Horst MeierHorst Meier / MerkurEurozineMerkurMerkur 2/20142014-02-12Wozu eigentlich Verfassungsschutz?Das Beste an diesem Geheimdienst ist immer noch der schöne Name: "Verfassungsschutz", da schwingt all die Wertschätzung mit, die das Grundgesetz weithin genießt. "Den Verfassungsschutz abschaffen?" -- Parolen wie diese hören sich ungefähr so herzlos an wie die Forderung nach ersatzloser Auflösung des Kinderschutzbundes. Als wollte da einer das Grundgesetz seinen Feinden ans Messer liefern: erst den Verfassungsschutz, und dann die ganze Verfassung. So bringt mich denn mein Plädoyer, die Ämter mit dem erbaulichen Namen so bald wie möglich abzuwickeln, in eine gewisse Verlegenheit.Ich habe Trost bei Richard Schmid gefunden: "der Gedanke, [die Ämter] mit dem Begriff und Wort Verfassungsschutz zu etikettieren, [war] ein genialer Einfall, genial im Sinne moderner Werbung und Verpackung", schrieb Schmid, der einst im sozialistischen Widerstand aktive Rechtsanwalt und spätere Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart: "Bei alledem wirkt natürlich der schöne Name Verfassungsschutz ungemein im Sinne der Rechtfertigung und Beschönigung: Was tut und duldet man nicht alles um der Verfassung willen!", konstatierte er -- und sah in dieser Namensgebung doch nur eine Irreführung: "Das Verhältnis der Ämter zur Verfassung ist etwa so problematisch wie im Dritten Reich das Verhältnis der Kulturkammer zur Kultur."Richard Schmid, Wen oder was schützt der Verfassungsschutz? In: Zeit vom 5. November 1965. Zur Person vgl. Gerhard Mauz, Beiläufig sozusagen. Anläßlich des 80. Geburtstages von Richard Schmid. In: Merkur, Nr. 370, März 1979. Schmid schrieb von 1968 bis 1984 für den Merkur, u.a. Zur demokratischen Kontrolle der Nachrichtendienste (Nr. 358, März 1978).Das sind harte Worte, man mag sie einem, der vom "Volksgerichtshof" ins Zuchthaus geschickt wurde, durchgehen lassen. Und klargestellt sei: Man kann dem Verfassungsschutz allerhand vorwerfen, nur nicht, er operiere mit den Methoden einer "neuen Gestapo"; auch Vergleiche mit dem "Staatssicherheitsdienst" der DDR sind abwegig. Trotzdem tun wir gut daran, das Staunen zu lernen über einen Geheimdienst, der bis heute diesen sonderbaren Namen vor sich herträgt. Meine These lautet: Ein Geheimdienst, der von Anbeginn keine sinnvolle Aufgabe hatte und regelmäßig Skandale hervorbringt, der notorisch die Bürgerrechte sogenannter Extremisten beeinträchtigt und der, wenn es darauf ankommt, als "Frühwarnsystem" versagt -- ein solcher Geheimdienst ist überflüssig.Vgl. Claus Leggewie/Horst Meier, Nach dem Verfassungsschutz. Berlin: Archiv Jugendkulturen 2012; "Verfassungsschutz". Über das Ende eines deutschen Sonderwegs. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 10, 2012; Micha Brumlik/Hajo Funke, Auf dem Weg zum "tiefen Staat"? Die Bundesrepublik und die Übermacht der Dienste. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 8, 2013.Was macht eigentlich der Verfassungsschutz?Wer sich fragt, was der hiesige Inlandsgeheimdienst eigentlich tut, stolpert in eine Serie von Peinlichkeiten, Fehleinschätzungen, Pannen und Pleiten. Die Skandalchronik des Verfassungsschutzes ist so alt wie dieser selbst. Wer sie aufblättert, stößt zum Beispiel auf Otto John, den ersten Chef des Bundesamtes, der 1954 unversehens in Ost-Berlin auftauchte und eine Pressekonferenz gegen die Aufrüstungspläne der Bundesregierung gab. Oder auf den Studenten Ulrich Schmücker, der ein V-Mann war und als Verräter erschossen wurde. Das mehrfach aufgerollte Strafverfahren gegen Mitglieder der "Bewegung 2. Juni" wurde eingestellt, nachdem die Tatwaffe in einem Tresor des West-Berliner Verfassungsschutzes entdeckt worden war. Am Anfang einer Analyse