Ein Knotenpunkt von vielen

Interview mit der Queer-Theoretikerin Jasbir K. Puar zu Fragen des Posthumanismus

Durch ihre Fixierung auf Diskurs, Signifikation und Performativität ist die queere Theorie trotz ihres Interesses für das Nicht-Normative primär humanistisch und sprachgebunden geprägt. Wie Judith Butler einst selbstkritisch kommentierte: “Every time I try to talk about the body, the writing ends up being about language.”1 Jasbir K. Puar, die an der Rutgers University in New Jersey lehrt und gerade den Edward Said Chair of American Studies in Beirut besetzt, hat mit ihrem Buch Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times (2007),2 stark zu einer posthumanistischen Verschiebung beigetragen, wodurch die Fixierungen auf das Humane und Identitäre aufgebrochen werden sollen. Nachdem sie 2011 eine Ausgabe der Zeitschrift Social-Text zum Thema Interspecies herausgegeben hat, arbeitet sie derzeit an einem neuen Buch, das Diskussionen um Gefüge und Affekte mit einer globalisierungskritischen Perspektive verbindet, in denen Fragen von Gesundheit und “Disability” mit Analysen des Neoliberalismus verbunden werden. “Ich wäre lieber eine Cyborg als eine Göttin”,3 hat sie einmal gesagt. Im folgenden Interview spricht Puar über die Möglichkeiten einer (post-)queeren Politik des Posthumanen.

Tim Stüttgen: Ihre Arbeiten, die man als Queer-of-Colour-Interventionen verstehen kann, sind in erster Linie im Kontext politischer Debatten rund um den 11. September, Islamophobie und Homonationalismus diskutiert worden. Ihr theoretischer Ansatz, der sich mit Posthumanismus, Assemblage-Theorien und dem Affective Turn beschäftigt, ist vielleicht noch zu wenig thematisiert worden – auch wenn es eindeutig ist, dass beide Perspektiven ihrer Arbeit miteinander verbunden sind. Wie würden Sie Ihren Zugang bzw. den Nutzen posthumanistischer Diskurse beschreiben?

Jasbir K. Puar: Mein Zugang zum Posthumanismus entstand im Zusammenhang mit Critical Race Studies, Women-of-Colour-Feminismus, Disability Studies und queeren Theorien. In seinen besten Momenten fragt der Posthumanismus danach, wie und warum die Grenzen zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem hergestellt werden. In diesem Kontext interessiert mich zum Beispiel die Beziehung zwischen “Speziesierung” (speciesation) und “Rassifizierung”. Viele posthumanistische Ansätze leiden jedoch an einer oft unmarkierten euroamerikanischen Tendenz, die “das Humane” als transparente Kategorie letztendlich wieder bestärkt. Meine Arbeit ist inspiriert von posthumanistischer Theorie, genauer gesagt bin ich daran interessiert, wie dieses Feld mit anderen Feldern in einen Dialog tritt. Animal Studies, der neue Materialist Turn, Affekttheorien, objektorientierte Philosophie, wie auch das steigende Interesse an “Dingen” und Objekten – sie alle stellen methodologische und politische Herausforderungen im Hinblick auf die Konstruktion des menschlichen Körpers und des humanistischen Subjekts dar.
Das “Post” im Posthumanismus bedeutet für mich jedoch weniger eine konkrete Überwindung des Menschlichen in Richtung des Technologischen oder hin zu einer anderen Spezies. Vielmehr untergräbt der Posthumanismus die Zentralität von menschlichen Körpern und ihre angebliche organische Gebundenheit gegenüber der technologischen Produktion von Körpern und der selten mitgedachten Abhängigkeit von Bewusstsein, Werkzeugen, Körpern und Kultur. Innerhalb solcher diskursiven Netze wird das Humane zu einem von vielen Knotenpunkten, anstatt der zentrale Statthalter für Kategorien, Materie oder Bedeutung zu sein. Solch ein Projekt ist nicht nur relevant für die Gegenwart – es wird von der Gegenwart auch angetrieben, beispielsweise durch Fragestellungen zu menschlicher Auslöschung, Klimawechsel, Chaoskapitalismus, der Abwertung der Ökologie und natürlich durch das Interface mit Technologien: von Handys als Prothesen des Körpers bis zu Drohnenangriffen als Ausweitung des nationalen Körpers.

