Attila Bartis "Die Ruhe"

Eine Einführung

Wir haben es mit einem schwarzen Roman zu tun, mit einem der schwärzesten, den die ungarische Gegenwartsliteratur hervorgebracht hat. Und zugleich mit einem der erhellendsten, was menschliche Tiefenpsychologie und politisches Schmierentheater betrifft. Sie ahnen schon: das Drama – und um ein solches handelt es sich in einem geradezu antiken (oder zumindest Karamazowschen) Ausmaß – hat viele Dimensionen. Und die titelgebende Ruhe bleibt unerreichbarer Sehnsuchtstopos.

Im Zentrum des Romans, der um Angst, Gewalt und Wahnsinn kreist, steht der Ich-Erzähler: Andor Weér, sechsunddreißig, Schriftsteller, Sohn der berühmt-exzentrischen Schauspielerin Rebeka Weér, die sein Leben nicht nur tyrannisiert, sondern zerstört hat. Andors mäandrierende Erzählung berichtet von einem höllischen Familiendrama, das mit dem Tod der Mutter nur scheinbar endet, weil seine verheerenden Konsequenzen nicht aus der Welt zu schaffen sind. Qualvoll arbeitet sich der Text in gestaffelten Rückblenden vor und zurück, bis jedes Detail, jede Regung ausgeleuchtet ist, bis die Regie des Wahnsinns in allen Facetten spürbar wird.

Rebeka Weér ist eine Diva wie die Arkadina in Tschechows “Möwe”: ehrgeizig, egoistisch, nur auf den eigenen Erfolg bedacht. Sie wird allseits hofiert, hält sich ständig Liebhaber und behandelt ihre beiden Kinder – die Zwillinge Andor und Judit – wie lästige Anhängsel. Die Kinder begehren auf: Andor, indem er mit zehn eine Erblindung vortäuscht, um die Liebe der Mutter zu erpressen, und später im Schreiben Zuflucht sucht, Judit, indem sie sich ganz dem Geigenspiel verschreibt. Als exzellente Violinistin nutzt sie eines Tages die Gelegenheit eines Gastspiels, um sich ins Ausland abzusetzen. Für den politischen “Verrat” der Tochter muss nun die Mutter büßen: die kommunistische Kulturbürokratie hat nur noch Nebenrollen für sie vorgesehen. Spektakulär die Beschreibung, wie sie im Cleopatra-Kostüm durch die Straßen Budapests rast, eine heulende Furie, die – zu Hause angekommen – den tröstenden Sohn zum Beischlaf verführt.

Von nun an schwört Rebeka Rache, allen voran ihrer Tochter. Sie sagt sich von dieser nicht nur los, sondern bekräftigt den Bruch durch eine inszenierte Beerdigung. Alle Gegenstände und Erinnerungsstücke Judits werden in einem Holzsarg zu Grabe getragen. Ein ordentlicher Grabstein im Kerepesi-Friedhof täuscht ihren Tod vor. Die Sache fliegt auf, und von nun an ist Rebeka der Hass nicht nur ihrer Kinder, sondern auch ihrer Gönner gewiss. Judit meldet sich nach Erhalt ihrer eigenen Todesanzeige nicht einmal mehr brieflich, schickt nur anonym Geld. Ihr Bruder ist es, der zur Beruhigung der Mutter Briefe fingiert und Freunden, die ins Ausland fahren, zum Verschicken mitgibt. Erst viel später erfährt der Leser, dass sich Judit mit nur fünfundzwanzig Jahren in Nizza das Leben nahm, als renommierte Geigerin, die sich das verräterische Pseudonym Rebecca Werkhard zugelegt hatte.

Das Leben von Mutter und Sohn gleicht mehr und mehr einem Alptraum. Die Ex-Schauspielerin verlässt ihre Wohnung nicht mehr. Ganze fünfzehn Jahre sollte sie, umgeben von lauter Theaterrequisiten, in freiwilliger Gefangenschaft verbringen, eifersüchtig über das Leben ihres Sohnes wachend, ohne Kontakt zur Außenwelt, hinter Schlössern und Riegeln dem galoppierenden Wahnsinn verfallen. Sartres Diktum (im Drama “Bei geschlossenen Türen”) “Die Hölle, das sind die anderen” wird hier Realität. Unerbittlich sind die Rituale des Alltags, grausam die mündlichen Verhöre (eingeleitet von “Wowarstdumeinsohn?”), die Drohungen, Verwünschungen, gegenseitigen Abhängigkeiten. Stimmungsmäßig fühlt man sich manchmal an Elfriede Jelineks “Klavierspielerin” erinnert. Und auch hier gibt es Ausbruchsversuche. Der sensible Schriftsteller-Sohn wird nicht nur zum regelmäßigen Kneipengänger, eine seiner geplanten Eskapaden endet im schäbigen Bett einer abgewrackten alten Prostituierten, die sich später als Tauben-Killerin selbst vergiftet, während seine Liebe zu Eszter Fehér an der Tyrannei der Mutter und der eigenen seelischen Schädigung zu scheitern droht.

