Europa testet seine Grenzen

Eine Suchbewegung

Immer wenn ich an einer Universität im Westen oder Süden Deutschlands unterwegs bin und sage, dass es von Berlin bis zur polnischen Grenze nur 80 Kilometer oder eine knappe Stunde Fahrtzeit im Zug sind, dann treffe ich auf ein ungläubiges Staunen. Es gibt die abenteuerlichsten Vorstellungen darüber, was “hinter Berlin” ist. Man kann die Fremdheit immer noch an dem grossen Erstaunen messen, das sich einstellt, wenn man zum ersten Mal Kontakt mit “dem Osten” gehabt hat. Viele sind verblüfft, wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben in Krakau sind. Wenn sie die Warschauer Skyline der neuen Wolkenkratzer sehen, trauen sie ihren Augen nicht. Dass Krakau eine der ältesten Universitätsstädte ist, die man in einem Atemzug mit Padua, Oxford und Heidelberg nennen muss, leuchtet ihnen erst ein, wenn sie dagewesen sind. Kaum jemand weiss, dass die Hauptstadt Lettlands, Riga, neben Brüssel und Barcelona eines der Hauptzentren des europäischen Jugendstil gewesen ist. Viele sind hingerissen, wenn sie endlich einmal in Leningrad/ Sankt Petersburg gewesen sind, und fragen sich, wie es kommt, dass dieses Zentrum europäischer Kultur so fernab, so weit weg, so ausserhalb des westeuropäischen Horizontes liegt. Dies betrifft nicht nur das Durchschnittsbewusstsein, sondern auch die Hochebene der Europapolitik. Noch immer ist das Bild von Europa westeuropa-zentriert. Man denkt zuerst an Brüssel, Strassburg, Luxemburg oder gar Maastricht, wenn man vom neuen Europa spricht, nicht aber an Prag, Warschau oder Budapest, obwohl von dort aus doch ganz Europa in Gang gekommen ist. Und kaum jemand denkt an Kiew, obwohl Kiew einmal die “Mutter aller russischen Städte”, das Zentrum der slawischen Christenheit gewesen ist. Die Wahrnehmung Europas ist durchgängig asymmetrisch. Die östlichen Europäer interessieren sich weitaus mehr für das westliche Europa als umgekehrt. Millionen von Polen, Tschechen, Russen sind im letzten Jahrzehnt unterwegs gewesen und haben sich first-hand-Informationen und Eindrücke vom anderen Europa verschafft – eine vergleichbare Bewegung aus dem westlichen in das östliche Europa hat es nicht gegeben. Das liegt nicht nur daran, dass die Infrastruktur im Westen besser ist oder dass es im Westen mehr zu sehen gibt, sondern auch an einem mangelnden Interesse und an Uninformiertheit bei uns, im Westen. Auch wenn es partiell zutrifft, dass der Osten “rückständiger” und nicht so modern ist, so ist das doch noch kein Grund für die phantastischsten Vorstellungen. Folgt man der Berichterstattung, so gewinnt man manchmal den Eindruck, dass der Osten nur noch aus Chaos, Zusammenbruch und Kriminalität besteht, und man wundert sich, wenn man da ist, dass die Kinder zur Schule gehen, ihrer Arbeit nachgehen und ihr – freilich anstrengendes – Leben führen. Kurzum: Auch östlich von Berlin ist Europa, ein anderes Europa, das es noch zu entdecken und zu verarbeiten gilt.

Ost- und Westeuropa rücken zusammen. Es entsteht ein neues Netzwerk und Koordinatensystem. Mit dem Verschwinden des Eisernen Vorhanges und der Berliner Mauer hat sich das ganze Koordinatensystem in Europa verändert. In Berlin sehe ich Autos mit Autokennzeichen aus Lettland, Russland, der Ukraine und natürlich Polen. Die Entfernungen sind geschrumpft. Städte, die sich ganz fremd gewesen sind, sind Nachbarstädte geworden. Man ist jetzt in knapp fünf Stunden aus Berlin in Prag und Warschau. In zwei Stunden in Stettin und Posen. Das Netz der Flugverbindungen hat sich quantitativ und qualitativ verändert. Man kann heute in viele Städte in der russischen Provinz fliegen. Europa vernetzt sich neu. Ich kann es gut beobachten an der deutschpolnischen Grenze, wo die Karawane der Lastwagen oft in einem 60 Kilometer langen Stau steht. Ganz Europa findet sich auf diesen Truckstops ein: aus Barcelona und Helsinki, aus Neapel und Vilnius, aus Rotterdam und Samara, aus Teheran und London. Es bilden sich neue Hauptverkehrsrouten und Korridore heraus, und neue Grenzen. Die Grosse Grenze – Eiserner Vorhang – gibt es nicht mehr, dafür sehr viele kleine und neue.Wer über das Baltikum von Berlin nach Sankt Petersburg fährt, überquert jetzt mindestens vier Grenzen, wo es früher nur zwei gab.