TS: Nach Foucault wird der Mensch infolge der Biopolitik zur Spezies, die erzogen, beobachtet und getrimmt wird. An Ihrer Arbeit wird deutlich, wie sich durch posthumanistische Perspektiven das Verständnis von Biopolitik verändert.

JKP: Richtig. Biopolitik ist, wie Foucault ausführt, der Prozess, durch den Menschen zu einer Spezies werden und damit in den Kreis aller anderen biologischen Spezies eintreten. Dieses Werden ist der Prozess, durch den anthropomorphe Rahmungen des Menschlichen in Kraft treten und sich verfestigen. Dabei entsteht ein Paradox: Der Animalismus des Menschen geht im Projekt der Bevölkerungskonstruktion auf, während diese zur Spezies wird. So wird der androzentrische Mensch als Ausnahmefall von Animalität reartikuliert, nämlich in Form von Menschlichkeit.

Foucaults Interpretation von Rassismus als “Zäsur im biologischen Spektrum” ist ein wichtiger Impuls für den Posthumanismus, der Race sonst oft als kritische Schwelle der Abgrenzung ignoriert. Aber auch diese Interpretation denkt biologische Differenz immer noch als im Humanen erschaffen, gespalten und angelegt. Auch wenn Foucaults humanistische Neigungen ihn vielleicht von einer tieferen Erforschung einer Biopolitik nonhumaner Spezies abhalten, versteht seine Theorie der Biopolitik den Anthropozentrismus als definierende Facette der Moderne. Was ich biopolitischen Anthropozentrismus nenne, betrifft die biopolitischen Prozesse, welche die Zentralität des Menschlichen – oder bestimmter Menschen – herstellen. Er interessiert sich für jene biopolitischen Analysen, welche die Zentralität der menschlichen Spezies als primären Ort mitdenken, an dem Abspaltungen von Race und Sexualität stattfinden.

TS: Wenn das Humane dezentriert wird, gerät dann auch die Sprache als zentrale Kategorie des Menschlichen in die Krise?

JKP: Sprache als Konzept ist multipel: Mathematik kann zum Beispiel als Sprache verstanden werden, und viele Tiere besitzen Formen der Kommunikation, die als linguistisch kontextualisiert werden könnten. Und doch wird Sprache bizarrerweise als ausschließlich menschliche Eigenschaft angesehen. Sprache ist nicht nur das prägende Element, das Menschen von Tieren unterscheiden soll, sondern – wie Mel Chen schreibt – “die linguistischen Kriterien sind unveränderlich in menschlichen Kategorien zementiert, wodurch eine menschliche Vollmacht etabliert wird, bevor die Diskussion über die linguistische Unterwerfung von Tieren unter Menschen überhaupt beginnt”.
Demnach entscheiden Menschen basierend auf linguistischen Kapazitäten, die durch die menschliche Sprache definiert sind, dass Sprache als menschliche Sprache erscheint, was diese Sprache per definitionem zum Argument macht, Menschen gegenüber nicht-menschlichen Tieren als überlegen herauszustellen.

An dieser Stelle sind zwei Interventionen notwendig: erstens, dass Sprache als multipel verstanden wird; dass sie sich gleichsam durch die Spezies bewegt, anstatt eine Grenze zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem zu markieren. Und zweitens, dass das Primat der Sprache destabilisiert und der Ort des Sprachlichen selbst hinterfragt wird. Dadurch eröffnet sich nicht nur die Frage, was Sprache ist, sondern wir können sie als eine Intensivierung körperlicher Vermögen verstehen, als eine von vielen Formen, durch die der Körper sich artikulieren kann, und als seine von vielen Ebenen, auf der Politik sich ausdrücken kann. Letztendlich kann Sprache dabei auch als eine Form von Materie aufgefasst werden – nicht als gegensätzlich zu Materie, sondern als eine neben vielen anderen Materien.

TS: Sehen Sie in dieser Perspektive nicht auch Gefahren, wenn viele immer noch wirksame Kategorien der Macht dermaßen disqualifiziert werden?

