Freiheit den Nationen

Kosmopolitismus als Parole der Gegenwart für ein Weltbürgertum der Zukunft

Es gab eine Zeit, da war “Kosmopolit” eine negativ konnotierte Bezeichnung für Juden, Anarchisten, Pazifisten und andere, die sich weigerten, die Forderung von Nationalstaaten nach festen Grenzen zu akzeptieren. Jetzt, an einem neuen historischen Wendepunkt angelangt, erlebt der Kosmopolitismus ein Comeback. Per Wirtén beleuchtet die Entwicklung eines Begriffs und fordert die Trennung von Nation und Staat, vergleichbar jener von Kirche und Staat.

Während die serbische Armee sich im nordöstlichen Kroatien aufhielt und die Stadt Vukovar bombardierte, und damit einen ersten Vorgeschmack auf jene Grausamkeit gab, die die Kriege in Jugoslawien prägen sollte, las ich den Roman Die Brücke über die Drina. Diese von Ivo Andric in den Fünfzigerjahren geschriebene Chronik handelt von der Kleinstadt Visegrad, beginnend im 16. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg. Die einzige Person, an die ich mich noch sehr gut erinnern kann, ist die rührige, aber nicht sonderlich glückliche jüdische Hotelbesitzerin Lotte.

Ihr Bild hat in meiner Erinnerung mit den Jahren immer mehr an Leuchtkraft gewonnen. Wann immer ich in den Tageszeitungen von Jean-Marie Le Pen, Pia Kjærsgaard, Jörg Haider lese, oder darüber, wie eine westeuropäische Regierung nach der anderen den Forderungen nach höheren Mauern gegen umliegende Staaten nachgibt, taucht das Bild von Lotte auf als ein Beispiel für eine andere Ordnung.


Lotte war aus Polen nach Visegrad ausgewandert und hatte das Hotel zur Brücke aufgebaut, im späten 19. Jahrhundert das größte Gebäude der ansonsten relativ unbedeutenden Stadt. Das türkische Imperium hatte sich zurückgezogen, und Bosnien war eine Provinz der österreichisch-ungarischen k. u. k. Monarchie. Die ursprüngliche Bevölkerung von Muslimen, orthodoxen Christen und Juden vermischte sich mit Einwanderern aus anderen Teilen Europas, die neue Ideen und Vorstellungen mitbrachten. Abends verriegelte sich Lotte in ihrem kleinen Büro, zu dem außer ihr niemand Zutritt hatte und wo sie ihr anderes und vielleicht erfüllteres Leben führte. Briefe und Dokumente türmten sich auf ihrem Schreibtisch, Artikel aus österreichischen Tageszeitungen lagen neben Lotterielisten aus allen Ecken Europas. Von hier aus korrespondierte sie mit Bekannten in ganz Osteuropa, sie finanzierte die Universitätsstudien junger Verwandter aus Galizien, gab Ratschläge in Ehefragen, kommentierte aktuelle Gesprächsthemen der Großsstädte, kaufte und verkaufte Aktien an der Wiener Börse oder studierte die Wirtschaftsnachrichten aus entfernten Metropolen. Lotte war tief im multiethnischen Alltagsleben Visegrads verwurzelt, gleichzeitig war sie Teil eines grenzenlosen jüdischen Netzwerkes, das Menschen über große Distanzen hinweg miteinander verband, ein Netzwerk, das nationale Ideologien ignorierte, die zu jener Zeit gerade prosperierten und in den folgenden Jahrzehnten alles tun sollten, um eben jene Art transnationaler Vorstellungen und Gemeinschaften auszuradieren, wie sie Lottes Netzwerk hervorbrachte.

Lotte war an vielen Orten daheim. Visegrad war ihre Heimatstadt, aber jenes Netzwerk, das sich immer dann öffnete, wenn sie sich in ihr Arbeitszimmer zurückzog, das war ihr Heimatland. Heimat, Identität und Zugehörigkeit hatten für sie wahrscheinlich viele und einander überschneidende Bedeutungen. Sie führte ein kosmopolitisches Leben in dieser unbedeutenden, ländlichen Kleinstadt.

