Das Versagen der politischen Mitte

The EU and the rise of right-wing populism

Photo: Derek Bridges. Source: Flickr

Überall in Europa – von Finnland bis Griechenland – sprießen dieser Tage rechtspopulistische Parteien wie Pilze aus dem Boden. Die Ursache dafür liegt nicht zuletzt in den kolossalen Verletzungen demokratischer Gebote in der EU sowie in der Dominanz des Ökonomischen, durch die Entkoppelung von wirtschaftlichem und politischem Raum.1

Die sogenannten Populisten opponieren gegen die EU. Sie brechen die klassischen Parteiensysteme auf und sorgen so auch für die Erosion der nationalen Demokratien. Der Populismus wird daher gemeinhin als Bedrohung für die liberalen demokratischen Gesellschaften gebrandmarkt. Europa hat aber nur in zweiter Linie ein Populismusproblem. Sein größtes Problem ist die politische Mitte!

Denn die politische Mitte ist nicht in der Lage – oder nicht willens –, die real existierende EU als eine Vergewaltigung der Demokratie anzuprangern. Auch fühlt sie sich nicht bemüßigt, die EU in Richtung auf eine echte transnationale Demokratie hin weiterzuentwickeln und dabei besonders die positive politische und soziale Integration in Europa in den Mittelpunkt zu stellen. Die EU ist nicht in der Lage, aus ihrer politischen Selbstverleugnung herauszutreten. Das ist das eigentliche Problem in Europa!

Der europäische Populismus kommt immer mit zwei Gesichtern daher. Das eine ist ein Antieurogesicht, das andere Gesicht wendet sich gegen Migration und “Überfremdung”. Beide Gesichter verbinden Marine Le Pen mit Viktor Orbán, die “Wahren Finnen” mit der FPÖ oder die Schwedendemokraten mit Geert Wilders. Die deutsche AfD glaubte unter Bernd Lucke noch, sie könne das hässliche zweite Gesicht hinter ihrem professoralen Antieurogesicht verstecken, bevor Frauke Petry und Björn Höcke die xenophobe Fratze der Partei auch öffentlich zeigten.

Die Antimigrationsfratze der europäischen Populisten macht es der politischen Mitte leicht, sich in moralische Überheblichkeit zu flüchten. Diese Überheblichkeit versperrt jedoch den Blick darauf, dass die Populisten mit ihrer Eurokritik einen sehr wunden Punkt des Euro-Governance-Systems treffen: Der Euro kann zwar funktionieren, ist aber nicht demokratisch. Was Marine Le Pen und ihre fellows kritisieren, nämlich die europäische Postdemokratie, ist nicht sonderlich originell und findet sich als Tatbestand und Kritik in so ziemlich jeder wissenschaftlichen Analyse angesehener Politik- und Sozialwissenschaftler. Ganze Bibliotheken lehren uns, dass der Euro nicht ausreichend legitimiert und der europäische Parlamentarismus brüchig ist.2 Der Euro kann die soziale Kohäsion in Europa nicht gewährleisten. Nur wollten wir dieses Wissen jahrzehntelang nicht in die europäischen Parlamente transportieren. Wenn das jemand im politischen Raum laut sagt, kann er schnell in die Gefahr geraten, als Populist zu gelten.

Der gemeine Pegida-Spruch “Wir sind das Volk” spiegelt für alle auf unangenehm grelle Weise die Tatsache wider, dass Bürger und nicht Staaten souverän sind – nicht im plebiszitären Sinn, aber sie legitimieren als souveränes Kollektiv die parlamentarische Repräsentation. Folgt man dem Versuch einer Theorie des Populismus von Jan-Werner Müller,3 dann ist jemand noch lange kein Populist, nur weil er der Herrschaftsmeinung von nationalen oder europäischen Eliten widerspricht. Marine Le Pen wäre mithin noch keine Populistin oder gar pathologisch, nur weil sie berechtigte Kritik an der derzeitigen Europolitik in Frankreich geltend macht.

Bloßes Moralisieren ist keine Lösung

Anstatt die Ursachen des populistischen Votums ernst zu nehmen und anzuerkennen, dass es dafür reale Gründe eines Systemversagens gibt, welches soziale und kulturelle Exklusion produziert, reagiert die politische Klasse oft selbstgefällig moralisch: Das eigene Argument wird ethisch überhöht, Rechtspopulisten gelten als nicht integer, irrational, böswillig oder gefährlich, wobei die identitären Bedürfnisse der Globalisierungsverlierer als konkurrierende Werteordnung oder als einfach andere politische Meinung nicht anerkannt werden.

