Grenzen der Meinungsfreiheit

Beim Nürnberger Prozess führte Julius Streicher, der Herausgeber der antisemitischen Wochenschrift Der Stürmerzu seiner Verteidigung an, dass er niemanden getötet habe. Er habe nur eine Zeitung herausgegeben. Das war natürlich gelogen. Julius Streicher hatte Millionen Menschen getötet. Nicht mit seinen eigenen Händen (vielleicht auch das), doch mit der öffentlichen Äußerung seiner Meinung. Für diese Äußerungen wurde Julius Streicher am 16. Oktober 1946 in Nürnberg gehängt.

Man könnte einwenden, dass Julius Streichers Äußerungen in einer Demokratie nicht dieselben tödlichen Konsequenzen gehabt hätten, da es dort Gegenstimmen und Gegenkräfte, vor allem aber keine totalitäre Staatsmacht gegeben hätte, die bereit war, jenen Völkermord durchzuführen, zu dem Streichers Äußerungen aufforderten. Doch Julius Streicher hatte den Stürmerbereits 1923 ins Leben gerufen, als Deutschland noch eine Demokratie war, um dann “Woche für Woche, Monat für Monat, den deutschen Geist [the German mind] mit dem Virus des Antisemitismus zu infizieren und das deutsche Volk zu aktiver Verfolgung aufzuwiegeln” (aus dem Gerichtsurteil), und nur aufgrund dieser jahrelangen und konsequenten Verbreitung seiner Meinung wurde er vom Nürnberger Gericht wegen “Verbrechen gegen die Menschlichkeit” zum Tode verurteilt.

Somit wissen wir also, dass Meinungsäußerungen töten können. Heute ist die Veröffentlichung antisemitischer Karikaturen, wie sie damals im Stürmerabgedruckt wurden, nicht mehr möglich. Hätte die Jyllands-Postenes doch getan, hätte kaum jemand das Argument der Zeitung akzeptiert, dass sie nur die Grenzen der Meinungsfreiheit testen wollte. Auch hätte Dänemarks Ministerpräsident es nicht unterlassen, sich von solchen Meinungsäußerungen zu distanzieren. Die meisten hätten die tatsächliche Absicht hinter einer solchen Veröffentlichung durchschaut. Die meisten hätten auch verstanden, dass alles, was sich sagen lässt, dennoch nicht gesagt werden darf und dass die Meinungsfreiheit Grenzen hat.

Nicht einfach irgendetwas zu sagen, stellt eine grundlegende Voraussetzung der menschlichen Kommunikation dar. Allzu oft können wir nicht lügen, weil wir sonst irgendwann von niemandem mehr ernst genommen werden. Nicht immer können wir öffentlich sagen, was wir im privaten Rahmen sehr wohl aussprechen, da, was wir privat sagen, nur jene verstehen müssen, die wir kennen, wohingegen das, was wir in der Öffentlichkeit sagen, auch für andere verständlich sein muss. Dadurch ist das Risiko, von der Öffentlichkeit missverstanden zu werden, ungleich höher.

Dadurch ist natürlich auch das Risiko größer, dass wir mit dem, was wir öffentlich sagen, unabsichtlich jemandem schaden oder jemanden verletzen. Sprechen wir von Verletzen oder Verletzt-Werden, so meinen wir damit üblicherweise das Werk von Worten und nicht das von Messern. Verletzen wir jemanden privat, wissen wir in der Regel, was wir tun, oder begreifen doch, wie unsere Worte auch aufgefasst werden können, bereuen häufig das Gesagte und wünschen vielleicht sogar, dass es nie ausgesprochen worden wäre. Verletzen wir öffentlich, so wissen wir nicht immer, was wir tun, da wir nicht immer vorhersehen können, wie das von uns Gesagte aufgefasst werden wird; vielleicht ist uns das auch gar nicht so wichtig, da wir ja jene Menschen kaum kennen, die wir da verletzen. Das alles setzt also voraus, dass unsere Äußerungen in der Öffentlichkeit auch öffentlich aufgegriffen und diskutiert werden können. Eine ungeschriebene Voraussetzung für Meinungsfreiheit ist ein öffentliches Forum, in dem wirklich Wort gegen Wort gestellt werden kann.

