Für eine Erneuerung des Laizismus in Frankreich

Vor kurzem wurde in Frankreich der 100. Geburtstag des Gesetzes von 1905 zur Trennung von Religion und Staat gefeiert.1 Wäre es heute nicht an der Zeit für seine Reform? Die politische Klasse scheint sich indes stillschweigend darüber einig, dass man an diesem Gesetz nicht rütteln darf. Das sehen auch zwei große, unmittelbar betroffene Institutionen nicht anders: die katholische Kirche und die Ligue de l’enseignement. Man sollte sich also keinen Illusionen hingeben: Eine Revision des Gesetzes wird es nicht geben. Doch warum eigentlich nicht? Aus Angst, die großen laizistischen Prinzipien zu verraten, die ihm zugrunde liegen? Das Gesetz von 1905 solle nicht angetastet werden, heißt es, da es einen starken Symbolwert habe. Es verkörpere eherne Grundsätze und vitale Antriebskräfte der Republik. Gleichwohl ist das Gesetz bereits mehrfach überarbeitet worden und kann demzufolge durchaus im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten geändert werden. Ob es nun um religiöse Vereinigungen ging, um die notwendige Anpassung des Gesetzes von 1901 über die Bildung von Organisationen an das Gesetz von 1905 oder auch um die Finanzierung religiöser Bauten, immer fanden sich Lösungen, wie den Forderungen etwa der Protestanten oder den Bedürfnissen der muslimischen Gemeinschaft entsprochen werden konnte, ohne das Gesetz ganz neu zu formulieren. Man konnte sich auf verschiedene Anpassungen verständigen und sie in die entsprechende Gesetzesform gießen. Doch wenn es um die laïcité geht, den französischen Laizismus, rührt man paradoxerweise immer gleich an ein Tabu, fast schon an ein Heiligtum, kurz, an etwas Unfehlbares. Als hätte das Religiöse, dem das Gesetz von 1905 seinen Platz oder einen neuen Platz hatte zuweisen sollen, das Weltliche infiziert, das sich doch eigentlich von ihm hatte emanzipieren wollen.

Dass das Gesetz wie eine heilige Kuh behandelt wird, dass die politischen Kreise in Frankreich befürchten, alte, doch heftige innerfranzösische Zwiste neu zu entfachen, dass man davor zurückschreckt, eine Reform vorzuschlagen – vorausgesetzt, dazu reicht die Vorstellungskraft – all das sorgt gleichermaßen dafür, die Unbeweglichkeit zur Tugend zu erheben. Freilich ist diese Haltung in mancherlei Hinsicht absurd. Wer könnte schließlich leugnen, dass die historische Situation heute eine ganz andere ist als 1905? Das lässt sich an drei Punkten festmachen. Erstens: Die katholische Kirche spielt in Frankreich längst nicht mehr die Rolle, die sie früher einmal hatte. Zweitens: Die politische Kultur des Laizismus ist im Begriff zu erstarren, in einer Zeit, da die verschiedenen Frustrationen und gesellschaftlichen Forderungen sich über die Religion äußern und in der neue religiöse Bedürfnisse entstehen, die das Prinzip der Trennung von Geistlichem und Weltlichem, von Religion und Staat in Frage zu stellen drohen. Drittens: Durch das Erstarken des Islam, einer Religion, die allzu oft mit Einwanderung, Arabern etc. in einen Topf geworfen wird, hat sich die Ausgangslage gründlich geändert.