steht daher die Frage, was der Verfassungsschutz macht, wenn er nicht gerade mit der Kleinarbeitung eines Skandals, das heißt mit sich selber beschäftigt ist.Was Geheimdienste treiben, wissen oft nicht einmal ihre Auftraggeber. Sie sind parlamentarisch oder gerichtlich nur bedingt zu kontrollieren. Selbst die zur ministeriellen Aufsicht berufenen Dienstherren stoßen hier auf einen "nicht zu durchdringenden Dunkelbereich".Joachim Rottmann, Nachrichtendienste und Grundrechte. In: Willy Brandt u.a. (Hrsg.), Ein Richter, ein Bürger, ein Christ. Festschrift für Helmut Simon. Baden-Baden: Nomos 1987. Das liegt in der Natur der Sache und liefert Stoff für Enthüllungsgeschichten und Agentenromane, deren Unterhaltungswert eine Mischung von Schauder und Vergnügen ausmacht. Ein kühler Blick ist eher ernüchternd: "Daran, daß sie in der Lage sind, Schaden anzurichten", schrieb Hans Magnus Enzensberger, ist "nicht zu zweifeln. Unklar ist hingegen, worin eigentlich ihr Nutzen besteht."Cosmic Secret. In: Enzensbergers Panoptikum. Zwanzig Zehn-Minuten-Essays. Berlin: Suhrkamp 2012.Nachrichtendienste arbeiten am liebsten im Stillen, die Diskretion gehört zu ihrem Habitus; ihr Ideal ist die Unsichtbarkeit. Sie schreiben unentwegt Lageeinschätzungen und Dossiers: "Verschlusssache -- streng geheim!" Diese setzen die Regierung einigermaßen ins Bild oder führen sie, ob nun wissentlich oder unwissentlich, hinters Licht. Von Helmut Schmidt ist überliefert, er habe sich lieber auf die Lektüre der Neuen Zürcher Zeitung verlassen denn auf die Lageberichte seiner Dienste. Dass Geheimdienste keine Jahresbilanzen veröffentlichen, versteht sich in der Zunft von selbst, das ist Ehrensache. Man kann daher eine Eigenart des deutschen Verfassungsschutzes gar nicht genug bestaunen, seine alljährlichen Berichte: "Verfassungsschutz durch Aufklärung". Das macht ihm so schnell keiner nach.Die deutsche ExtremistenfibelDie ersten zwanzig Jahre hatte man es nicht nötig, bunte Heftchen unters Volk zu bringen. Mit tatkräftiger Hilfe erfahrener Gestapo-Beamter war man daran gegangen, anhand der bewährten Karteien die übriggebliebenen Kommunisten zu verfolgen: Gelernt ist gelernt.Seit 2011 wird im Auftrag des Innenministeriums die Organisationsgeschichte des Bundesamtes (1950-1975) erforscht: "Welche Ursachen und Folgen hatte es, dass der Aufbau einer Organisation zur Sicherung der Demokratie zum Teil unter Heranziehung von Personal durchgeführt wurde, das durch biographische NS-Bezüge selbst einen dezidert antidemokratischen Hintergrund aufwies?" Dass man auch etliche unbelehrbare Nazis behelligen musste, war den Besatzungsmächten zuliebe in Kauf zu nehmen. Die Öffentlichkeit, soweit vorhanden, zollte dem Beifall; im Übrigen hatte man mit dem Wiederaufbau alle Hände voll zu tun. Im Gefolge der achtundsechziger Protestbewegung wurde auch der Verfassungsschutz von Gewissheitsverlusten unterspült. Das war die Geburtsstunde der deutschen Extremistenfibel. Herausgegeben vom Bundesinnenminister, wurde sie im Laufe der Zeit immer umfangreicher. Der Jahresbericht 2012 bringt es, Register eingeschlossen, auf stolze 451 Seiten.Pdf-Download unter www.verfassungsschutz.de.Die beiden Hauptkapitel heißen "Rechtsextremismus und Linksextremismus", sie bilden den traditionellen Kern. Heute in dieser Reihenfolge, denn der rot-grüne Innenminister Otto Schily stellte seinerzeit den Verfassungsschutz gründlich auf den Kopf, indem er den Linksextremismus auf den zweiten Platz verbannte. So wurde aus dem "lieblingssport" der Deutschen, der "hetzjagd auf / kommunisten / sozialisten / humanisten / dissidenten / linke", wie Alfred Andersch 1976 formulierte, allmählich der "Kampf gegen rechts".In dem (den Radikalenerlass