Die Zermalmung Voltaires

Bereits im 18. Jahrhundert hatten Voltaire und andere Philosophen der Aufklärung die Basis für eine kosmopolitische Politik formuliert. Für sie war das Heimatland schlicht und einfach die Republik: eine politische Gemeinschaft, in der Gesetze, Freiheit und Selbstverwaltung Tyrannei und Monarchie ersetzten. Das Heimatland wurde also nicht durch gemeinsame Kultur, Sprache oder Ethnizität determiniert. Voltaires Staat war die Republik, nicht der National-Staat. Aber es war Kants klassisches Buch Zum ewigen Frieden (1785), das dem Kosmopolitismus seinen Grundtext lieferte. Interessierte sich Voltaire für die inneren Bedingungen einer Republik, so schrieb Kant über die Beziehungen zwischen Republiken, also über eine internationale Rechtsordnung. Kants Ideen lebten weiter und wurden in gewissen Punkten von den Vereinten Nationen umgesetzt: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verschiedene internationale Konventionen und zahlreiche UN-Konferenzen. Voltaires Republik hingegen wurde von Nationalismen zermalmt. Die Bedeutung des “Kosmopoliten” veränderte sich sukzessive zu einem verächtlichen Synonym für Juden, Kommunisten, Anarchisten, Pazifisten und andere, die sich weigerten, die nationalstaatlichen Forderungen nach ethnischer, kultureller, sprachlicher und religiöser Homogenität zu akzeptieren. Durch die strikte Einteilung der Welt im Zuge des Kalten Krieges wurden die kosmopolitischen Ideale in die Ideenwelt der Tagträumer verwiesen. Aber nach dem Fall der Berliner Mauer haben die kosmopolitischen Perspektiven wieder Einkehr in den internationalen Gesellschaftsdiskurs gehalten. Hier werfen sie nun ein nur scheinbar neues Licht auf die internationale (Un)Ordnung, suchen Antworten auf die Frage, was denn ein Land oder ein Staat eigentlich sein sollte, und formulieren nebenbei existenzielle Fragen nach den Lebensbedingungen in einer grenzenlosen Welt.

Als ich vor ein paar Jahren das Buch der britischen Friedens- und Konfliktforscherin Mary Kaldor über den Bosnienkrieg, Neue und alte Kriege las, erinnerte ich mich plötzlich an Lotte und ihren Schreibtisch. Kaldor meint, dass der Krieg in Bosnien zwischen zwei Weltanschauungen stand: zwischen ethnisch determiniertem Nationalismus und Kosmopolitismus. Aber ihre wichtigste Entdeckung war die, dass man Kosmopoliten nicht immer dort begegnete, wo man sie erwartet hätte.

Verteidiger der kosmopolitischen Idee lebten oft in Kleinstädten und Dörfern, wo sie Nachbarn und Flüchtlinge vor ethnischen Säuberungsaktionen versteckten und ein lokales Netzwerk für ein weiterbestehendes Zusammenleben schufen. Viele von ihnen waren vielleicht nie aus ihrem Dorf oder auch nur in die Nähe einer Universität gekommen. Weiters konstatierte Kaldor, dass viele der militantesten kroatischen und serbischen Nationalisten zwar ein in vieler Hinsicht kosmopolitisches Leben geführt hatten: Sie hatten an Universitäten im Ausland studiert, fühlten sich auf dem internationalen Parkett und den großen Flughäfen daheim, und pflegten einen entspannten Umgang mit den globalen politischen und wirtschaftlichen Eliten – trotzdem vertraten sie eine ethnofaschistische Politik. Die landläufige Vorstellung, dass die gebildeten Eliten das kosmopolitische Ideal repräsentieren und die ungebildeten Bauern einem eher nationalen oder geschlossenen Ideal anhängen, erwies sich als völlig falsch.

Eine plötzliche Alternative

Kosmopolitismus ist mit anderen Worten nicht in erster Linie ein Lebensstil, sondern eine Art, die Welt zu sehen und zu beschreiben, eine Art, sich zur Welt zu verhalten.

Die Kriege in Jugoslawien waren für viele Europäer ein wichtiger Wendepunkt. Sie machten in abschreckender Weise die Konsequenzen von Nationalismus und Ethnifizierung deutlich. Und wieder erschien die kosmopolitische Tradition als eine mögliche Alternative. Die jüngste Renaissance der westeuropäischen rassistischen Rechten und Nationalisten, die sich gegen Muslime, Juden, Mitbürger mit dunkler Hautfarbe, offene Grenzen, europäische Integration und freie Menschen richtet, könnte einen ähnlichen Effekt haben. Die Idee des Nationalen erscheint ganz einfach immer unhaltbarer.

