Denkpause ohne Gedanken? Wie sich jetzt über die Zukunft der Europäischen Union reden ließe

Possible ways to talk about the future of the EU today

Bereits in 2005 bemerkte der luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker über die offizielle Denkpause, welche die EU sich nach dem deutlichen Nein der Franzosen und Niederländer auferlegt hatte: “Ich sehe die Pause, aber wenig Nachdenken.” An dieser Situation hat sich bis heute nicht viel geändert. Die Regierungschefs Europas haben die Denkpause Mitte 2006 um ein weiteres Jahr verlängert, aber neue grundlegende Visionen bieten sie den europäischen Bürgern nicht an – auch wenn Juncker seinerzeit mit dem in der Europapolitik nicht unüblichen Pathos klagte, die Bürger “liebten” ihre Union nicht mehr, sie rege nicht mehr zum Träumen an. Gleichzeitig möchten die europäischen Eliten aber auch kein prinzipielles Bekenntnis zu einem bewusst visionslosen Pragmatismus abgeben, was an sich ja denkbar wäre. Wie aber soll es dann zu der von Angela Merkel bereits in ihrer ersten europapolitischen Erklärung im Bundestag angemahnten “Neubegründung” Europas kommen?

Hat die scheinbare Gedankenlosigkeit der Pause ihren Grund auch darin, dass die wissenschaftliche Diskussion über Europa-Konzepte in eine Sackgasse geraten ist – und weder Bürgern noch Politikern Gründe für eine Neubegründung liefert? Nicht unbedingt. Theoretisch konkurrieren derzeit drei prinzipielle Visionen der EU, von denen Versatzstücke bisweilen sogar ihren Weg in die politische Debatte finden – ohne dann allerdings immer ein stimmiges Ganzes zu ergeben. Doch gäbe es viele der Vor- und Nachteile dieser Visionen mit Gewinn von den Europäern zu debattieren.

Zum ersten finden sich immer noch versprengte Verfechter der Union als eines zukünftigen “Staates von Nationalstaaten.” Diese oftmals etwas unpräzise als “Föderalisten” bezeichneten Denker haben die – zumindest vorläufig gescheiterte – Verfassung immer als einen notwendigen Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat bezeichnet. Ein solcher Bundesstaat lässt sich auf mancherlei Weise rechtfertigen: Bewusst moralisch, indem man argumentiert, die moralische Substanz der Nationalstaaten sei durch ihre kriegerische Vergangenheit zutiefst kompromittiert, oder als eher praktische Präventivmaßnahme, um die potentiell immer konfliktgierigen Nationalstaaten im Zaume zu halten.

Aber auch aus ganz anderer, in gewisser Weise gar entgegengesetzter Perspektive lässt sich ein EU-Staat fordern: So hat beispielsweise der britische Politikwissenschaftler Glyn Morgan in einem viel beachteten Buch über “Rechtfertigungen des europäischen Superstaates” zu zeigen versucht, dass ein robustes Konzept gesamteuropäischer Sicherheit auch einen gesamteuropäischen Staat verlange; es sei von den europäischen Eliten verantwortungslos, sich in einer permanenten strategischen Abhängigkeit von den USA einzurichten.1 Und dann ist da immer noch das Argument, allein eine starke EU könne das “europäische Sozialmodell” retten.

Die vergangenen Jahre haben deutlich werden lassen, dass es in den europäischen Staaten wohl schlicht keine Mehrheiten für einen europäischen Bundesstaat gibt; nicht zuletzt dies hat die Verfassungsdebatte – entgegen den Intentionen vieler Europa-Enthusiasten – deutlich vor Augen geführt. Diese Skepsis hat berechtigterweise damit zu tun, dass viele der föderalistischen Argumente bei genauer Inspektion eher zweifelhaft sind: So gibt es vor allem das eine europäische Sozialmodell so überhaupt nicht. Die Unterschiede zwischen beispielsweise den skandinavischen Ländern, den Mittelmeerstaaten oder den “liberalen atlantischen Ländern” wie Irland und Großbritannien sind zum Teil sehr viel gravierender als die Differenzen zwischen Europa als ganzem und den USA.