Das geflügelte Wort dafür ist heute “Polarisieren”: Wer der Mitte nicht beipflichtet, der polarisiert. Dadurch werden die Argumente der anderen nicht pariert, sondern nur politisch entwertet, und dem demokratischen Diskurs wird mithin selbst die Grundlage entzogen: Er muss zwangsläufig erodieren, wenn die politischen Argumente a priori nicht gleichwertig sind und Konsens über Dissens gestellt wird. Mit der Ausgrenzung der Populisten beginnt also der Verfall der Demokratie.

Dies ist nun wahrlich nicht zur Verteidigung, gar zur Entschuldigung von Einlassungen von AfD-Stimmungsmachern à la Björn Höcke oder André Poggenburg gemeint; indes ist die Frage aufzuwerfen, warum es ihnen beiden gelingt, in Thüringen respektive Sachsen-Anhalt die AfD auf inzwischen satte 15 oder gar 24 Prozent zu bringen. Ein Grund dafür: Das sachlich Richtige darf nicht benannt werden und wird in die populistische Ecke gerückt. Im alltäglichen Klein-Klein scheiterte daran sogar jüngst die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Europäischen Parlament zur Juncker-Steueraffäre, den die Linke und die Grünen nicht einsetzen wollten, weil sie zusammen mit den Rechtspopulisten hätten stimmen müssen.4

Politiker an den Galgen: Europa im vorrevolutionären Zustand

So sind wir in Europa längst bei einer Art vorrevolutionärem Zustand5 angekommen – und haben es nicht gemerkt. Die Galgen in Dresden während der Pegida-Demonstrationen sind ein Symbol dafür. Vorrevolutionär heißt, dass sich Menschen gegen das System stellen, weil sie die vermeintliche Alternativlosigkeit von Politik – oder ihre kaschierte Korruptheit und Rechtsbrüchigkeit – nicht länger akzeptieren. Genau das passiert derzeit allenthalben in Europa. Der Zulauf für populistische Parteien liegt europaweit – je nach Land schwankend – inzwischen bei 30 Prozent. Wo die EU faktisch keine Opposition und keine Reversibilität von Entscheidungen erlaubt, bleibt – rechts wie links – nur die Flucht in die Systemkritik und in neue Parteien. Das ist genau das, was der berühmte amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Albert O. Hirschman schon 1970 auf die Formel exit, voice, loyalty gebracht hat. Wenn man einem System gegenüber nicht mehr loyal sein kann (loyalty) und die eigenen Stimme nicht mehr gehört wird (voice), muss man das System verlassen (exit). Wer gegen die augenblickliche EU-Politik ist, muss gegen das EU-System sein. Und das sind derzeit immer mehr. Nicht der Populismus bedroht also die EU, sondern die EU produziert den europäischen Populismus. Wo EU-Politik als alternativlos ausgegeben wird, provoziert sie Systemgegnerschaft. Der postdemokratische Zustand der EU bietet zwar ein formales, aber wirkungsloses Demokratieangebot durch die Wahlen zum Europäischen Parlament. Doch die EU hält das funktionale Versprechen einer Demokratie nicht ein, die immer auch andere Politik hervorbringen können muss.

Mehr noch: Gleichzeitig zerstört die EU die funktionalen Demokratien auf nationaler Ebene, indem sie den Staaten zum Beispiel über das sogenannte Europäische Semester und die Haushaltskontrolle zentrale soziale Steuerungsmechanismen entzieht. Merke: Im Niemandsland zwischen europäischer Postdemokratie und nationaler Formaldemokratie von meist großen Koalitionen der politischen Mitte gedeiht der europäische Populismus heute und künftig prächtig.