Die katholische Hydra

Untersucht man die Stärke und den Stellenwert der katholischen Kirche in Frankreich im Jahr 2005, kann dies zu unterschiedlichen Bewertungen führen. Doch im Zentrum der Diskussion der letzten Jahre standen stets ihre Rolle als eine “Minderheit” – eine Minderheit unter anderen in der französischen Gesellschaft – und die Konsequenzen, die sich aus dieser neuen Situation ergeben. Die wichtigsten Indizien, auf die in diesem Zusammenhang häufig verwiesen wird, sind der Rückgang der Religionsausübung in den Kirchengemeinden zugunsten stärker voluntaristischer (doch auch vereinzelter und kurzlebiger) Praktiken, die starke Individualisierung der Glaubensausübung durch eine “Religion à la carte”, der Glauben ohne kirchliche Bindung, der mangelnde Priesternachwuchs, das Verschwinden aktiv streitender Kirchenvertreter und die Marginalisierung der katholischen Kultur. Danièle Hervieu-Léger sprach sogar von einer “Exkulturation”, um diesen faktischen Ausschluss der Instanz des Katholizismus als Entscheidungskriterium aus dem sozialen, wissenschaftlichen und politischen Leben zu beschreiben. Ganz zu schweigen vom Mangel an religiöser Bildung und vom Verlust jedes christlichen Gedächtnisses ganz allgemein. Daraus lassen sich weitere Schlüsse ziehen, vor allem dieser: Der Katholizismus tritt nicht länger als Gegenkultur zur Kultur der Republik auf, und das geht auch an der laizistischen Kultur nicht spurlos vorüber. Denn egal, wie deren glühendste Verfechter auch dazu stehen mögen, der alte Katholizismus stellte, neben der wissenschaftlichen Vernunft, eine wesentliche Triebfeder für den harten Kurs der laizistischen Kultur dar. Mit der Schwächung des Katholizismus sowohl auf institutioneller als auch auf geistiger Ebene verliert auch die laizistische Kultur an Substanz. Man spricht zwar von einer Krise der instruction civique (Staatsbürgerkunde), vergisst darüber jedoch, dass das goldene Zeitalter der Vermittlung republikanischer Werte zugleich auch das des Religionsunterrichts war. Sagen wir es freiheraus: Liest man bestimmte “laizistische” Beiträge und betrachtet man die Heftigkeit einer gewissen kirchenfeindlichen und sogar offen gegen das Christentum gerichteten Polemik (wie sie namentlich in einer bestimmten Presse und in bestimmten Fernsehsendungen zu finden ist), überrascht die schwach ausgeprägte Fähigkeit der Laizisten, sich auf sich selbst zu besinnen, sowie auch ihre Fehleinschätzung der realen Situation der Religion, ihre Ignoranz gegenüber schon vor Jahrzehnten erfolgreich eingeleiteten Umgestaltungen, ihre Neigung, anderen die Schuld zuzuschieben, wenn es darum geht, die eigene Krise zu begreifen und abzuwenden, bzw. ihr Bedürfnis, sie zu überwinden, indem sie nach Gesetzen und autoritären Mitteln rufen und den “weltlichen Arm” des Staates beschwören. Unversöhnliche und durchaus achtbare Laizisten gehen soweit, aus dem Laizismus eine “Spiritualität” zu machen, was vollkommen legitim ist (denn die Spiritualität gehört niemandem, zumindest jetzt nicht mehr), jedoch auch viel über die Kontamination durch die gegenwärtige diffuse Religiosität verrät. Generell richtet sich der Kampf des Laizismus heute gegen zwei Feinde: gegen den traditionellen Feind, nämlich die katholische Hydra, die man bezichtigt, ihr Werk der geistlichen und moralischen Eroberung oder Rückeroberung der Gesellschaft in unzähligen Facetten weiterzuverfolgen; und gegen den neuen Feind, nämlich den unverhohlen (und zuweilen in erniedrigender Form) angegriffenen Islam. (An dieser Stelle ließe sich noch ein dritter Feind nennen: die Sekten, gegen die der laizistische Staat seit etwa einem Jahrzehnt offiziell vorgeht.)

