn man darin neoreligiöse Akte sieht. Weder politische Unternehmer und Quasi-Kirchen noch die muslimischen Gemeinschaften werden sie leicht zivilisieren können, staatliche Überwachung und Repression ebensowenig. Eine Zeit des “mixed governance” , hier also komplexer Religionsregime jenseits von Staat und Markt, ist angebrochen.

“Wert Urteile/Judging Values”, International Congress on Justice and Human Values in Europe, Einleitungsvortrag.

Published 19 October 2007
Original in German
First published by Arena 6/2007 (Swedish version)

© Claus Leggewie / Eurozine

PDF/PRINT

Read in: DE / EN / SV

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Discussion