Der europäische Populismus hat also eine reelle Grundlage, die die politische Mitte nicht zu akzeptieren, geschweige denn systemisch zu korrigieren bereit ist. Der größte Nährboden für die augenblickliche Fremdenfeindlichkeit, die derzeit durch das europäische Flüchtlingsdrama befördert wird, ist – abgesehen von unverbesserlichen Neonazis und Xenophoben6 – ein anhaltendes, postdemokratisches Euromissmanagement, das eine soziale Krise ungekannten Ausmaßes und kolossale Politikverdrossenheit produziert hat. Frank Richter spricht in diesem Zusammenhang mit dem Klassiker von Hans-Joachim Maaz von einem “Gefühlsstau” und betont, dass Ausgrenzung oder gar Herablassung (beispielsweise von “Pack” zu sprechen) keine Lösung ist. Überraschenderweise haben kürzlich auch “linke Konservative” in ähnlicher Weise argumentiert und das rechtspopulistische Aufbegehren als Symptom für realpolitisches Politikversagen genommen.7

Die zunehmend sozial verunsicherten Mittelschichten werden jetzt in Finnland wie in Deutschland, in den Niederlanden wie in Frankreich zur leichten Beute für die Sirenen rassistischer Parolen, weil ihre eigenen bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte zuvor mit Füßen getreten wurden. Wenn morsche Systeme zusammenbrechen, geht das meistens schneller, als man denkt. Und immer wird unterschätzt, wie mitleidlos diejenigen, die vom System nie profitieren konnten, es zum Einsturz bringen. Dass der EU viele Tränen nachgeweint werden, dürfte jedenfalls eine Fehlannahme sein – und wenn, dann werden es bestenfalls Krokodilstränen sein.

Empirische Studien belegen inzwischen eine eindeutige Korrelation zwischen Armut und Wahlbeteiligung: Arm wählt nicht. Und leider nicht ohne Grund: Wahlen bieten keine reale Politikalternative mehr und damit keine Hoffnung auf eine mögliche Verbesserung des eigenen Lebens, weswegen vor allem sozial Deklassierte erst gar nicht mehr wählen gehen. In seinem Buch “The society of equals” bringt der französische Soziologe Pierre Rosanvallon dieses Problem auf den Punkt, wenn er schreibt, dass es bei Demokratie, mehr als um formale Partizipation, um soziale Gleichheit geht und dabei an den Grundsatz der Französischen Revolution erinnert: liberté, égalité, fraternité.8Freiheit ist nur mit Gleichheit zusammen denkbar. Wo formale Demokratie angeboten, die soziale Frage aber nicht gelöst bzw. das Gleichheitsversprechen der Gesellschaft nicht eingelöst wird – wenigstens bis zu einem gewissen Grad –, da hat das demokratische System versagt, weil es seine Funktion nicht mehr erfüllt.

Dass die Einkommensschere, vor allem die Spreizung der Vermögensverhältnisse in ganz Europa heute immer weiter auseinandergeht, ist inzwischen umfassend dokumentiert.9 Es pfeifen schon die Spatzen von den Dächern. Mehr noch als um Partizipation geht es bei der Demokratie um die Erhaltung sozialer Körper. Die Lösung dieses Problems liegt darum nicht in erster Linie in der Verunglimpfung von Pegida-Demonstranten, FPÖ oder Front-National-Wählern, sondern in der Gestaltung demokratischer europäischer Verhältnisse und einer sozialverträglichen Politik in Europa. Und zwar in der Fläche.

Das Versagen der EU

Die EU vermag diese Lösung derzeit nicht hervorbringen, denn sie kann weder Sozial- noch wirkliche Strukturpolitik machen. Ihre Aufgabe ist weitgehend reduziert auf die Verwirklichung eines Binnenmarktes. Darum kommt die EU an das Vokabular und an den Instrumentenkasten sozialverträglicher Politik gar nicht erst heran. Mit einem Budget von rund 100 Mrd. Euro, derzeit rund 0,9 Prozent des europäischen BIP, einem lächerlichen Bruchteil, hat sie auch gar nicht die Mittel dazu.

Durch eine Binnenmarktpolitik, die maßgeblich mit den Begriffen Strukturreform, Effizienz, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit verhandelt wird und bei der Vergabe von Strukturfonds-Mitteln eine Pro-Kopf-Koppelung hat, fallen vor allem die ländlichen Regionen in ganz Europa aus der Wertschöpfungskette heraus. Abgesehen von wenigen Ausnahmen10 werden sie zu Almosenempfängern.