JKP: Meine Arbeit war schon immer in konkreten politischen Paradoxien und Phänomenen verankert, ob es nun der Exzeptionalismus queerer Selbstmorde ist, auf die mit kitschigen, humanistischen Projekten wie Dan Savages It Gets Better-Projekt reagiert wird,4 der Gebrauch von “Pinkwashing” für Projekte des Kriegs und der Besatzung in Israel-Palästina oder die historische Entwicklung von Homonationalismus. Wenn wir über etwas sprechen, das wir “wirkliches Leben” nennen wollen, würde ich im Gegenteil behaupten: dass queere Theorien und Politiken nämlich zu identitär geworden sind, zu beschäftigt mit der Konkretheit von menschlichen Körpern und zu fixiert auf Ideen der politischen Handlungsfähigkeit, die an Individuen und Subjekte gebunden sind.

TS: Durch Ihr Interesse an Assemblage-Theorien und anderen posthumanistischen Ansätzen haben Sie innerhalb der Debatten um Intersektionalität, wie sie in den Gender und Queer Studies geführt werden, einigen Staub aufgewirbelt. Intersektionalität als kritischer Ansatz, der insbesondere aus Women-of-Colour-Kritiken heraus entstanden ist, dezentriert Gender und Sexualität und stellt sie anderen Kategorien wie Race, Class oder Nation gegenüber. Dieser Ansatz, der verschiedene Kategorien addiert, miteinander abgleicht und aufeinander bezieht, scheint Ihnen aber nicht ausreichend.

JKP: Ich bin eine überzeugte Fürsprecherin von intersektionellen Analysen, die die gleichermaßen konstitutiven Kräfte von Race, Class, Sex, Gender und Nation in den Vordergrund stellen, aber ich bin auch an einer Neuformulierung der Assemblage-Theorien beteiligt. Viele Feministinnen, wie zum Beispiel Leslie McCall, definieren Intersektionalität als “wichtigsten Beitrag, den die Women Studies, in Verbindung mit anderen Feldern, bisher entwickelt haben”. Gleichzeitig beobachte ich eine poststrukturalistische Ermüdung gegenüber dem vorhersehbaren, jedoch immer noch notwendigem Bedarf nach der Anerkennung des Subjekts, was mich dazu brachte, in meinem Buch Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times vorzuschlagen, Intersektionalität als intellektuelle Kategorie und als Werkzeug politischer Intervention durch den Begriff “(queere) Assemblage” zu ergänzen oder auch zu komplizieren. Brian Massumi etwa kritisiert Kategorien, wie sie auch bei Intersektionalität mit im Spiel sind, als ein “retrospektives Anordnen von Identitäten” und als “Rückbildung ihrer Realitäten”. Daran anknüpfend sehe auch ich intersektionelle Identitäten eher als Nebenprodukte, die Aktivität von Assemblagen, also komplexen Gefügen aus Subjekten, Technologien und Dingen, die in Bewegung sind, stillzustellen und zu unterdrücken, sie zu kapern und zu reduzieren, sie ihrer subversiven Mobilität zu enteignen. Die Positionierung des Subjekts im Gitter der identitären Markierungen stellt sich nie von selbst her, sie ist immer durch Bewegung hervorgebracht. Epistemologische Korrektive können ontologisches Werden so nicht erfassen, die Komplexität des Prozesses wird kontinuierlich als resultierendes Produkt missverstanden.

Seit der Veröffentlichung des Buchs bin ich oft aufgefordert worden, den politischen Gebrauch von Assemblage-Theorien auszuführen. Letztere scheinen Zweifel aufzuwerfen ob ihrer politischen Anwendbarkeit, während Intersektionalität als erfolgreiches Werkzeug für politische und akademische Transformation definiert wird. Teilweise beruhen diese Zweifel auf der Annahme, dass Repräsentation und die durch sie erfassten Subjekte die dominante, primäre und wirksamste Ebene für politische Intervention darstellen, während eine deleuzianische, nicht-repräsentative und nicht-subjektorientierte Politik als unmöglich erachtet wird. Vielleicht sind diese Bedenken auch ein Symptom dafür, dass die beiden Ansätze als inkompatibel oder gegensätzlich angesehen werden, obwohl Intersektionalität und Assemblage nicht analog sind im Sinne ihres Inhalts, ihres Nutzens oder ihrer Anwendbarkeit.

TS: Die afroamerikanische Rechtstheoretikerin Kimberlé Crenshaw hat das für die Intersektionalität zentrale Bild der Straßenkreuzung (“intersection”) geprägt,5 als wären zum Beispiel Race und Gender zwei Linien, die sich an einem Punkt überkreuzen. Denken wir noch mehr Kategorien und Linien hinzu, wird daraus eine Art Gitter der Identität.