Als bewusste Alternative zur Vision eines europäischen Bundesstaates hat sich in den vergangenen Jahren ein Bild der EU etabliert, das man als “supranationalen Multikulturalismus” bezeichnen könnte. Diese Perspektive läuft auf eine Union zu, deren Aufgabe vor allem darin besteht, Vielfalt und Differenz anzuerkennen – und zu erhalten. Statt ein klassischer, homogener Staat will dieses Europa eine “Gemeinschaft der Verschiedenen” sein, eine Art “People of Others”, um eine Formulierung des einflussreichen Rechtswissenschaftlers Joseph Weiler aufzugreifen. Hier wird Toleranz zur europäischen Kardinaltugend, und der Charakter der Union als Gebilde mit Bundesrecht ohne Bundesstaat gilt nicht als Schwäche, sondern wird Teil einer gesamteuropäischen moralischen “Re-Education”, oder gar Selbstemanzipation. Die Europäer, so hat Weiler es formuliert, sind eingeladen zu gehorchen; zwingen kann sie keiner, da die EU als solche keine legitime Gewalt ausüben kann. Doch Gesetzen zu gehorchen, die “im Namen der Völker Europas” erlassen wurden, sei auch ein Mittel, den inneren Nationalisten immer wieder neu zu bezwingen und sich in Toleranz zu üben. Wie bei den Vertretern des europäischen Bundesstaates wird Europa auch hier zum moralerzieherischen Mittel – nur nicht ganz so offensichtlich.

Die Vordenker des supranationalen Multikulturalismus wollen denn auch unter keinen Umständen eine als bundesstaatliche Demokratie verfasste Union – denkbar sei allenfalls eine sogenannte “Demoi-kratie”, als die Herrschaft nicht eines Volkes oder eines “demos”, sondern von Völkern oder “demoi”, die sich bewusst ihrer Verschiedenheit versichern und diese erhalten möchten. Manches klingt an dieser Vision attraktiv. Es fragt sich nur, wie glaubwürdig europäische Regierungschefs sind, die solch einen supranationalen Multikulturalismus propagieren und gleichzeitig innenpolitisch mit Emphase den vermeintlichen Illusionen von “Multi-Kulti” abschwören – wie dies in fast allen Ländern inzwischen zur politischen Standardrhetorik geworden ist. Wie wollte man das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung willkürlich auf einzelne Politikbereiche oder -ebenen beschränken?

Und, so ließe sich weiter fragen, ist die hehre Rede von “europäischen Kämpfen um Anerkennung” nicht ohnehin eher Deckmantel für die Tatsache, dass es bei “Anerkennung” vor allem um die Anerkennung ganz prosaischer nationaler Regulierungen und Normen geht? Die Franzosen hätten den inzwischen fast sprichwörtlich gewordenen “polnischen Klempner” wohl in seiner ganzen kulturellen Besonderheit anerkannt – so lange er nur zu Hause blieb und sich nicht an bidets zu schaffen machte. Nicht zuletzt deshalb wirkt die Rhetorik von Toleranz oder gar Europa als ein ständiges “Werden” im Munde von europäischen Eliten so schal: Schon vor den Referenden 2005 beschrieben Dominique de Villepin und Jorge Semprún in einem Buch über den “europäischen Menschen” (im Original: L’Homme Européen), dass die Essenz Europas als “reisender Traum”, un rêve qui voyage, zu bezeichnen sei.2 Auch in den Ohren derjenigen, welche Europa nicht als neoliberale Jobvernichtungsmaschine betrachten, müssen solche Preziosen wie Hohn klingen.

Das Vorbild für ein Europa des supranationalen Multikulturalismus ist – auch wenn dies von seinen Vordenkern nicht immer ausgesprochen wird – Kanada – das einzige Land, das gleichzeitig ein Einwanderungsland, ein multinationales politisches Stückwerk und ein Staat ist, der sich das Gebot des Multikulturalismus in die Verfassung geschrieben hat. Aus der implizit kanadischen Perspektive ist denn auch das vorläufige Scheitern des Verfassungsvertrages keine Tragödie: Die Kanadier versuchen seit über zwei Jahrzehnten, sich auf einen “constitutional accord” zu einigen – bisher erfolglos. Doch das eigentlich Wichtige ist nicht das Resultat, sondern, dass der Prozess – oder wie es oft heißt, das Gespräch – immer weitergeht: Es bietet die Möglichkeit, dass immer neue Stimmen sich melden, der Konversation neue Klänge hinzufügen und das Gespräch immer weiter vertieft und gleichzeitig erweitert wird. Kein Wunder, dass man in Kanada inzwischen von dem endlosen konstitutionellen Gespräch spricht, “das wir sind” – ganz, als sei das Land zu einer Nation von Gadamerianern geworden.