Staatlicher Laizismus und Säkularisierung der Gesellschaft

Viele antireligiöse und antiklerikale Kräfte verwechseln das Prinzip des Laizismus mit dem Prozess der Säkularisierung. Obwohl ersteres eine Reihe von gesetzlichen Anpassungen und Änderungen erfahren hat, bleibt es als Prinzip doch auch einhundert Jahre später intakt, gleich, was man sonst darüber sagen mag. Es regelt in Frankreich, wenn auch in einem veränderten gesellschaftlichen Zusammenhang, noch immer die Beziehung zwischen Kirche und Staat. Nun mag zwar jedes Lager aufgrund der verschiedensten Verfügungen, Gerichtsbeschlüsse, amtlichen Erlasse oder Rundschreiben, die diesen oder jenen Punkt des Gesetzes abänderten, im Laufe der Geschichte Anlass entweder zur Beunruhigung oder zur Zufriedenheit gehabt haben. Doch wie schon Émile Poulat aufzeigte, waren diese Änderungen und neuen Gleichgewichte durchaus im Interesse beider Lager, auf jeden Fall also in dem des Staates und in dem der Kirche (wiewohl sie den militanten und extremen Vertretern beider Gruppen ein Dorn im Auge waren).2 Der letzte Sieg, den die Verfechter des Laizismus für sich verbuchen konnten, war das Gesetz über die ostentativen Symbole religiöser Zugehörigkeit vom Februar 2004 (“Kopftuchverbot”), das von der katholischen Kirche (wie von den anderen Glaubensgemeinschaften) abgelehnt wurde. Gleichwohl ist von laizistischer Seite zu hören, dass die Kirche im Laufe des letzten Jahrhunderts sämtliche Vergünstigungen wiedererlangt habe, die sie 1905 eingebüßt hatte, und dass das “laizistische Lager” aus den einhundert Jahren des Kampfes gegen die Ansprüche der Kirche letztlich unterlegen und verbittert hervorgehe. Diese Sicht auf das letzte Jahrhundert und die damit verbundene Enttäuschung mögen ehrenwert sein, berechtigt sind sie nach unserem Dafürhalten nicht.

Denn wie wir bereits gesehen haben, steht auch die katholische Kirche in Frankreich nach dem Ende des 20. Jahrhunderts geschwächt da. Dies jedoch nicht wegen des französischen Laizismus, dessen Verdienste sie inzwischen selbst auf hoher Ebene unumwunden anerkennt3 (und ebenso die Vorteile, die auch sie selbst hatte, vornehmlich weil er sie vom Klerikalismus befreite), sondern wegen der Säkularisierung der Gesellschaft, besonders in den letzten vierzig Jahren, mit all ihren widersprüchlichen, vielschichtigen, sich wandelnden und selbst für Experten zum Teil undurchsichtigen Entwicklungen. Doch dies soll hier nicht erörtert werden.4 Zu den politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen, die dem laizistischen Prinzip (faktisch seit 1905) und den angrenzenden Bereichen entgegenwirken, sei auf die klugen und differenzierten Ausführungen in dem Werk Laïcité 1905-2005, entre passion et raison von Jean Baubérot verwiesen.5 Erinnern wir uns an dieser Stelle lediglich daran, dass “Säkularisierung” früher selbst für versierte Beobachter und erst recht für die Allgemeinheit Schwächung, Rückgang, Verfall und Untergang des Religiösen als Glauben (oder als “Ideologie”, wie es im Sprachgebrauch der 1960-1970er Jahre hieß) und als Glaubensausübung bedeutete. Doch in Frankreich wurde die “laïcité” des Staates von den Kirchenvertretern ebenso wie von den Verfechtern des Laizismus (von jenen, um sie zu bedauern; von diesen, um sie zu begrüßen) mit ebendieser Säkularisierung in Verbindung gebracht und sogar gleichgesetzt. Auch heute, da die aktuelle religiöse Unwissenheit der jungen (und der nicht mehr ganz jungen) Generation pauschal auf die “Schule ohne Gott”, das heißt, auf eine Schule, in der “Gott” in den Lehrplänen nicht vorkommt, und auf die französische laizistische Kultur zurückgeführt wird, ist diese Denkweise noch sehr verbreitet. Dabei braucht man nur nach Deutschland zu schauen – wo es das System der “staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften” gibt und der Religionsunterricht ganz selbstverständlich im Lehrplan integriert ist -, um die gleichen Klagen zu hören. Auch der verschwommene Sprachgebrauch – wie etwa die Verwendung der Adjektive “laïque” [weltlich, laizistisch], (das an sich schon mehrdeutig ist) und “laïcisé” [von religiösem Einfluss befreit] als Synonyme für “sécularisé” [säkularisiert] und ebenso die Verwendung von “laïcisation” [Befreiung von religiöser Bindung] als Äquivalent für “sécularisation” [Säkularisierung] – hat nicht zur Klärung der Dinge beigetragen.