Der Kosmopolitismus birgt einen verlockenden Standpunkt, der aktuelle und parallel ablaufende Diskussionen miteinander verknüpft: kulturelle Vielfalt und die großen globalen Demokratie- und Gerechtigkeitsfragen, mikro und makro, das Ich und die Anderen. Aber die eigentliche Kraft des wiederkehrenden Kosmopolitismus besteht darin, dass er nicht mehr bloße Theorie und akademisches Wissen ist, sondern mittlerweile sozialen Verhältnissen und gelebter Erfahrung entspringt – ungefähr so wie in Lottes Fall im Hotel zur Brücke in Visegrad. Das Kosmopolitische bricht von den unteren Ebenen der sozialen Hierarchien hervor. In der eben erschienenen Anthologie Cosmopolitanisms kann man im Vorwort der Herausgeber Folgendes lesen:

Die Kosmopoliten von heute sind oft die, die der Moderne geopfert wurden, an denen die sozialen Fortschritte des Kapitalismus vorübergegangen sind und denen jene Annehmlichkeiten und Lebensweisen verweigert wurden, die eine nationale Zugehörigkeit bietet. Flüchtlinge und Menschen, die in einer Diaspora leben, als Migranten oder im Exil, repräsentieren die Energiequellen der kosmopolitischen Gemeinschaft.

Die beiden Politikwissenschafter David Held und Daniele Archibugi sowie Richard Falk und Mary Kaldor, letztere Spezialisten auf dem Gebiet des Internationalen Rechts, versuchten während der Neunzigerjahre beharrlich, eine kosmopolitische Antwort auf die politischen Herausforderungen der Globalisierung zu entwickeln. Nach dem Fall des Kommunismus hat sich Demokratie als Norm für innenpolitische Verhältnisse etabliert. Doch die Beziehungen zwischen den Ländern werden weiterhin vom Schleier der Diplomatie verhüllt. Die internationale Ordnung wurde kein bisschen vom Sieg der Demokratie beeinflusst, wie Held und Archibugi betonen. Stattdessen machen die Vereinten Nationen, der Internationale Währungsfond, die EU und andere Institutionen weiter wie bisher, so als sei nichts geschehen. Die Transparenz ist begrenzt, und nirgendwo können Bürgerinnen und Bürger Verantwortung für untaugliche Beschlüsse einfordern.

Held und Archibugi werden von der Sorge angetrieben, dass in einer dicht globalisierten Welt autoritäre Regierungsformen über demokratische siegen könnten. Deshalb muss die internationale Ordnung demokratisiert werden und so gleichzeitig autoritäre Regimes zu größerer Offenheit und Demokratie zwingen. Ohne einer kosmopolitischen überlebt keine nationale Demokratie. “Ziel ist eine demokratische Gemeinschaft, die demokratische Staaten überwindet, sie aber gleichzeitig für sich zu gewinnen versteht”, schreiben sie.

Für Held und Archibugi sind all die Konventionen und internationalen Verträge, die nach und nach die Souveränität der Nationalstaaten begrenzen, natürlich höchst inspirierend. Doch sie sind der Meinung, dass diese Prozesse demokratisiert und transparenter werden müssen. Damit stellen sie eine grundlegende Vorstellung in Frage: dass Demokratie nur in einem Nationalstaat und nur in einem von kultureller Gleichheit geprägten Milieu funktionieren kann. Darin liegt der umstrittenste Konfliktpunkt zwischen dem momentanen System der Nationalstaaten und der kosmopolitischen Ideentradition.

Die neue Rolle der Vereinten Nationen

Für den Kosmopoliten sind Politik, Demokratie und Öffentlichkeit – die griechische Agora – der einigende Punkt, der Identifikation mit einem Land und Solidarität zwischen dessen Bewohnern schaffen kann. Kulturelle Gleichheit und Volksgemeinschaft sind keine Voraussetzungen für Demokratie. Im Gegenteil, eine Demokratie kann sich aus vielen Nationen, Religionen und Kulturen zusammensetzen, tatsächlich tun einer Demokratie Vielfalt und Unterschiede nur gut. Dies ist bekannt unter dem Begriff der republikanischen Tradition und wurde in jüngerer Zeit unter anderem von Hannah Arendt und Jürgen Habermas verteidigt.