Das innere Zentrum, die innere Achse von Nachkriegseuropa war der Eiserne Vorhang, die Mauer, die alles geteilt hat. Sie gab Europa eine bipolare Geographie. Die Mauer war das Ordnungsprinzip des geteilten Europa. Das ist jetzt anders. Europa driftet in seine alten historischen Regionen auseinander, zum Teil auf zivilfriedliche Weise – wie in der Tschechoslowakei oder im Baltikum -, zum Teil in gewaltsamer und gewalttätiger Form – wie im späten Jugoslawien oder in der Ex-Sowjetunion, und vielleicht auch im westlichen Europa, wo sich ebenfalls ganz unerwartet die Leidenschaft des nationaleigenständigen Staates zurückgemeldet hat. In Europa treten schärfer als bisher die historisch verschiedenen Regionen wieder hervor: Nordosteuropa um die Ostsee herum. Es handelt sich dabei um den von der Hanse geprägten Raum, der nach dem Wegfall der Spaltung ein erstaunliches Revival erlebt. Im Ostseeraum wird der Traum von Hongkong geträumt: in der Doppelstadt Kopenhagen/Göteborg, in Kaliningrad/Königsberg und in der grössten städtischen Agglomeration an der Ostsee – in der 5-Millionenstadt Sankt-Petersburg. Südosteuropa, der Raum im Einzugsbereich der bedeutendsten Metropole der Region: Istanbul. Dazu gehört – trotz der religiösen Differenz – ein Teil der Schwarzmeer-Region, der Ägäis und des Balkan, bis Bukarest und Sofia. Sogar im russischen Süden, auf der Krim und in der Ukraine spürt man etwas vom Einfluss der osmanisch-europäischen Metropole. Bedeutend erscheint mir hier nicht der Islamismus, sondern die Modernisierungspotenz und die Kraft die 12-Millionen-Metropole Istanbul. Osteuropa im eigentlichen Sinne, d.h. die Russische Föderation, Belarus und die Ukraine. Auch hier ordnen sich die Verhältnisse neu. Am Aufstieg Moskaus zu einer Global City der eurasischen Welt besteht m.E. kein Zweifel, aber auch Minsk und Kiew werden eine grosse Rolle im Netzwerk spielen. Sie werden die Modernisierungszentren ihrer Region sein. Schliesslich Mitteleuropa oder Central Europe, also jene Region, die sich nicht ganz einfach definieren lässt. Sie ist durch die Teilung am massivsten beschädigt worden, findet jetzt aber sehr rasch wieder zusammen – also Städte wie Mailand und Wien, Budapest und Bratislava, Warschau und Vilnius, Lemberg und Krakau, Prag und München. Trotz einer verheerenden Geschichte im 20. Jahrhundert, in der wesentliche und integrale Elemente Mitteleuropas verschwunden sind – vor allem die jüdische und deutsche Diaspora -, gibt es doch nach wie vor ein starkes Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte und Tradition, das auch für die Modernisierung heute noch tragfähig ist. Das eigentlich Westeuropa mit seinen Zentren Brüssel, Luxemburg, Strassburg und noch mehr London, Paris, Amsterdam, mit der grossen Achse der “Blauen Banane” – von Manchester über den Rhein und Frankfurt am Main bis Marseille, Barcelona und Turin -, ist das eigentliche und dynamische Zentrum der Einigung Nachkriegseuropas und wird es wohl auch bleiben. Es ist in vieler Hinsicht die europäische Küste der amerikanisch- transatlantischen Welt, so wie Hellas einmal am römisch beherrschten Mittelmeer gelegen war. Das südliche Europa, wo die Ewige Stadt und das Herz Alteuropas schlug und schlägt, das Zentrum des Abendlandes. Diese Übersicht ist nicht vollständig.Was ich damit nur andeuten wollte, ist, dass dieses polare Europa von einst sich aufgelöst hat in ein multipolares und dass wir mit diesen Verschiedenheiten, diesen Fliehkräften, aber auch mit diesen Stärken rechnen müssen.