Trotzdem müssen wir auch bei öffentlichen Äußerungen eine gewisse Vorstellung davon haben, wie das von uns Gesagte aufgefasst werden wird, und dies auch dann, wenn unsere dezidierte Absicht die ist, mit unseren Worten zu provozieren und zu verletzen, was sich ja in unserer Tradition der Meinungsfreiheit unter gewissen Voraussetzungen zu einer durchaus legitimen Absicht entwickelt hat. Wer keine solche Vorstellung hat und also darauf pfeift, ob und wie er verstanden wird, vielleicht sogar öffentlich Dinge sagt mit ganz anderer Absicht als der, verstanden zu werden, der hat bestenfalls die Bedingungen der Meinungsfreiheit missverstanden. Eine dänische Tageszeitung, die in einem Land mit starken antimuslimischen Strömungen Karikaturen des Propheten Mohammed veröffentlicht, mit der expliziten Absicht, die Stärke der dänischen Meinungsfreiheit zu demonstrieren, hat entweder nicht verstanden, dass die ohnehin schon massiv angefeindeten dänischen Muslime die Absicht völlig anders auslegen werden – oder aber sie verfolgt gänzlich andere Absichten mit der Veröffentlichung.

Was auch immer zutreffen mag: Nicht die Stärke der dänischen Meinungsfreiheit wurde demonstriert, sondern ihre Schwächung.

Die gesetzlich formell verankerte Meinungsfreiheit in einer Demokratie ist eigentlich nur die sichtbare Spitze eines Eisberges aus informellen sozialen und kulturellen Übereinkünften zwischen den Bürgerinnen und Bürgern einer Gesellschaft darüber, was je nach Kontext öffentlich geäußert werden darf. Wenn wir auf dem Recht beharren, wann immer wo immer was auch immer sagen zu dürfen, reklamieren wir ein Recht, das in der Praxis nicht umsetzbar ist beziehungsweise das sich bei Umsetzung in die Praxis selbst aufheben würde. Wer sich systematisch und mit dem Zweck äußerte, Miss- und Unverständnis zu schaffen, würde damit die Basis für all jene sabotieren, deren Äußerungen auf das Verstandenwerden abzielen. Eine Meinungsfreiheit, die systematisch dafür eingesetzt werden kann, um Unverständnis zu evozieren, wird mit der Zeit unbrauchbar.

Kurz gesagt verlangt die Meinungsfreiheit von den Bürgerinnen und Bürgern einer Gesellschaft ein kontinuierliches “Abgleichen” der Fragen, wie die Meinungsfreiheit angewendet und wie das in der Öffentlichkeit Geäußerte verstanden und ausgelegt werden kann. Was darf ein Pastor in seiner Kirche predigen? Was darf eine Abendzeitung auf ihre Ankündigungsplakate drucken? Was darf eine Tageszeitung öffentlich über Muslime und den Islam schreiben?

Insbesondere Letzteres zeigt die Bedeutung der informellen Übereinkünfte für die Meinungsfreiheit. In der dänischen Öffentlichkeit dürfen seit geraumer Zeit ganz andere Dinge über Muslime und den Islam gesagt werden als in der schwedischen Öffentlichkeit – zum Beispiel, dass Muslime und der Islam nicht nach Dänemark gehören oder dass Muslime Unkraut seien. Das bedeutet nicht, dass die dänische Meinungsfreiheit größer ist als die schwedische. Es bedeutet lediglich, dass das öffentliche Dänemark eine unsichtbare Grenze überschritten hat, die das öffentliche Schweden immer noch respektiert. Der Preis, den Dänemark dafür zu zahlen bereit war, ist die Ausgrenzung der ansässigen Muslime von der “Abgleichung” der Grenzen der Meinungsfreiheit. Ihnen wurde schlicht nicht das Recht zugebilligt, die Bedingungen der öffentlichen Gesprächskultur Dänemarks mitzugestalten. Es wurde davon ausgegangen, dass sie nichts beizutragen hätten, was für “Dänen” von irgendeiner Bedeutung sein könnte. Die dänische Meinungsfreiheit hat somit Konflikte produziert, statt sie zu bearbeiten, was ein Zeichen der Schwäche und nicht der Stärke ist.

Das soll nicht bedeuten, dass es sich hier um ein spezifisch dänisches Problem handelt. Die Dänen sind nur außergewöhnlich schlecht damit umgegangen und haben es somit besonders sichtbar gemacht. Das grundsätzliche Problem liegt darin, dass es im Laufe der gesellschaftlichen Evolution immer schwieriger geworden ist, jene ungeschriebenen Übereinkünfte aufzustellen und aufrechtzuerhalten, die es für eine gesellschaftlich und politisch getragene Meinungsfreiheit braucht.