Held und Archibugi haben versucht, ihr Konzept einer kosmopolitischen Demokratie auf internationalem Niveau zu konkretisieren. Vor allem wollen sie die Vereinten Nationen reformieren, in denen sie eine Möglichkeit zur Schaffung der notwendigen globalen, politischen Agora als einem Forum für Diskussionen und demokratische Beschlüsse orten. Deshalb empfiehlt Daniele Archibugi eine zweite Kammer für die Vereinten Nationen, eine Generalversammlung des Volkes, die direkt gewählt wird, und schließlich eine Reform des Sicherheitsrates dahingehend, dass das Vetorecht entweder abgeschafft oder schwerer anzuwenden sein wird. Er fordert einen stärkeren Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte, an den sich auch Einzelpersonen wenden können sollen, und natürlich fordert er einen Gerichtshof für Kriegsverbrechen (mit denen sich gegenwärtig der Internationale Strafgerichtshof ICC befasst).

Das würde bedeuten, dass die nationale Souveränität noch weiter beschnitten und jenes 1648 im Westfälischen Frieden begründete System souveräner Nationalstaaten infrage gestellt wird. Held und Archibugi betonen, dass dies durch einen erweiterten Demokratiebegriff geschehen muss und nicht, wie jetzt, über zwischenstaatliche diplomatische kleine Deals, die die Bürger ausschließen. Für den Kosmopolitismus sind wie gesagt Demokratie und Politik von besonderem Wert und nicht die nationalstaatliche Souveränität.

Oft wird an David Helds Modell kritisiert, dass eine kosmopolitische und globale Demokratie in der Praxis zu einer Art Weltregierung führen würde, in der so viel Macht geballt wäre, dass sie sich automatisch zu einer Quelle totalitärer Machtausübung wandeln würde. Das ist ein wichtiger und schon von Kant in Zum ewigen Frieden erkannter Einwand. Dem hält Held entgegen, dass die Staatsmacht der einzelnen Länder nicht verschwindet, sondern das Rückgrat des Systems bildet, und dass starke regionale und demokratische Organe wie zum Beispiel die EU unbedingt notwendig sind. Die Macht soll sich von unten ausgehend nach oben hin aufteilen, ganz wie in den alten Ideen der Linken zum Föderalismus. Man kann dieses Modell als Geflecht demokratischer Machtbeziehungen, Balancepunkte und Beschlussorgane auf unterschiedlichen Niveaus und Plätzen betrachten, die schließlich die ganze Welt umfassen – eine Kosmopolis.

Was ist der Optimismus wert?

Der britische Professor für Internationale Politik, Andrew Linklater, meint, dass die Bürger in jedem einzelnen Staat einer solchen kosmopolitischen Ordnung

unter der Gerichtsbarkeit mehrerer verschiedener Behörden leben würden, viele Identitäten haben könnten und nicht durch soziale Bande miteinander verknüpft sein müssten, die sie der restlichen Menschheit lediglich empathielos oder geradezu feindlich gegenübertreten ließen. Jene Staatsform, die während der westfälischen Ära dominierte, verteidigte nationale Interessen gegen Fremde, und im Allgemeinen nahm sie wenig Rücksicht auf die Probleme der verschiedenen Minderheiten. Der postwestfälische Staat kann dieses moralische Manko beheben, indem eine neue Beziehung zwischen verschiedenen Nationalitäten und anderen Identitäten in einem Staat etabliert wird, sowie zwischen traditioneller nationalstaatlicher Loyalität und der weiteren Sphäre kosmopolitischer Pflichten oder der Übernahme von Verantwortung.

Das verhindert nicht, dass die Einwände gegen jenen von Held und Archibugi beschriebenen Typ grandioser Systeme weiterhin schwer wiegen. Die Frage ist, welchen Wert Helds Optimismus in einer Welt eigentlich hat, die nach dem 11. September 2001 dabei ist, dem amerikanischen “Krieg gegen den Terrorismus” gemäß strukturiert zu werden. Dabei spielen Rechtsprinzipien, die Vereinten Nationen oder andere globale Institutionen offenbar keine große Rolle. Aber vielleicht gerade deshalb ist es jetzt wichtiger als je zuvor, auf einer anderen, demokratischeren internationalen Ordnung zu beharren.