Das soziale Problem Europas ist heute im Wesentlichen ein Stadt-Land- und ein Zentrum-Peripherie-Problem.11 In den verödeten und zersiedelten ländlichen Regionen wählen besonders viele Menschen die Rechtspopulisten – von UKIP über die FPÖ bis hin zum Front National. UKIP floriert im deindustrialisierten Norden Englands, der Front National in den sogenannten centres péri-urbains, den strukturschwachen Regionen Frankreichs, und die FPÖ in der Steiermark oder in Niederösterreich. Die einseitige Binnenmarktphilosophie, auf der die heutige EU beruht, treibt diese meist ländlichen Globalisierungsverlierer geradezu in den Populismus.

Unter dem Druck des europäischen Austeritätsregimes und dem Erstarken der Rechtspopulisten flüchten die betroffenen Länder ins Nationale, wie es in Ungarn, Frankreich und Polen – aber nicht nur da – schon lange zu beobachten ist. Wo die nationalen politischen Systeme der populistischen Herausforderung nicht mehr Herr werden und wo außerdem die nationale Politik vor allem in den Bereichen Wirtschaft und Soziales von der EU massiv eingeengt ist, da rücken ganze Systeme nach rechts, da erliegen ganze Staaten der Versuchung einfacher Lösungen, nationaler Fantasien oder jahrelanger großer Koalitionen.

Nicolas Sarkozy versuchte schon bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2012, Marine Le Pen rechts zu überholen. 2017 dürfte er es wieder versuchen. Ähnlich hält es die österreichische ÖVP – und ein Teil der CDU liebäugelt längst mit Positionen der AfD. Die Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen haben gezeigt, wie sehr auch die deutsche Parteienlandschaft ins Rutschen gekommen ist, und sie geben einen Vorgeschmack auf das, was uns möglicherweise bei den Bundestagswahlen im Herbst 2017 bevorsteht.
Die große Koalition als letzter “Rettungsanker der politischen Mitte”

Die große Koalition ist dabei zumeist der (letzte) Rettungsanker der politischen Mitte in den Ländern, die im Euro sind und die der fatalen Europolitik mithin nicht entkommen können. Für die anderen wird die komplette nationale Abschottung zur Option (siehe Ungarn, Polen und den Großteil der osteuropäischen Staaten) oder der Austritt (Großbritannien). Wo die europäische Demokratie nicht im politischen Angebot ist, bleibt die Fiktion des nationalen “Besser alleine”.

Zugleich ist uns die konzeptionelle Klarheit darüber abhandengekommen, was Demokratie eigentlich bedeutet. Begriffe wie “autoritär” oder “legitim” sind relativ und mithin fast beliebig geworden. Legitim war bis dato eine Vokabel, die Demokratien – in Gegensatz zu autoritären Regimen – charakterisiert hat, während autoritäre Regime als illegitim galten.12 Wir empfinden Viktor Orbán in Ungarn und die neue polnische Regierung als undemokratisch – und das sind sie auch, wenn jetzt in Polen wie zuvor in Ungarn zentrale Verfassungsprinzipien ausgehebelt werden, so etwa die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts oder die freie Presse. Aber sie wurden von der Mehrheit gewählt. Was also machen wir mit gewählten Autokraten, die ihre Opposition unterdrücken?

Solange wir am Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität in Europa festhalten und nicht auf eine wirklich demokratische Union abzielen, kann die EU derartige Entwicklungen zwar monieren, wie jetzt im offiziellen Rechtsstaatlichkeitsverfahren, letztlich kann sie aber nichts an der faktischen Beseitigung rechtsstaatlich-demokratischer Zustände ändern. Auf diese Weise produzieren die EU und die Nationalstaaten ihre jeweilige Misere wechselseitig.

Weil zu lange in diesem politischen Zwitterzustand verweilt wurde, ist die erforderliche gesellschaftlich Basis, um das politische Europa zu gestalten, längst erodiert. Die Mehrheit für Europa schwindet, wenn sie nicht schon verloren ist. Ein demokratisches Europa ist ja derzeit auch gar nicht im Angebot, sondern immer nur mehr EU und mehr Integration, also mehr von demselben. Referenden werden gefürchtet. Eine überfällige europäische Vertragsreform ist nicht in Sicht. Derweil grätscht die EU in die Nationalstaaten, die sich ihr jedoch zunehmend verweigern. In der Konsequenz verlieren wir die Demokratie auf nationaler Ebene und haben sie auf europäischer zugleich noch nie erreicht. Kurzum: Die Demokratie wird soeben im politischen Vakuum zwischen EU und Nationalstaat versenkt.