Die dritte Vision der EU ist im Grunde keine, sondern eine Rechtfertigung der real existierenden Brüsseler Bürokratie, welche im übrigen an Helmut Schmidts berühmte Bemerkung gemahnt, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Aus dieser technokratischen Perspektive hat Brüssel heute Funktionen inne, die auch innerhalb von Nationalstaaten oft an Institutionen delegiert werden, die nicht demokratisch gewählt sind – Zentralbanken sind das klassische Beispiel (wobei allerdings vielen Vertretern der technokratischen Perspektive bei der Europäischen Zentralbank auch unheimlich wird: Soviel Freiheit hatte auch die Bundesbank nicht).

Die Politikfelder hingegen, denen die Bürger die größte Bedeutung beimessen, bleiben unter der Regie der Mitgliedsstaaten – vor allem Sozialstaat und Bildung. Folglich ist Brüssel keine Regierung in spe, sondern eine regulierende Behörde – und dies oftmals zum Vorteil der europäischen Konsumenten, die beispielsweise bald keine Roaming-Gebühren mehr bezahlen müssen. Und diese Behörde wiederum sei Teil eines Systems von nationalen und supranationalen checks und balances, welche zwar nicht wie eine nationale Demokratie aussähen, aber Brüsseler Willkürherrschaft zuverlässig verhindern würden, so die Argumentation der Technokraten. Für sie ist somit all die Klage über das vermeintliche demokratische Defizit der Union im besten Falle Feuilleton und im schlimmsten eine künstliche von Möchtegern-Madisons am Leben gehaltene Debatte, damit die Forschungsgelder immer schön weiter aus Brüssel fließen.

Über diese drei Euro-Visionen lässt sich mit guten Gründen debattieren – keine geht ganz offensichtlich an der derzeitigen Realität oder den zukünftigen Möglichkeiten der Union vorbei. Der Bundesstaat ist in weite Ferne gerückt, wird aber immer noch in Politikerreden bemüht, als sei ein anderer Endzustand gar nicht denkbar; die Technokraten wiederum sehen sich mit jedem Tag bestätigt, der vergeht und in dem sich die vermeintliche große Legitimationskrise als “Nichtkrise” entpuppt. Die Demoi-kraten hingegen gewinnen derzeit mehr und mehr Anhänger in den Universitäten – wohl auch, weil ihre Vision tendenziell den Status Quo normativ überhöht und fast alle Optionen für die Zukunft offen lässt.

Hier zeigt sich aber auch, dass die Debatte um Europas Zukunft tiefer ansetzen muss als bei der plumpen Frage “Wieviel Europa wollen wir?” Es muss erst einmal klar werden, an welchen Maßstäben man verschiedene Euro-Visionen eigentlich messen will – und nicht alle Maßstäbe sind wiederum miteinander vereinbar oder auch nur vergleichbar. Insofern sind diejenigen, die die Pause wirklich zum Nachdenken nutzen möchten, auf eine viel tiefere Frage zurückgeworfen: Gibt es ein europaweit konsensfähiges oder zumindest mehrheitsfähiges Politikverständnis? Sollte die Antwort hier negativ ausfallen, ist vielleicht das prinzipielle Bekenntnis zum Pragmatismus, und zur Union als einer Art “Commonwealth”, bis auf weiteres noch die ehrlichste Alternative zu allen hochgesteckten Visionen. Das klassische Hai- beziehungsweise Fahrrad-Argument – die EU müsse sich ständig fortbewegen, um nicht zu sterben oder umzufallen und sei deshalb stets auf neue Großprojekte am Horizont angewiesen – ist empirisch nicht haltbar: Die Pause mag für Föderalisten frustrierend sein, aber sie beweist auch, dass eine EU, die stillsteht, nicht gleich sterben muss. Diese Tatsache wird wohl nicht ohne weiteres von den Brüsseler Eliten zugegeben werden: ihre Rhetorik schwant noch immer zwischen Weltuntergangsstimmung und der Art von Euro-PR, die man schon vor den Referenden erleben konnte und bei der es immer nur darum geht, wie sich die Union am besten “verkaufen” ließe.

Glyn Morgan, The Idea of a Europan Superstate (Princeton, 2005)

Domnique de Villepin und Jorge Semprún, L¹Homme Européen (Paris, 2005)

Published 23 March 2007
Original in German
First published by IWM Post 94 (Fall 2006)

© Jan-Werner Müller/IWM Eurozine

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