Falls der französische Laizismus überhaupt eine Ausnahmeerscheinung ist, so zweifellos eher durch seine Überempfindlichkeit gegen jedes sichtbare Auftreten einer Religion – besonders der katholischen Kirche – im öffentlichen Raum. “Ostentative Symbole”, die anderswo keinen Anstoß erregen, führen hier zu heftigem Widerstand. Ein öffentliches oder soziales Auftreten der Kirche, wie es in den meisten europäischen Ländern üblich ist, scheint in Frankreich illegitim zu sein. Sollte es einen “Habitus” des Laizismus geben, findet er seinen Ausdruck wohl gerade in dieser übertriebenen Abneigung gegen offenkundige Symbole, gegen Soutanen ebenso wie gegen Burkas, gegen den Turban ebenso wie gegen die Kippa und das kleine Kreuz an der Halskette. Kommt man nach England, kann man muslimische Frauen der Flughafen- und Grenzpolizei einen islamischen Schleier tragen sehen, der Teil ihrer Uniform ist. Eine solche Toleranz wäre in Frankreich undenkbar.

Nun ist aber die “Zurschaustellung” religiöser Symbole an sich heute ambivalent. Zunächst gehört sie – in ihren extremen Formen – ganz offensichtlich in den Bereich fundamentalistischer und identitätsstiftender Überzeugungen, die gegenwärtig im Aufwind sind. Doch in ihren weniger aggressiven und verspielteren Ausdrucksformen hat sie einen Bezug zur Säkularisierung, die nun nicht mehr als Verlust oder Verschwinden des Religiösen aufgefasst wird, sondern als Streuung, Zersplitterung, Individualisierung, Wiederverwendung und Rekombination seiner Teile und Bruchstücke etwa für festliche oder ästhetische Zwecke – was aber stets ohne eine wirkliche Verankerung in der Tradition, ohne das Bewusstsein und das Bedürfnis einer Zugehörigkeit und ohne gemeinschaftliche Bindungen bleibt. Vereinfacht ausgedrückt, existieren heute zwei extreme Tendenzen nebeneinander, die sich zuweilen gegenseitig verstärken: Auf der einen Seite die sogenannten identitären Erscheinungen mit ihren fundamentalistischen, kommunitaristischen Facetten, die das persönliche Verhalten und die soziale Integration den Zwängen der Gemeinschaft unterwerfen; auf der anderen Seite die Individualisierung des Religiösen in mannigfaltigen, verwirrenden und teils unsichtbaren Formen, die auch zur Folge hat, dass das Religiöse oder das, was man dafür hält, mit seiner bemerkenswerten Fähigkeit, immer wieder neu zu erstehen und sich herauszukristallisieren, heutzutage überall und nirgends ist.

Hier liegt die Ursache für die Ambivalenz des Religiösen in unseren postmodernen Gesellschaften. Man denke nur an das immense Medienspektakel beim Tod Johannes Pauls II., bei seiner Beisetzung, beim anschließenden Konklave bis hin zu der Enttäuschung, die dem Nachfolger entgegenschlug und die der Fernsehorgie recht schnell ein Ende setzte. Wie sehr diese die laizistischen Gemüter – nicht ohne Grund – erhitzte, ist hinlänglich bekannt. Die sofort auf den Plan gerufenen “Semiologen” und “Mediologen” aller Schattierungen schwankten im wesentlichen zwischen zwei Interpretationen: Die einen sahen vor allem den wunderbaren Kommunikationsapparat der Katholiken, von dem unsere weltlichen Kräfte noch viel lernen könnten. Andere Stimmen betonten dagegen, dass die Medien den sterbenden und dann toten Papst nicht anders behandelt hätten als sein ganzes Leben lang. Er habe es verstanden, sich dies zunutze zu machen, gewiss, doch niemals habe er sie für seine Zwecke einspannen können, und zudem habe sein moralischer Konservativismus keinen Reiz für sie gehabt. Muss die etwas paranoide Sicht der ersteren (die durch Dan Browns berühmten Thriller “Sakrileg” für manch einen sicherlich noch untermauert wird) die Laizisten nicht in ihrer Überzeugung bestärken, dass sich die sichtbare Macht der katholischen Kirche überall ausbreitet? Wir können sie beruhigen: Das Zelebrieren einer Religion oder eines religiösen Führers durch die Medien ist nicht zwangsläufig ein Zeichen für Wohlergehen. Vielleicht sollte man sogar das genaue Gegenteil vermuten. Dann verhielte sich die Stärke des realen Katholizismus umgekehrt proportional zur Medienpräsenz seines Oberhaupts. Doch wie dem auch sei, unsere laizistischen Aktivisten täten gut daran, ihre Verwünschungen und künstlichen Tröstungen, die in kraftlosen “atheologischen Abhandlungen” heraufbeschworen werden, durch seriöse Studien über das Religiöse zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts zu ersetzen.