Neue Generationen oder: Der Populismus erzieht seine Kinder

Als wenn dieser sich selbst verstärkende, fast mechanische Effekt nicht schon schlimm genug wäre, addiert sich dazu eine deprimierende Generationendynamik, die dazu führt, dass junge Eliten vor allem in Osteuropa (aber nicht nur dort) gleichsam historische Analphabeten sind: Den europäischen Geist der Väter des Maastrichter Vertrages (ever closer union) haben sie nie eingeatmet. Das ist und war auch nie ihr Ziel.

Außerdem erzieht dort der Populismus seine Kinder, und zwar besser als die liberalen Demokratien des Westens. Wer schon einmal das zweifelhafte Vergnügen hatte, mit den Orbán-Jüngern der Fidesz-Partei zu diskutieren, der weiß, wovon ich spreche. Wer würde da noch behaupten, dass klassisches brainwashing heute nicht mehr funktionieren würde! Oder dass wir in Ungarn eine in kritischer Theorie geschulte Jugend hätten! Und Polen steht jetzt wahrscheinlich das Gleiche bevor, nur viel schneller und offensichtlicher als in Ungarn. Wahrscheinlich weiß die polnische Jugend vor lauter patriotischer Presse und Erziehung bald auch nicht mehr, was Europa eigentlich ist oder einmal sein sollte.

Die Ohnmacht gegenüber solchen sich verstetigenden Prozessen macht auch die ehemaligen Gründungsstaaten des europäischen Projekts zaghaft und kleinlaut. In Frankreich ist der Mut zu Europa schon lange versiegt. Aber auch in den Niederlanden will inzwischen jeder Vierte die EU verlassen. Somit bleiben zwar 75 Prozent Niederländer, die dies nicht wollen, allerdings schauen die politischen Niederlande jenen 25 Prozent Verweigerern auf den Mund. Der EU-Vizekommissar und Niederländer Frans Timmermans formulierte in seiner Ansprache zur Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch die Niederlande zu Jahresbeginn 2016: “So europäisch wie nötig, so national wie möglich.” Das hörte sich in den 1990er Jahren noch ganz anders an.

Doch auch die jüngste Renationalisierung erfolgt unter dem Druck der Rechtspopulisten. Und die real existierende EU bietet den Geert Wilders, Marine Le Pens und Heinz-Christian Straches dafür ausreichend Angriffsfläche: Die soziale Umverteilung über die Sozialversicherungen liegt allein in nationalstaatlicher Hand, ebenso die Lohnfindung und die Ausgestaltung von Arbeitsbeziehungen. So konnten in Griechenland und anderswo im Wesentlichen zwar die Banken, nicht aber die Bürger gerettet werden. Eine europäische Arbeitslosenversicherung,13 die vor allem das griechische Elend hätte abfedern können und einen sozialen Puffer für die dort notwendigen Strukturmaßnahmen bieten könnte, ist im gegenwärtigen EU-System nicht denkbar. Eingeschnürt zwischen einer Währung ohne Abwertungspotential und europäischen Sparauflagen waren Lohnkürzungen, Steuererhöhungen und ein radikaler Schnitt bei sozialen Leistungen die (vermeintlich) einzigen Mittel der unbekömmlichen Kur. Dass das in ganz Südeuropa weder wirtschaftlich noch sozial, noch politisch funktioniert hat, wissen wir spätestens heute.

Die größte Gefahr für Europa besteht darin, dass die politische Mitte diese Situation weiterhin kollektiv verdrängt. Das eigentliche Versäumnis heißt: nicht genau hinzuschauen – und einfach immer so weiterzumachen wie bisher. Das vorrevolutionäre populistische Potential wird kleingeredet oder moralisch diskreditiert. Mithin wird die dauerhafte Destabilisierung der politischen Parteiensysteme in Europa billigend in Kauf genommen, in der Hoffnung, der europäische Populismus könne dahinschmelzen, wenn die EU nur ein paar Prozentpunkte Wachstum mehr generiert – die sich indes ohnehin nicht am wirtschaftlichen Horizont abzeichnen. Sie schaufelt sich dadurch womöglich ihr eigenes Grab.

Es lebe Europa, es lebe die Republik

Ohne eine grundlegende Reform – in Richtung auf mehr Demokratie – wird die EU keine Chance haben. Das Problem ist nur, dass es in der EU keine wirkliche politische Opposition gibt und dass Entscheidungen de facto nicht mehr umkehrbar sind. EU-Politik vollzieht sich weitgehend ohne Korrektiv. Die viel beschworene “Politisierung” findet kaum statt, der Weg zu ihr ist systemisch verbaut.