Das Modell einer nationalen Souveränität wird auch auf der etwas alltäglicheren Ebene der Migration infrage gestellt, die nämlich tendenziell ein Phänomen kreiert, das von verschiedensten Forschern transnationales Netzwerk genannt wird.

In den frühen Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts dokumentierte die Soziologin Peggy Levitt das Leben der Bewohner des Dorfes Miraflores in der Dominikanischen Republik, und zwar sowohl jener, die im Dorf blieben als auch jener, die in die USA emigrierten und sich im Bostoner Stadtteil Jamaica Plains niederließen. Die Bande zwischen diesen beiden Orten sind stark, zirka zwei Drittel aller Einwohner von Miraflores haben Verwandte in Jamaica Plains. Die Kontakte werden täglich gepflegt und spielen sich auf allen Ebenen ab: Menschen, Geld und Lebensentwürfe werden zwischen diesen beiden Orten hin und her geschickt. In ihrem Buch Transnational Villagers bezeichnet Levitt dieses Phänomen als transnationales Dorf.

Die Migration prägt nicht nur vereinzelte Dörfer, sondern die gesamte Dominikanische Republik. Beinahe zehn Prozent der Bevölkerung wohnen mittlerweile in den USA, und ihre ökonomischen Transfers entsprechen ungefähr der Hälfte aller Ausgaben des Staatsbudgets des Landes. Mit anderen Worten: Die Dominikanische Republik ist abhängig von ihren Auswanderern und hat deshalb begonnen, die Bande zwischen der “Diaspora” und dem Heimatland zu institutionalisieren.

Die politischen Parteien haben Sitze in ihren Gremien für amerikanische Dominikaner reserviert, außerdem haben sie lokale Organisationen in Boston und New York, die in den Wahlkämpfen äußerst aktiv sind. 1996 akzeptierte das Land doppelte Staatsbürgerschaften, im Jahr darauf wurden die Wahlgesetze dahingehend abgeändert, dass auch Dominikaner, die ihre Staatsbürgerschaft zugunsten einer amerikanischen abgelegt haben, wählen oder gewählt werden dürfen. Besonders Letzteres zeigt, in welch umwälzender Weise die Funktionsweise eines Nationalstaates und seine Auffassung von sich selbst als Staat verändert werden kann. Die Grenzen der Dominikanischen Republik, so, wie sie bisher von Land und Staatsbügerschaft determiniert wurden, sind unklarer und brüchiger geworden. Im Kongress sitzen einige Abgeordnete aus den USA, und es wird überlegt, New York formell als Wahlbezirk der politischen Landkarte der Dominikanischen Republik hinzuzufügen.

Levitt beschreibt, wie Menschen und Staat durch Migration verändert werden, wie sich beide einem von ihnen hervorgebrachten System anpassen, das offener und kosmopolitischer werden, aber auch eine stärkere Ethnifizierung des Nationalstaates bedeuten kann. Welche Richtung eingeschlagen wird, hängt vom Wertesystem und den darauf begründeten politischen Entscheidungen ab. Es ist jedoch durchaus möglich, dass die Dominikanische Republik auf dem besten Wege ist, ein “transnationales Land” zu werden.

EU – ein gutes Stück vorwärts

Auch in Westeuropa ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten, wenngleich bislang noch weniger deutlich. Zum Beispiel ist es durchaus möglich, türkischer Staatsbürger zu sein und gleichzeitig von fast allen staatsbürgerlichen Rechten Schwedens zu profitieren, wenn man dort lebt und arbeitet, aber nicht unbedingt die Staatsbürgerschaft annehmen will. Die früher so selbstverständliche Bindung der Staatsbürgerschaft an den Nationalstaat verliert zunehmend an Bedeutung. Das gilt auch für EU-Bürger, die jetzt unabhängig von ihrem Pass dort lokales Wahlrecht und andere Rechte genießen, wo sie ihren Wohnsitz haben.