Europa lässt sich ja nicht einfach in statistischen Daten oder in der Angabe von Entfernungen in Kilometern erfassen, sondern es ist eine Sache des Kopfes, der kollektiven Erinnerungen, der nationalen Traumata oder Sehnsüchte. Das gilt natürlich besonders für so ein schwieriges und belastetes Verhältnis wie das zwischen den Deutschen und den Völkern des östlichen Europa. Auf Jahrhunderte einer faszinierenden und inspirierenden Kooperation folgte im 20. Jahrhundert eine Phase beispielloser Destruktion, in der das alte Netzwerk deutscher kultureller Beziehungen unterging. Nach dem deutschen Krieg und der deutschen Herrschaft von 1939 bis 1945 konnte nichts mehr sein wie zuvor. Selbst ein halbes Jahrhundert Friedenszeit kann solche Traumatisierungen nicht einfach löschen. Krieg, Verfolgung, Besatzungsregime, Weltanschauungskrieg unter Aufkündigung aller bis dahin geltenden Normen, Völkermord und schliesslich die Reaktion auf all dies in Vertreibung und ethnischer Säuberung – all das hat tiefe Spuren hinterlassen. Andererseits gilt aber auch: Jede Generation macht sich ihr eigenes Bild von der Welt und von der Vergangenheit. Mit neuen Erfahrungen, die man heute macht, kommt auch eine andere Geschichte in den Blick. Die jetzt heranwachsenden Europäer zeichnen sich ihre Europakarte neu. Und darin spielt die Gegenwart vielleicht eine grössere Rolle als die Vergangenheit, von der die jungen Leute nur aus der Erzählung wissen können.

Das Verschwinden des Ostens zieht auch das Ende des alten Westens nach sich. Was Europa die ganze Nachkriegszeit über war, war es durch die Teilung der Welt. Nachkriegseuropa war die Opposition von “Demokratie und Diktatur”, von “Kapitalismus und Sozialismus”, von “Freiheit und Unterdrückung”. Dies sind ideologische Chiffren für die Existenz zweier Hemisphären, zweier verschiedener Formen des “way of life”. Die Teilung bestimmte die geistige Ökonomie des Kontinents. Sie definierte die Alternativen bzw. den Mangel an Alternativen. Man musste sich immer entscheiden. Die Losung Nachkriegseuropas war das Entweder-Oder, die Eindeutigkeit, das Ja oder Nein. Nun gibt es den Osten nicht mehr.Was dort entstanden ist, ist weder das Alte noch auch das Neue. Es ist ein Nicht mehr und ein Noch nicht. Es ist keine Diktatur mehr, aber auch noch keine richtige Demokratie, vielleicht eine Demokratur. Die Eindeutigkeit ist dahin. Der Westen hat seinen Feind im Osten verloren. Die Barbaren, ohne die der Westen offenbar nicht leben kann, kommen heute aus anderen Weltregionen. Was der alte Westen war, war wesentlich Antiwelt, also Anti-Osten, Anti-Kommunismus. Der Spiegel, in den der Westen geblickt hat, ist verschwunden.

Das neue Europa entspringt nicht dem Kopf des Zeus, sondern wächst von unten. Dabei kann uns der neue Osten einiges lehren. In den letzten 10 Jahren haben die Menschen im östlichen Europa eine grosse Umwälzung miterlebt und mitgetragen, von der alle befürchtet haben, sie würde in einer politischen und sozialen Katastrophe enden. Trotz der schrecklichen Kriege in Jugoslawien und im Kaukasus ist die “Transformation” im grossen und ganzen auf friedliche und humane Weise abgelaufen. Obwohl sich die Lebensverhältnisse, einer ganzen Gesellschaft auf zum Teil drastische und brutale Weise geändert haben, kam es zu keinen Aufständen, Revolten oder militanten Konflikten. Die Menschen haben ein Höchstmass an gesellschaftlicher Disziplin, an politischer Weisheit und Geduld an den Tage gelegt. Konfrontiert mit fast ausweglosen Alltagssituationen, rapider Umstellung der Lebensverhältnisse, haben sie die Nerven behalten, verfielen nicht in Hysterie und Panik und entwickelten ein Höchstmass an schöpferischer Improvisation. Dieses wachsende Europa ist nicht identisch mit den strategischen Europaplanungen in Brüssel, Luxemburg und Strassburg. Die zentralen Planungen sprechen immerzu von der “Erweiterung Europas”. In dieser Formulierung stecken verschiedene Illusionen. Erstens: Die Erweiterung der Europäischen Union ist nicht dasselbe wie die Erweiterung Europas. Europa ist auch, was nicht zur EU gehört. Auch das östliche Europa gehört zu Europa. Was das westliche “Kerneuropa” vom östlichen Europa lernen könnte, ist vor allem das Vertrauen in die Erneuerungsfähigkeit von Institutionen, in die Stärke der Basisaktivitäten der zivilen Gesellschaft und in die Improvisationsfähigkeit und Kraft der vielen Individuen. Gesellschaften wie die polnische etwa haben demonstriert, dass tiefgreifende und nachhaltige Umwälzungen, die von den Menschen selbst verstanden und gewünscht werden, auch mit ihnen durchgeführt werden können. Dieses Vertrauen auf die Selbsttätigkeit der Bürgergesellschaft ist aber die wichtigste Voraussetzung für das Gelingendes neuen Europa.

Published 5 January 2005
Original in German
First published by the Pro Helvetia cultural magazine Passages/Passagen, No 36 ("Centrelyuropdriims: Wo liegt Europa?" Frühjahr 2004)

© Karl Schlögel Pro Helvetia, Passages/Passagen Eurozine

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