Dazu ist es zum Teil deshalb gekommen, weil Missverstehen, Missdeuten und Missbrauch von Äußerungen – bewusst oder unbewusst – einfacher ist in einer Gesellschaft, in der die kulturellen, sprachlichen und religiösen Referenzrahmen zahlreicher geworden sind, teilweise auch fremd füreinander, als in einer Gesellschaft, die bis vor kurzem noch überschaubar und vertraut war.

Zum Teil aber auch deshalb, weil die Kommunikationstechnik mittlerweile jeder beliebigen Äußerung aus irgendeinem Kellerloch und mit den verschiedensten Absichten ermöglicht, sich blitzschnell und ohne jegliche Rücksicht auf Sozietäten oder Kulturen in jeder beliebigen Gesellschaft Gehör zu verschaffen. Ist es in einer Gesellschaft völlig undenkbar, Antisemitismus in der nationalen Öffentlichkeit zu propagieren, so kann nichtsdestotrotz antisemitische Propaganda in völlig neuen, abgespaltenen Öffentlichkeiten verbreitet werden, wo ganz andere Regeln und Übereinkünfte gelten, was öffentlich gesagt werden darf und was nicht.

In Großbritannien, wo vor wenigen Monaten der radikal-islamistische Imam Abu Hamza zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe wegen Volksverhetzung verurteilt wurde, können ähnliche oder noch schwerwiegendere Äußerungen von Abu Hamzas Gleichgesinnten ungestraft und unbestrafbar via Cyberspace weiterhin in ganz Großbritannien verbreitet werden.

Meinungsfreiheit ohne gemeinsame öffentliche Foren und soziale Übereinkünfte führt wie im Falle Dänemarks dazu, dass soziale und kulturelle Konflikte geschaffen und verschärft werden, anstatt sie zu artikulieren und nach einer Lösung zu suchen. Wenn die Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft nicht mit- und zueinander sprechen können oder nicht sprechen zu können glauben, werden sie aneinander vorbei und gegeneinander sprechen. Und damit einander sukzessive missverstehen und misstrauen, womit die Meinungsfreiheit unbrauchbar für das öffentliche Gespräch wird, das doch Grundlage und Treibstoff einer Demokratie darstellt.

Heutzutage wird die Meinungsfreiheit nicht von äußerer Zensur und Beschränkungen herausgefordert; an sich kann niemand daran gehindert werden, was auch immer zu wem auch immer in welchem Kontext auch immer zu sagen. Es gelang zwar dem schwedischen Staat, die Schließung der Homepage der Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten) mit den Mohammed-Karikaturen auf einem gewissen Server zu erzwingen, allerdings hinderte dies die Partei nicht daran, die Seite umgehend auf einem anderen Server einzurichten, der außerhalb der Reichweite für schwedische Druckmittel lag. Dass der schwedische Staat überhaupt den Versuch wagte, mit Machtinstrumenten eine öffentliche Meinungsäußerung zu unterbinden, von der ihm doch klar gewesen sein musste, dass sie technisch unmöglich verhindert werden kann, demonstrierte lediglich seine Schwäche und seinen mangelnden Respekt vor den Prinzipien der schwedischen Meinungsfreiheit und bestätigte darüber hinaus auf peinliche Weise die zunehmende Machtlosigkeit der äußeren Zensur.

Nein, die eigentliche Herausforderung an die Meinungsfreiheit stellen mangelnde Selbstzensur und Selbstbeschränkung dar. Diese wiederum wurzeln in der Aufteilung unserer Gesellschaften in immer segregiertere Öffentlichkeiten, zwischen denen keine Gespräche stattfinden und zwischen denen daher informelle Übereinkünfte darüber, was gesagt werden kann und sollte, unmöglich sind.

Den technischen Möglichkeiten des Sich-voneinander-Abwendens oder des Sich-Ausklinkens aus der öffentlichen und stattdessen Einklinkens in eine ganz andere Diskussion gibt es effektiv wenig entgegenzusetzen.

Die Entwicklungen in Dänemark führen uns drastisch vor Augen, wie notwendig für eine funktionierende Demokratie eine Politik ist, die uns nicht zu diesen technischen Möglichkeiten greifen lässt.

Published 26 June 2006
Original in Swedish
Translated by Sandra Nalepka
First published by Wespennest 143 (2006) and Dagens Nyheter, 11 February 2006 (Swedish version)

Contributed by Wespennest © Göran Rosenberg, Eurozine

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Read in: EN / SV / SL / DE

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