geißelnden) Gedicht artikel 3 (3), das wegen seiner Anspielung auf die Gaskammern hochumstritten war, nachgedruckt in: Andreas Thalmayr (d.i. Hans Magnus Enzensberger), Das Wasserzeichen der Poesie. Nördlingen: Greno 1985. Die weiteren Teile des Berichts sind dem Rechts-links-Schema angelagert. Dem Kapitel "Extremistische Bestrebungen von Ausländern", 1972 eingeführt, wurde nach dem 11. September 2001 ein spezielles Kapitel zur Seite gestellt: "Islamismus/islamistischer Terrorismus".Beginnen wir beim Blick auf den jüngsten Jahresbericht mit der 1964 gegründeten NPD, die wieder einmal verboten werden soll. Im Berichtsjahr 2012 zählte der Verfassungsschutz 6000 Mitglieder (im Vorjahr 6300). Ihm blieb nicht verborgen, dass es jenen, die sich Nationaldemokraten nennen, auch sonst nicht gut geht: Sie stecken in einer "Finanzkrise". Die Partei ist als deutschtümelnder Männerverein bekannt, der in keiner antifaschistischen Geisterbahn fehlt. Wie aber geht es dem anderen Geschlecht? "Der 'Ring Nationaler Frauen' (RNF) wurde im September 2006 als Sprachrohr und Ansprechpartner für alle 'nationalen' Frauen gegründet." Die Damenriege hat bundesweit unverändert "über 100" Aktivistinnen: "Der RNF erstellt Themenflugblätter zur Frauen- und Familienpolitik, in denen z.B. die Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter propagiert und die Kindererziehung durch gleichgeschlechtliche Partner abgelehnt wird."Und die Linkspartei? Mit ihr hat es in diesem Jahresbericht eine geradezu revolutionäre Bewandtnis: Erstmals wird sie nicht als Ganzes in die Grauzone des Verdachts gezogen, sondern nur ihre unsicheren Kantonisten. Da haben wir die Kommunistische Plattform (KPF). Mit 1250 Mitgliedern ist sie so stark wie im Vorjahr und "nach wie vor der größte offen extremistische Zusammenschluss innerhalb der Partei DIE LINKE." Ein Hort der Systemfeindschaft: "Die KPF hält an marxistisch-leninistischen Positionen fest und strebt die Überwindung des Kapitalismus ... an. In einem Beschluss der 1. Tagung der 16. Bundeskonferenz der KPF ... tritt [sie] 'für einen Systemwechsel ein'." Die bedauernswerte Linkspartei ist noch von anderen Extremisten unterwandert: "Die 1991 gegründete ... 'Arbeitsgemeinschaft Cuba Sí' hatte im Jahr 2011 rund 400 Mitglieder." Und in diesem Jahr? "Die Mitgliederzahl für 2012 ist nicht bekannt." Wie konnte das passieren?Und wie geht es eigentlich der DKP, der 1968 gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei? Die DKP, de facto Nachfolgeorganisation der 1956 verbotenen KPD, schrumpft unaufhaltsam und vergreist; für 2012 bilanziert die Extremistenbuchhaltung 3500 Mitglieder (im Vorjahr 4000). Dem Vernehmen nach wird derzeit im Kölner Bundesamt überlegt, ob man wirklich noch zehn V-Leute bezahlen soll, um über eine absterbende Partei auf dem Laufenden zu bleiben.Auch auf das, was sich in neonazistischen Subkulturen tut, hat unser Verfassungsschutz ein wachsames Auge. Da ist zum Beispiel eine Band, die unter dem Namen "Aktion Reinhard" auftritt. Ihr "Worst of" verheißt nichts Gutes: Auf euch wartet der Strick. Hier wird "sogar konkrete Gewalt gegen den Staat bzw. dessen Vertreter propagiert", wirft der Bericht dieser Band vor. Und registriert zugleich eine gewisse Flaute unter den braunen Kulturschaffenden: "Die Anzahl der rechtsextremistischen Konzerte war 2012 mit 82 Veranstaltungen (2011: 131) rückläufig ... Die Zahl der durchgeführten Liederabende verringerte sich ... auf 17 (2011: 30)."Ist das genug? Oder sollte ich noch die geheimdienstlichen Erkenntnisse zur MLPD, zu Al-Qaida-Sympathisanten, zur Arbeiterpartei Kurdistans, zu den Salafisten oder zur Nordkaukasischen Separatistenbewegung erwähnen? Oder wenigstens andeuten, was es mit dem