Die Voraussetzungen für einen kosmopolitischen Kontinent Europa werden immer mehr, was aber nicht automatisch heißt, dass parallel dazu eine kosmopolitische Ordnung entsteht. In letzter Konsequenz handelt es sich auch hier um eine politische Entscheidung zwischen unterschiedlichen Wertesystemen und Sichtweisen.

Diese Bemühungen lassen sich treffend als Kampf um die Multikulturalität bezeichnen: Auf der einen Seite befindet sich die dominierende Idee eines gemeinsamen Ursprungs und gemeinsamer kultureller Werte der Nationalstaaten, eine Idee, die ihre Wurzeln in den europäischen Rassenphilosophien des 18. und 19. Jahrhunderts hat. Diesen Ideen zufolge haben sich Migranten anzupassen und unterzuordnen, da sie mit ihrer “Andersartigkeit” eine Bedrohung für das harmonische Gleichgewicht einer Nation darstellen. Dieses komplexe Gedankenerbe wurde von der dänischen Politikerin Birthe Rønn Hornbech von der liberalen Partei Venstre in einfache Worte gefasst:

Dänemark ist ein Land, das um ein Volk herum entstanden ist. […] Dänisches Christentum, dänische Geschichte, Kultur, Definition von Demokratie und unsere Ideen zu Freiheit müssen auch in Zukunft der Grund sein, auf dem Dänemark ruht. […] Wir wollen kein Dänemark, in dem die Dänen zu einer vorübergehenden ethnischen Minorität werden und wo uns unsere Freiheit genommen wird.

Demgegenüber steht die kosmopolitische und multikulturelle Idee der Vielfalt und eine unaufhörliche Bewegung zwischen und über alle ethnischen, kulturellen, religiösen und andere identitätsgebundenen Grenzen. Als Konsequenz davon muss das Gebilde Nation-und-Staat aufgelöst werden. Schweden kann sich nicht weiterhin als Staat für die schwedische Nation betrachten, sondern muss sich als ein Heimatland für viele Nationen begreifen. Damit wären wir wieder am Kern des Konfliktes angelangt, bei Phänomenen wie Nation, Ethnizität, Identität und Kultur. Man könnte sagen, dass die kosmopolitische Sichtweise unter anderem darauf abzielt, eben diese Begriffe zu relativieren und sie von jener gefährlichen Energie zu befreien, die so viele Kriege und Übergriffe verursacht hat. Nation und Ethnizität müssen ganz einfach von Politik und Staat getrennt werden, wie es bereits im Falle der Trennung von Staat und Kirche geschehen ist.

Die kosmopolitische Sichtweise bedeutet in der Praxis, dass rassistische Bewegungen und Parteien nicht als Abweichungen betrachtet werden, sondern als zwar extreme, aber dennoch integrierte Teile einer immer weniger akzeptablen europäischen Gesellschaftsordnung und Denkweise.

Antirassismus und ein multikulturelles Gesellschaftsideal können nicht auf demselben Fundament ruhen wie der Nationalismus. Die westeuropäischen Regierungen haben sich für eine Politik der Anpassung entschieden, um sich gegen den neuen Rechtsnationalismus zu verteidigen: starke Grenzbefestigungen, verstärkte Polizeiüberwachung sowie die Betonung von nationaler Gemeinschaft und dem Bedürfnis kultureller Gleichheit. Die kosmopolitische Tradition hingegen hat jahrzehntelang auf die Verbindung zwischen Rassenphilosophien, Nationalismus und dem modernen Nationalstaat hingewiesen und damit auch auf die Notwendigkeit, dass Europa die EU und die Einwanderung als Chance für eine Befreiung vom Erbe des Nationalismus sehen muss. Statt der Nation, der Rasse oder der Ethnizität müssen in Zukunft die Politik und die politische Öffentlichkeit der Kitt der Gesellschaft sein.

Natürlich gibt es viele schwerwiegende Einwände gegen den Kosmopolitismus: die berechtigte Furcht vor einem globalen Superstaat; Einwände der Nationalisten, dass Demokratie kulturelle Homogenität voraussetzt; oder die klassische Frage, wie groß eine Demokratie eigentlich werden kann – vielleicht kann sie nur einen begrenzten Kreis umfassen, eine Stadt, ein Land, eine Region, um nicht zu zerfallen und inhaltslos zu werden.