Das Europäische Parlament kann sich gar nicht politisieren, wie im europäischen Diskurs oft gewünscht wird. Es muss fast immer in einer “großen Koalition”, also überparteilich, abstimmen, um überhaupt den Europäischen Rat und seine nationalen Querschüsse parieren zu können, denn um den Europäischen Rat zu überstimmen, braucht es eine Zweidrittelmehrheit. Das Europäische Parlament ist also im Wesentlichen “entpolitisiert” und bildet in über 90 Prozent der Abstimmungen Mehrheiten von 70 Prozent + x, um den Europäischen Rat zu überstimmen.

Und das gleiche Problem findet sich auf der ökonomischen Ebene: Solange der Euroraum nicht als einheitliche Volkswirtschaft mit einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung verstanden und konzipiert wird, sind die Folgen der Eurokrise nicht demokratisch und für alle europäischen Bürger gleichermaßen sozial ausgewogen zu überwinden. Es gilt also, die gerechte Teilhabe aller Bürger des Euroraums am aggregierten Gewinn der Eurozone zu organisieren.14

Und auch dazu bedarf es vor allem einer transnationalen parlamentarischen Demokratie, in der alle europäischen Bürger politisch – also mit Blick auf Wahlen – und vor dem Recht – mit Blick auf das Steuerrecht und den Zugang zu sozialen Rechten – gleichgestellt sein müssen. Sonst werden Staaten und ihre Bürger weiter zueinander in Konkurrenz gesetzt, wie es derzeit in der EU der Fall ist – mit den absehbaren Folgen, sprich einem weiteren Aufstieg der Rechtspopulisten.

Denn innerhalb eines Währungsraums wird mit ungleichen sozialen Standards, mit ungleichen Steuern, Löhnen und sozialen Rechten operiert. Nach der Euroeinführung ist also vor der Euroeinführung. Will sagen: Ohne politische Union kann der Euro zwar funktionieren, aber eben nicht demokratisch, sondern nur postdemokratisch wie jetzt.

Jede wirkliche demokratische Union muss aber auf der politischen und bürgerlichen Gleichheit ihrer Bürger beruhen. Gleichheit der Bürger in Europa können die Nationalstaaten heute jedoch nicht gewähren. Das ist die Lebenslüge der “Vereinigten Staaten von Europa”. Damit ist mehr Integration nicht die Lösung.

Nein, Europa muss umgestülpt, also vom Kopf auf die Füße gestellt und vom Gleichheitsgrundsatz der Bürger her völlig neu gedacht werden. Nur politische und bürgerliche Gleichheit würden das europäische System langfristig stabilisieren – und damit seiner faktischen Erosion ein Ende machen. Das aber kann nur gelingen mittels einer europäischen Staatsbürgerschaft aller Bürgerinnen und Bürger – in einer gemeinsamen, postnationalen europäischen Republik.

Der Beitrag basiert auf "Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie", dem aktuellen Buch der Autorin, das soeben im Dietz-Verlag erschienen ist.

Die Literatur hierzu ist fast unüberschaubar. Beispielhaft und als guter Überblick sei daher für diejenigen, die sich einlesen wollen, nur genannt: Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit, Suhrkamp, Berlin 2013; Fritz Scharpf, Das Dilemma der supranationalen Demokratie, in: "Leviathan", 1/2015; Jürgen Habermas: Warum der Ausbau der Europäischen Union zu einer supranationalen Demokratie nötig und wie er möglich ist, in: "Leviathan", 4/2014, S. 524-539; Claus Offe, Europa entrapped, London 2015; Fritz Scharpf, Deliberative Demokratie in der europäischen Mehrebenenpolitik, in: "Leviathan", 2/2015, S. 155-166.

Jan-Werner Müller, Zu einer politischen Theorie des Populismus, in: "Transit", 4/2013, S. 62-71.

Das ästhetische Prinzip von form follows function wird hier durchbrochen: Die Form, nicht die Funktion bestimmt die Politik in der EU. Die Wiedererlangung der politischen Ästhetik in Europa müsste hier ansetzen.