Der Islam als Spielverderber

Seit einiger Zeit trägt ein weiterer Faktor dazu bei, die religiöse Landschaft in Frankreich unübersichtlich zu machen und die historische Situation umzukehren. Die Schwächung des Katholizismus ist zu einem Zeitpunkt zu beobachten, da mit offenkundiger Vitalität der Islam in Erscheinung tritt – eine Religion ohne Kirche, ohne institutionell ausgebildete Geistliche, ohne genügend Orte für die Glaubensausübung, die gleichwohl in Frankreich und, so scheint es, zunehmend auch in der ganzen Welt gut sichtbar ist, wenn auch theokratischen Bestrebungen unterworfen und an ihren radikalen Rändern mit einem Hang zu Gewalt und religiösem Zwang belastet. Diese von Esprit bereits häufig thematisierte Entwicklung ist nicht neu. Deshalb sei hier lediglich daran erinnert, dass der Islam in Frankreich in manchen laizistischen Kreisen der Linken im Gegensatz zu ihrem historischen Feind, dem Katholizismus, lange Zeit Sympathie und Verständnis genoss. Führende Vertreter der Ligue de l’enseignement, die wegbereitend für eine Neubesinnung des Laizismus ist, haben darauf hingewiesen, dass man paradoxerweise den Islam “unterstützte” (indem man ihn als Gegenstand in die Lehrerausbildung aufnahm), während man die katholische Kirche weiter ignorierte oder bekämpfte. In der Gegenwart, das heißt, bereits vor, doch besonders nach dem 11. September 2001 sind höhnische Äußerungen gegen den Islam an sich – also nicht nur gegen den fundamentalistischen Islamismus – an der Tagesordnung und werden unverhohlen verbreitet. Abgesehen davon, dass es sich hier um einen intellektuell und historisch fragwürdigen Standpunkt handelt, kann die Weigerung, zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden, nur dazu führen, dass reformistische und selbstkritische Positionen geschwächt werden. Und für manche Kräfte sind das Erstarken des Islam und die Forderungen gewisser Muslime das beste Argument dafür, nicht an dem Gesetz von 1905 zu rütteln. Wie schon in der Kopftuchdebatte sollen die Prinzipien der Republik mit dem Bollwerk des Laizismus gegen eine Religion geschützt werden, die das seit 1905 erworbene Kräftegleichgewicht ins Wanken bringt.

Drei Szenarios

In diesem Zusammenhang sind drei Szenarios denkbar: erstens die Orientierung auf eine Vergemeinschaftung der neuen Religionen (und nicht nur des Islam) – auf die Gefahr hin, den republikanischen Pakt noch ein wenig mehr zu schwächen; zweitens die Verstärkung – im Sinne eines Bonapartismus, dessen überraschender Erbe Nicolas Sarkozy ist – der Rolle des Staates gegenüber einer von vornherein schlecht kontrollierbaren Religion (Argumente dafür liefern die mittlerweile über zwei Jahre anhaltenden Streitigkeiten des Französischen Rates der Muslime, CFCM); und drittens das Bemühen, einer republikanischen und laizistischen Kultur, die ohne die Aussicht auf eine erfolgreiche Integration undenkbar ist, zu neuer Glaubwürdigkeit zu verhelfen. Der Vergemeinschaftung und der staatlichen Kontrolle wäre eine lebendige, dynamische und damit integrative Kultur des Laizismus gewiss vorzuziehen. Liegt die Lebenskraft des Laizismus denn wirklich im Insistieren auf dem Bestehenden, darauf, dass im Hinblick auf die Trennung von Religion und Staat mit dem Gesetz von 1905 das letzte Wort gesprochen ist?