Eszter ist eine Versehrte wie Andor: ihre Eltern wurden in Rumänien von Sicherheitsbeamten umgebracht, sie selbst von einem Erzieher missbraucht. Doch das Unglück setzt sich mit Andor fort: Abtreibung, Nervenklinik, Selbstmordversuch; verbale und körperliche Gewalt vergiften das Verhältnis, dessen Ausgang offen bleibt. Dennoch liegt in dieser Beziehung etwas Schicksalhaftes. Dank Eszter lernt Andor die Verlagslektorin Eva Jordan kennen, die nicht nur sein Buch veröffentlicht, sondern ihn skrupellos verführt, wobei sie sich als ehemalige Geliebte seines Vaters, eines nach Amerika abgesprungenen Spitzels, outet. Und ebenfalls dank Eszter, bzw. ihrer vorübergehend leerstehenden Wohnung, schafft Andor die Ungeheuerlichkeit, sich vierzehn Tage nicht bei seiner Mutter zu zeigen. Als er zurückkommt, ist sie tot. (Auf eine Obduktion wird wohlweislich verzichtet.)

Attila Bartis erzählt mit kalter Präzision, in spannungsvollen Mäandern, ohne Sentimentalität, voll Ingrimm – da und dort auch mit einer Prise sarkastischen Humors. Stück für Stück setzt sich der (achronologische) Erzählbericht zu einer Handlung zusammen, zum Porträt eines Menschen, der – zwischen ödipaler Falle und künstlerischer Sublimation ringend – am Schluss von sich sagt: “Natürlich habe ich Angst. Aber solange der Kachelofen ordentlich warm wird, habe ich noch menschliche Züge. Wenn ich draußen sitzen würde, sagen wir, auf dem Hof eines Hauses am Seeufer, irgendwo in einer gottverlassenen Gegend, in den Karpaten, könnte ich auch bloß schreiben, dass es eine einzige Sache gibt, die mich mit Bewunderung erfüllt: der Sternenhimmel über mir. Und das ist noch sehr wenig.”

Durch solche Sätze sintert das Wenige an Transzendenz, das dieser düstere, ironisch-zynisch gefärbte Roman zulässt. Vielleicht verbirgt sich in fernen Galaxien eine bessere, eine schönere Welt (von Astronomie ist mehrfach die Rede) – unsere Welt hienieden gibt keinen Grund zur Hoffnung. Das zeigt Bartis nicht nur mit seinem grandiosen “Psychodrama” (ohne explizite Bemühung um Psychologie), das zeigt er auch als Beobachter seiner Zeit. Denn “Die Ruhe” ist nicht zuletzt auch ein Epochenbild: der späten Kádár-Ära und der Wende in Ungarn. Glänzend die Spots, die Bartis – einmal aus der Perspektive des Kindes, dann des Erwachsenen Andor – auf parteiverordnete Theaterauftritte von Rebeka Weér oder auf das Kneipenmilieu wirft, in welchem Volkes Stimme ertönt: antisemitische Ausfälle oder idiotische Plädoyers für ein “reinrassiges Ungarn”. Mit Andor wandert man durch Budapester Hinterhöfe, Absteigen, Parks und Friedhöfe; man begleitet ihn auf Lesereisen durch die ungarische Provinz, wo er Zigeuner und Dorfpfarrer, Bahnwärter und Krüppel trifft, angewidert von der Banalität allgemeiner Raffgier. Wobei seine Illusionslosigkeit nichts zu wünschen übrig lässt: Freiheit, so Andor, sei ein für die Menschen ungeeigneter Zustand. Und was das eigene Schreiben angeht – düster wie “Die Ruhe” selbst -, macht er sich nichts vor. Soviel allerdings weiß er: “Meine Geschichten taugten zumindest dazu, dass jeder in diesem Punkt oder jenem Komma seine eigene Stille heraushören konnte.”

Ein poetologisches Bekenntnis, das von Bartis selbst stammen könnte. Tatsächlich gibt dieser hoch dramatische Roman der Stille – trotz allem – Raum. So wie er dem Atem Raum lässt. Anders als Bartis’ ambitionierter Erstling “Der Spaziergang”, der viele eklektische Seitenblicke in die Literaturgeschichte wirft, folgt “Die Ruhe” einem soghaften, weiten Rhythmus und einer völlig schlüssigen inneren Dramaturgie. Keine Frage, dass wir als Leser bei uns selbst ankommen. Bei unseren eigenen Obsessionen, in unserer eigenen Stille.

Rede gehalten in der Alten Schmiede, Wien, November 2005.

Lesen Sie einen Auszug aus dem Roman “Die Ruhe” von Attila Bartis (auf Englisch).

Published 27 February 2006
Original in German
First published by Eurozine

© Ilma Rakusa / Eurozine

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Read in: DE / EN

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