Islamischen Mädchenkolleg Bergkamen oder der Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene (der inzwischen verbotenen "Braunen Hilfe") auf sich hat oder "dem jugendaffinen und eventorientierten Aktionsformat 'Die Unsterblichen'"?Lieber möchte ich mich gleich dem allerletzten Kapitel des Jahresberichts zuwenden; es ist der "Scientology-Organisation/SO" gewidmet. Die Frage, warum sich ein Geheimdienst für die Adepten einer geschäftstüchtigen Psychosekte interessiert, stürzt auch Verfassungsschützer ins Grübeln. Die Beschäftigung mit Scientology wäre nur Stoff für Satire, bekäme das "Frühwarnsystem" über seinen Extremistenspielen auch noch ernste Angelegenheiten auf den Schirm. Während aber der Verfassungsschutz Ende der neunziger Jahre den Aktivitäten der Scientologen, die im Raum Hamburg einen Schwerpunkt haben, pflichtschuldig nachging, übersah er die Atta-Zelle der Verschwörer des 11. September, die sich zu eben jener Zeit dort bildete. So erfuhren die Hamburger Verfassungsschützer erst aus den Nachrichten, was sich da in Deutschland zusammengebraut hatte.Nun sollte man über den Blüten des Jahresberichts die Expertise, die beim Verfassungsschutz im Laufe der Zeit versammelt wurde, nicht unterschätzen: Es gibt dort inzwischen Islamwissenschaftler, die die Videobotschaften von Al-Qaida im Original verstehen. Überblickt man indes die ganze Palette der Aktivitäten, wird ein Grundproblem erkennbar. Der gesetzliche Auftrag, Informationen zu sammeln über "Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung ... gerichtet sind", ist denkbar vage. Das diffuse Arbeitsfeld reicht von der legalen politischen Betätigung sogenannter Extremisten über Hassprediger und Militante bis hin zu Terroristen -- eine illustre Kundschaft. Mit dem Allerweltsbegriff "extremistische Bestrebungen" verfügen deutsche Verfassungsschützer über kein rationales Kriterium, Wichtiges von Unwichtigem, Gefährliches von Ungefährlichem zu unterscheiden. Die Folge ist eine nachhaltige Orientierungslosigkeit.Die Erfindung des VerfassungsschutzesDer Versuch, den Verfassungsschutz zu erklären, muss zurückgehen in die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik. 1948/49 war in "Trizonesien" unter alliierter Aufsicht das paradoxe Werk zu vollbringen, einem total demoralisierten Volk, das als Souverän gar nicht existierte, eine demokratische Verfassung zu geben. Der Versuch, in den westlichen Besatzungszonen eine Volksherrschaft wiederaufzubauen, musste mit einem fundamentalen Widerspruch rechnen: Eine schmale, nationalsozialistisch unbelastete Elite beriet eine Verfassung, der die Mehrheit der Deutschen gleichgültig bis ablehnend gegenüberstand. Wer wagte wenige Jahre nach dem "Zusammenbruch" schon zu sagen, wie viele Stimmen eine vordergründig erneuerte NSDAP gewonnen hätte. Die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes hatten allen Anlass, dem demokratischen Geist ihrer Zeitgenossen zu misstrauen. Daher statuierten sie eine "allgemeine Pflicht zur Verfassungstreue": auf dass die Bürger ihre Selbstbestimmung nicht dazu gebrauchen, lieber wieder fremdbestimmt zu leben.Am prägnantesten gelangte dies in Artikel 18 des Grundgesetzes zum Ausdruck: "Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit, die Lehrfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, das Eigentum oder das Asylrecht zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen."Obgleich dieser Artikel seit 1949 leerläuft -- das Verfassungsgericht sprach bislang kein einziges Mal die Verwirkung eines Grundrechts aus --, ist er für das Verständnis des Verfassungsdenkens dieser Zeit ungemein wichtig. Der darin zum Ausdruck kommende Gedanke, dass Freiheit nicht zu ihrer Abschaffung missbraucht