Die ersten Bücher, die den Begriff einer "europäischen Revolution" im Titel führen, sind bereits auf dem Markt, vgl. Peter Trawny, Europa und die Revolution, Berlin 2015. Revolution -- vom Lateinischen revolver -- bedeutet im Wortsinn etwa zurückrollen, zurück an den Ursprung rollen.

Manfred Güllner vom Forsa-Institut differenziert in einem Beitrag des Deutschlandfunks vom 2.1.2016: Das eigentliche Problem sind weniger die 4 Prozent radikalen Antidemokraten, die entschieden bekämpft werden müssen -- vor allem, wenn jetzt öffentlich Forderungen nach Schießbefehlen an Grenzen erhoben werden --, sondern die frustrierten Nichtwähler. Der Wahlakt ist aber anonym. Insofern bieten die radikalen Antidemokraten die Bühne und die Plattform, um vielen enttäuschten und verbitterten Wählern eine Gelegenheit zur Proteststimme zu geben.

Vgl. den ausgezeichneten Vortrag von Frank Richter bei den Karlsruher Gesprächen des Zentrums für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium General (ZAK) am 21.2.2016 (YouTube-Kanal ZAK); vgl. dazu auch die jüngste Debatte von Philosophen wie etwa Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski in: "Cicero", 1/2016 und 2/2016, siehe dazu: Albrecht von Lucke, Der Triumph der AfD, in: "Blätter", 3/2016, S. 5-8.

Pierre Rosanvallon, The society of euals, Harvard University Press, Cambridge und London 2013, (Kindle-Edition, Position 1-7 und ff.).

Rosanvallon, op. cit., hat einschlägige Zahlen zu Frankreich, laut denen die Vermögensspreizung heute identisch mit der von 1913 ist. Bei Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, findet man ausführliche und lange Zahlenreihen über Einkommens- und Vermögensunterschiede in den Industrieländern. Aufschlussreich ist ferner Walter Wüllenweber, Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren, Frankfurt 2012. Offizielle Zahlen bietet der jährliche Armutsbericht Deutschland (www.armuts-und-reichtumsbericht.de), dem indes immer wieder Beschönigung vorgeworfen wird; auch die OECD verweist inzwischen auf die deutlich gestiegenen Vermögensunterschiede, vor allem in Deutschland (vgl. Vermögen in Deutschland höchst ungleich verteilt, www.zeit.de, 21.5.2015).

Baden-Württemberg, Bayern, das französische Elsass oder einige wohlhabende Regionen in Norditalien sind -- gesamteuropäisch gesehen -- eher eine Ausnahme.

Zur Kumulierung der europäischen Industriecluster, in Deutschland, was u. a. auch der exponierten Mittellage in Deutschland geschuldet ist, vgl. die Abbildung im Buch. Die Abbildung der Karte Frankreichs zeigt den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und dem Votum für den Front National in Frankreich. Für den Zusammenhang zwischen verödeten ländlichen Regionen und einem UKIP-Votum vgl. John Springford, Disunited Kingdom: Why "Brexit" endangers Britain's poorer regions, Centre for European Reform, London, April 2015.

Vgl. dazu Georg Simmerl und Friederike M. Reinhold, A Post-Structuralist Reading of Authority: Developing a concept for the Study of Global (Dis-)Order, Paper presented at the ECPR Graduate Conference, Bremen, 4.-6.7.2012.

Wie 2014 offiziell von der EU vorgeschlagen durch den ungarischen Sozialkommissar László Andór; und erst Anfang 2016 von Matteo Renzi wieder ins Gespräch gebracht. Auch dazu gibt es seit Jahren umfangreiche Literatur, z. B. die Studie des Center for European Policy (CEP): Europäische Arbeitslosenversicherung. Ein wirkungsvoller Stabilisator für den Euroraum? Matthias Kullas und Klaus-Dieter Sohn, Brüssel, April 2015, www.cep.eu, sowie die (frühen) Arbeiten von Sebastian Dullien, Eine Arbeitslosenversicherung für die Eurozone, "SWP-Studien", 1/2008.

Diese Argumentation unterstellt die Möglichkeit, die langfristigen Unterschiede in der Produktivität und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Länder/Nationen/Regionen europaweit durch politische und rechtliche Änderungen/Reformen ausgleichen zu können und zu wollen.

Published 15 June 2016
Original in German
First published by Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2016

Contributed by Blätter für deutsche und internationale Politik © Ulrike Guérot / Blätter für deutsche und internationale Politik / Eurozine

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