Auch der traditionellen Koppelung zwischen einer wurzellosen, privilegierten elitären Gesellschaftsklasse und dem Kosmopolitismus wird Skepsis entgegengebracht. Früher waren es anarchistische Adelige, die von einer Revolution zur nächsten drifteten, heute sind es Experten, die zwischen internationalen Aufträgen und Konferenzen hin und her getrieben werden – Personen ohne soziale Bindung zu Plätzen und Menschen. In ihrem Kielwasser folgt eine globale kulturelle Homogenisierung und kommerzielle Gleichschaltung nach den Bedingungen der multinationalen Großkonzerne, die in letzter Konsequenz alle kleinen Gemeinschaften und damit die Voraussetzungen für vielfältige Formen von Politik auslöschen.

Ein ungelöster Konflikt

Das neu erwachte Interesse am Kosmopolitismus birgt ganz konkret einen ungelösten Konflikt, nämlich den zwischen universellen Werten und lokalen Zusammenhängen. In der Anthologie Cosmopolitics (Hg.: Pheng Cheah und Bruce Robbins) wird dieses klassische Dilemma von einer Reihe Philosophen, Anthropologen und Kultursoziologen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet.

Für Immanuel Kant und die frühen Kosmopoliten war es selbstverständlich, dass eine Anzahl moralischer Grundregeln existierte und an jedem Ort und in allen Zusammenhängen Gültigkeit besaß. Diese Regeln waren natürlich von Europäern aufgestellt worden.

Aber die Vorstellung von universellen Werten ist schon immer kritisiert worden. Gibt es so etwas wie ewige Werte überhaupt? Sind das nicht eigentlich Ausgangspunkte, die durch kritisches Probieren und gemachte Erfahrungen die ganze Zeit verändert, weiterentwickelt und umformuliert werden? Ist ein gewisses Mindestmaß an Werterelativismus nicht unabdingbar für einen Entwurf von Demokratie, der den Dialog und das Gespräch ins Zentrum stellt? Viele Feministinnen und postkoloniale Denker haben außerdem darauf hingewiesen, dass der Universalismus im Allgemeinen eine ungerechte Machtordnung und -ausübung kaschiert. Die universellen Werte werden immer von einem Machtzentrum formuliert und dann der Peripherie aufgezwungen, meinen sie. “I rational. You Jane”, sozusagen.

In der Anthologie werden verschiedene Lösungsansätze für diesen Konflikt präsentiert. Als Gemeinsamkeit kristallisiert sich heraus, dass viele von denen, die sich neuerdings für die kosmopolitischen Ideen interessieren, von der Kritik am Universalimus der vergangenen Jahrzehnte her kommen, mittlerweile aber wieder der Ansicht zuneigen, dass letztlich doch irgendeine Form von globalen Spielregeln und Wertesystemen geschaffen werden muss. Das Interessante daran ist, dass sie versuchen, diesen Ansatz aus einer anderen Perspektive als der der Privilegierten heraus zu formulieren, also aus jener des dominikanischen Migranten, des kurdischen Flüchtlings, des staatenlosen Palästinensers, des besitzlosen Indianers in Chiapas.

Der Anthropologe James Clifford findet dafür den Ausdruck des “Kosmopolitismus ohne universalistische Nostalgie”, und in dem Versuch, Gleichschaltung und Zentralismus zu umgehen, schlägt er ein Modell aus vielen diskrepanten Kosmopolitismen vor.

Ein kosmopolitischer Patriot

Einer der interessantesten Texte der Anthologie ist jener des liberalen Philosophen Kwame Anthony Appiah, der in Ghana geboren ist, aber in den USA lebt und arbeitet. Darin erzählt er, wie er seine kosmopolitische Weltsicht von seinem Vater erbte, den er als “tief verwurzelten Kosmopoliten” beschreibt – ein patriotischer Bürger des multiethnischen Ghana, gleichzeitig aber auch ein kosmopolitischer Patriot. Appiah meint, dass es eine grundlegende Sichtweise war, die sich sowohl aus den kolonialen Einflüssen speiste – sein Vater studierte in London – als auch aus der lokalen Asantekultur.