JKP: Kimberlé Crenshaws Bild der Straßenkreuzung ist konstitutiv für die metaphorische Beschwörung der Intersektionalität. In diesem Bild erscheint Intersektionalität als eine Art Gitter, worin Identität positioniert ist, während die Assemblage das ist, was diesem Gitter vorausgeht oder sich ihm entzieht. In diesem Sinne überkreuzen sich Intersektionalität und Assemblage nicht direkt, auch wenn es ein guter Witz wäre, das Bild der Überkreuzung erneut zu bemühen, aber sie räsonieren miteinander. Man könnte auch sagen, dass ich einen affirmativen Dialog zwischen zwei angeblich oppositionellen Ansätzen anregen möchte: einerseits einer intersektionellen feministischen Theorie, die insbesondere dafür bekannt ist, Women of Colour zu berücksichtigen; andererseits einer feministischen Theorie, die sich auf postrepräsentative, posthumane und postsubjektorientierte Konzeptualisierungen des Körpers einlässt. Meine Motivation ist jedoch nicht, die Grenzen und Potenziale von Intersektionalität endgültig auszuloten, um Intersektionalität entweder zu erneuern oder als veraltet und überholt zu denunzieren, sondern sie in einen Dialog mit Gefügen (Assemblages) zu setzen und zu sehen, was man mit beiden im Tandem anstellen kann.

TS: Eine andere relevante Kategorie, mit der Sie und andere versuchen, die queere Theorie zu erneuern, ist die der Temporalität.

JKP: Ich bin an Neukonzeptionen queerer Theorien und queerer Politiken interessiert, die empfänglich gegenüber dem Nichtmenschlichen, dem Cyborg, dem Schwachen und dem ökologisch Prekären sind. Wir sollten diesbezüglich Lee Edelmans Aufruf “No Future” ernstnehmen,6 worin er die Struktur des “Nach-vorne-Schauens” und “An-die-Zukunft-Glaubens” als reproduktive Ideologie des Gemeinsamen kritisiert, welche am stärksten vom Kind repräsentiert wird, das alles einlösen soll, was gescheitert ist. Mich interessiert “No Future” nicht als nihilistische oder todesgetriebene Geste und auch nicht als Polemik, die sich in der Absage an menschliche Reproduktion und dem Kind als ideologischem Statthalter der “guten Zukunft” erschöpft, sondern als ernsthafte politische Geste, der Biopolitik ihre regenerative Vollmacht zu entziehen.

Aus dieser Perspektive frage ich: Was kommt nach der Biopolitik? Wenn die Biopolitik das Begehren nach einem vollkommen gelebten Leben produziert, ein Leben von Dauer, Kapazität und Fruchtbarkeit und eine Fantasie von dem, was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedeuten, die im Statistischen, im Vollkommenen und in der Bevölkerung verankert liegen, sind dann zeitgenössische Bewegungen, die Entsagung und Prekarität hervorheben, schon postbiopolitisch? Machen sie uns nicht bewusst, dass Erzählungen von Entwicklung oder der Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft des Wachstums, der Schulden, des Humanen, der Ökologie und des Kapitalismus gescheitert sind? Während die Strukturen des Regierens und des Kapitals weiterhin auf geradezu beleidigende Art den Mythos des guten Lebens propagieren, interpretiere ich die soziale Ordnung mittels einer anderen Vorstellung von Temporalität, einer, in der Glück und Erfüllung nicht als gegeben oder gegenwärtig aktualisierbar präsentiert werden.

TS: Als neue Analysekategorien beschäftigen Sie sich mit Kapazität und Debilität, mit Vermögen und Schwäche – auf innovative Weise verbinden Sie die Analyse und Kritik am Neoliberalismus mit Fragen von (körperlichem wie geistigem) Vermögen und Behinderung.