Auf dem Gesetz zu beharren hieße, die Frage des Laizismus auf die Konfrontation der Republik mit dem Islam zu reduzieren, bei der es für uns viel zu verlieren gäbe. Man sollte statt dessen die Spielregeln überdenken, um den Sinn der laizistischen Prinzipien zu erhalten. Aber derzeit scheint es allen Seiten – Laizisten, Katholiken und Muslimen – offenbar nur darum zu gehen, die aktuelle Situation zu ignorieren. Gewiss, nach mehr als einem Jahrhundert der Konfrontation innerhalb Frankreichs ist die Angst vor einer neuerlichen Auseinandersetzung durchaus berechtigt. Doch wie lassen sich heute, innerhalb klar definierter Grenzen, religiöse Praktiken und religiöse Macht integrieren? So sollte man die Frage zum Gesetz von 1905 stellen, eine Frage, die sich nicht auf juristische Polemiken über eine Reform dieses Gesetzes beschränken lässt. Wie schon Olivier Roy betont, ist es von entscheidender Bedeutung, die Frage der religiösen Zugehörigkeit von der der Kultur zu trennen und beide deutlicher zu unterscheiden. Das setzt voraus, dass man die Existenz einer islamischen Kultur (die nicht nur die der praktizierenden Muslime ist) anerkennt ebenso wie die einer katholischen und im weiteren Sinne christlichen Kultur (die nicht nur die der Gläubigen ist) und schließlich auch die einer laizistischen Kultur. Sie muss in einem Kontext neu erfunden werden, der nicht mehr durch eine Frontstellung zwischen einer antiklerikalen Kultur und einer religiösen Gegenkultur bestimmt wird. “An das Gesetz von 1905 zu rühren” sollte nicht heißen, dem einen oder dem anderen Lager juristische Vorteile zu verschaffen oder zu entziehen. Es sollte weniger um eine Frage von Recht und Gesetz gehen als vielmehr um eine politische Sicht auf die Beziehung zwischen den Religionen und dem Staat, auf den Platz, den die Religionen innerhalb des Staates einnehmen könnten. An einer solchen Vision fehlt es offenkundig, und dieses Defizit verstärkt das Beharren auf dem status quo. Die Frage müsste also lauten: Was für einen Laizismus braucht Frankreich heute?

Das Gesetz von 1905 befriedete die französische Gesellschaft, die durch lange und heftige Kämpfe zwischen den Anhängern eines katholisch-royalistischen und jenen eines republikanisch-säkularistischen Frankreich gespalten war. Der erste Artikel des Gesetzes erklärt, dass die Republik das Recht auf Gewissensfreiheit und die freie Ausübung der Religion im Rahmen der öffentlichen Ordnung garantiert. Der zweite verbietet der Republik, Religionsgemeinschaften anzuerkennen oder zu finanzieren. (Anm. d. Red.)

Vgl. auch sein hervorragendes Buch Notre laïcité publique, Berg International 2003.

Im laizistischen Lager wird diese verspätete Anerkennung oftmals als Heuchelei gewertet. Dies sei gewissermaßen eine Verbeugung des Lasters vor der Tugend... Man muss jedoch nicht mit den Hardlinern unter den Laizisten in Einklang stehen, um die Vorzüge der französischen laïcité und sogar ihre Überlegenheit gegenüber anderen Systemen der Trennung von Kirche und Staat anzuerkennen.

Vgl. die Beiträge von Danièle Hervieu-Léger sowie von José Casanova und Nilüfer Göle, in: Transit 26 und 27 (Themenschwerpunkte Religionen und europäische Solidarität I und II), 2004/05. (Anm. d. Red.)

Jean Baubérot, Laïcité 1905-2005, entre passion et raison, Paris 2004.

Published 15 September 2006
Original in French
Translated by Karin Krieger
First published by Esprit 6/2005 (French version) and Reset 90 (2005) (Italian version)

Contributed by Transit © Olivier Mongin/Jean-Louis Schlegel/Transit Eurozine

PDF/PRINT

Read in: FR / IT / DE

Published in

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Discussion