Sein Vater hatte tiefe Wurzeln an einem Ort und in einer Kultur, war aber der Ansicht, dass Wurzeln, die man nicht mitnehmen kann, wertlos sind. Nach seinem Tod fanden seine Kinder einen Brief, in dem er versuchte, seine Sicht auf die Welt zu formulieren und weiterzugeben. “Vergesst nicht, dass ihr Weltbürger seid”, schrieb er. Sie hätten das Recht zu leben, wo immer auf dieser Welt sie leben wollten, sie müssten deshalb aber auch sicherstellen, dass sie jeden Platz, den sie bewohnt hätte, in besserem Zustand verließen, als sie ihn vorgefunden hätten.

Ein kosmopolitischer Patriot hat also eine moralische und politische Verantwortung, die über die eigene Nation oder das Heimatland hinausgeht, schreibt Appiah. Es ist aber nicht nur ein Verantwortungsgefühl für die Menschheit an sich, sondern bedeutet auch die Erkenntnis, dass es unterschiedliche lokale Formen menschlichen Lebens gibt und dass “wir Menschen aus anderen Kulturen und Traditionen nicht trotz unserer Verschiedenheiten zivilisiert begegnen müssen, sondern dass wir ihnen zivilisiert und menschlich begegnen können aufgrund unserer Verschiedenheiten”.

Die Jahre zwischen dem Mauerfall und den Terroranschlägen gegen New York und Washington ließen den Kosmopolitismus als Lebenseinstellung und Gesellschaftsperspektive wieder aufkommen, aber auch als Interpretation jener Alltagsrealitäten, in denen wir lebten, und Deutung jener grenzüberschreitenden Schicksale, mit denen wir konfrontiert wurden. Der amerikanische Krieg gegen den Terrorismus droht nun, den Kosmopolitismus als realistische und mögliche Gesellschaftsperspektive zu zerstören: die Mauern werden verstärkt, das Nationale wieder betont, Szenarien von Konflikten zwischen abgegrenzten und homogenen Kultursphären werden heraufbeschworen. Aber für Millionen Menschen ist der Kosmopolitismus eine gelebte Erfahrung, die tagtäglich diese Weltordnung untergräbt, die der Krieg gegen den Terrorismus uns aufzuzwingen versucht, indem er den Rahmen darstellt, der wichtige Teile unseres Alltagslebens determiniert. Der Kosmopolitismus offeriert nicht mehr einen Traum oder eine unerreichbare Utopie, sondern einen durchaus realistischen Gegenentwurf zu den repressiven Weltbildern, die propagiert werden.

Das gewaltsame Ende

Und was geschah mit Lotte an der alten steinernen Brücke in Visegrad?

Der Erste Weltkrieg setzte ihrem florierenden Hotelbetrieb ein brutales Ende. Das Dach wurde zerlöchert und der Kugelhagel perforierte die Fassaden. Lotte floh mit ihrer Familie, erlitt auf der Flucht einen Zusammenbruch und zog sich in eine wortlose, apathische Finsternis zurück. Ihre kosmopolitischen Tätigkeiten in dem geheimen Arbeitszimmer in der Dachstube des Hotels hatten bereits vor dem Krieg zu bröckeln begonnen. Die Welt schloss sich immer enger um sie herum, wurde kleiner, zunehmend restriktiver, und Lotte fand sie mit jedem Jahr unverständlicher. Der Krieg bedeutete ein abruptes Ende für ihre Welt. Die 1930er, der nächste Krieg und der nachfolgende Eiserne Vorhang vernichteten nicht nur die Reste ihres Netzwerkes, sondern verwandelten die ganze Lebensweise, mit der sie sich bisher identifiziert hatte, zur bloßen Erinnerung.

Lotte verbrachte ihren Lebensabend als Flüchtling in Sarajevo, eine Stadt, die einige Jahre nachdem ich Andric’ Roman gelesen hatte, eben zum Symbol für Lottes Weltbild werden sollte – ein Versuch, allen Unkenrufen und Widrigkeiten zum Trotz die Idee eines kosmopolitischeren Europas gegen die Bemühungen des Nationalismus um ethnische Homogenität und absolute Grenzen zu verteidigen.

Published 14 December 2002
Original in Swedish
Translated by Sandra Nalepka

Contributed by Arena © Per Wirtén / Arena / Eurozine

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Read in: SV / EN / DE / PT

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