JKP: Mein derzeitiges Buchprojekt Affective Politics: States of Debility and Capacity arbeitet mit Ansätzen der Globalisierungstheorie, queerer Theorie und dem derzeit wachsenden Feld der Disability Studies. Dort argumentiere ich, das eine intersektionelle Analyse von Race, Gender, Sexualität, Nation und Disability nicht ausreicht, um die neoliberalen Anforderungen nach zunehmenden körperlichen Befähigungen und die parallel zunehmende Sichtbarkeit von normativen und sogar exzeptionellen Formen von Behinderung zu erfassen. Ich verfolge, wie der Abled/Disabled-Dualismus soziale, geografische und politische Räume durchkreuzt und wie Disability (Behinderung) als Identität durch Menschenrechtsdiskurse zu einer Standardisierung von körperlicher Nützlichkeit und Nutzlosigkeit beiträgt. Diese Standardisierung ignoriert nicht nur die Spezifität von sozialen Kontexten, sondern auch die affektiven Dimensionen von Körpern und ihren Tendenzen, sich identitärer Parameter zu entziehen oder zu widersetzen. Auch hier versuche ich, Intersektionalität und Assemblage-Theorien zu kombinieren, um darüber nachzudenken, wie und warum Körper als erschöpft oder befähigt – und oft sogar beides gleichzeitig – verstanden werden.

TS: Sie sagen, “nichts wird besser”. Ist die Ideologie des “alles wird besser” an ihre Grenzen gekommen?

JKP: Behinderung produziert zwei verschiedene Narrative. Einerseits: “Es wird besser”, andererseits: “Es wird schlimmer” – und wir werden alle irgendwann Behinderte sein. Diese “Krise” ist heute nicht mehr durch ihre Vergänglichkeit markiert, sondern verlängert sich in einer Art Normalisierung des Ausnahmezustands. Die Neukonfiguration von Körpern und Kapital impliziert immense Verschiebungen, die narrativen Strukturen von “Es wird besser/schlechter” gehen in eine neoliberale Struktur über, die es nicht mehr nötig hat, Behinderung und Debilität zu überwinden. Stattdessen blühen sie durch die Schocks des Systems erst richtig auf, und dieses profitiert davon, dass die Krise als normativer Zustand aufrechterhalten wird, sowohl körperlich als auch ökonomisch. Demnach sollten wir nicht nur diskutieren, wie der Neoliberalismus schwächelnde Teile der Bevölkerung angreift, sondern darüber hinaus, wie dieser in die Produktion und Aufrechterhaltung von Disability und Debilität investiert.

Ein Beispiel für die Verschränkung von Disability und Normalisierung des Katastrophenkapitalismus sind die sogenannten “Crippling Debts” – die lähmenden Defizite. Sie lassen sich in biopolitischer Nähe zu physischer, kognitiver und mentaler Verwundbarkeit verorten, die der “Fiscal Health”, der finanziellen Gesundheit als einer Form des Vermögens/der Kapazität gegenübersteht. Schulden als Form der körperlichen Verletzbarkeit zu theoretisieren bedeutet, die historischen und strukturellen Beziehungen zwischen Armut, Krankheit und Behinderung anzuerkennen – zum Beispiel bei der Zerstörung der Umwelt, im Krieg und bei der Ausbeutung der Arbeitskräfte. Gleichzeitig werden bestimmte Formen exzeptioneller Behinderung als kulturelles Kapital neu verhandelt, was Zugang zur medizinischen Versorgung ermöglicht. Im Kontext der finanziellen Enteignung und des Mangels an sozialer Gesundheitsfürsorge in den USA bedeutet Schulden als Debilität/Schwäche zu denken, dass sich ein Profitsystem für das Kapital eröffnet, welches sich vom arbeitenden Körper zum kranken Körper verschiebt. Dieser wird zur fruchtbarsten und reproduktivsten Figur für die zeitgenössische kapitalistische Ausbeutung.

Judith Butler, Undoing Gender. London/New York: Routledge 2004, S. 198.

Jasbir K. Puar, Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times. Duke University Press 2007.

Jasbir K. Puar, Ich wäre lieber eine Cyborg als eine Göttin; http://eipcp.net/transversal/0811/puar/de

Vgl. Dan Savage und Terry Miller (Hg.), It Gets Better: Coming Out, Overcoming Bullying, and Creating a Life Worth Living, Plume, Reprint 2012. Siehe auch die (populistischen) Online-Videos des Projekts: http://www.youtube.com/user/itgetsbetterproject

Vgl. Kimberlé Williams Crenshaw, Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Colour, in: Stanford Law Review, Vol. 43, No. 6, 1991, S. 1241-1299.

Vgl. Lee Edelman, No Future: Queer Theory and the Death Drive, Duke University Press 2004.

Published 9 April 2013
Original in German
First published by Springerin 1/2013

Contributed by Springerin © Tim Stüttgen / Jasbir K. Puar / Springerin / Eurozine

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