werden dürfe, wurde später "streitbare" oder auch "wehrhafte" Demokratie genannt. Der Begriff steht nicht im Grundgesetz, dient aber weithin als Sammelbezeichnung für die Verwirkung von Grundrechten Einzelner und das Verbot politischer Organisationen. Nach Artikel 21 ist es möglich, die politisch störende, gegen die "Grundordnung" gerichtete Tätigkeit einer Partei als "verfassungswidrig" zu sanktionieren. Nach Artikel 9 können politische Vereinigungen nicht erst wegen des klassischen Grundes, des Verstoßes gegen Strafgesetze, verboten werden, sondern bereits dann, wenn sich ihre Tätigkeit "gegen die verfassungsmäßige Ordnung" wendet.Wäre der Begriff "streitbare Demokratie" einfach nur eine gutgemeinte politische Formel, die anzeigt, dass Demokraten ihre Freiheit selbstbewusst verteidigen, die Sache könnte auf sich beruhen. Jeder demokratische Staat lebt von dem Willen einer gesellschaftlichen Mehrheit, auf Dauer frei zu sein. So harmlos ist die Sache aber nicht. Wo immer die deutsche Streitbarkeit beschworen wird, geht es darum, der "bloßen" Legalität politisch abweichenden Verhaltens die Legitimität einer "Grundordnung" entgegenzuhalten. Im KPD-Verbotsurteil von 1956 heißt es, die "'streitbare Demokratie'", das "Bekenntnis zu gewissen unantastbaren Grundwerten der Staatsordnung", sei ein "dem Grundgesetz eigentümlicher Zug, der es aus dem Kreise der liberal-demokratischen Verfassungen charakteristisch heraushebt".BVerfGE 5, 85, 139. In der Tat führt die potentielle Transformation von Abwehrrechten gegen den Staat zu Eingriffsermächtigungen des Staates zu einer illiberalen Verkehrung. Die Verfassung ist ursprünglich dazu da, das Volk vor dem Staat zu schützen; dass der Staat die Verfassung nunmehr vor dem Volk schützen soll, ist seltsam.Der in diesem Kontext erfundene "Verfassungsschutz" ist kein herkömmlicher Geheimdienst und findet in anderen westlichen Demokratien keine institutionelle Entsprechung. Er ist nicht nur ein Relikt aus dem Kalten Krieg, sondern die Fehlkonstruktion einer Demokratie, die sich selbst nicht traut. Er ist der institutionelle Arm der "streitbaren Demokratie" und so fragwürdig wie diese selbst. Ein internationaler Vergleich ist schwer anzustellen, schon die Fakten sind ungesichert, und die normativen wie institutionellen Grundlagen variieren.Vgl. Thomas Jäger/Anna Daun (Hrsg.), Geheimdienste in Europa. Wiesbaden: VS Verlag 2009. Vereinfachend lässt sich jedoch feststellen: Während Inlandsgeheimdienste in anderen westlichen Demokratien vor allem gegen Terrorismus und Spionage arbeiten und institutionell zur Polizei gehören, ist die Hauptaufgabe des Verfassungsschutzes bis heute die weitgefächerte Vorfeldüberwachung sogenannter Extremisten.Sein Kerngeschäft, die "Inlandsaufklärung", setzt weit im Vorfeld messbarer Gefahren ein. Sie galt von Anbeginn Bürgern, denen man nicht etwa gesetzwidriges Verhalten vorwirft, sondern extremistische Bestrebungen. Was früher die revolutionären "Staatsfeinde" waren, denen man immerhin unterstellte, sie arbeiteten auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Ordnung hin -- das sind heute die sanften "Verfassungsfeinde", denen man nur noch vorwirft, sie strebten mit legalen Mitteln eine Systemveränderung an.Es waren zwei amerikanische Geheimdienstoffiziere, die auf die Idee kamen, den westdeutschen Dienst "Verfassungsschutz" zu nennen. Schon sprachlich wollten sie jede Nähe zur Gestapo vermeiden.Vgl. Hermann Borgs-Maciejewski, Verfassungsschutz im internationalen Vergleich. In: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Verfassungsschutz in der Demokratie. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Köln: Heymanns 1990. Und damit die gerade entnazifizierten Deutschen ja nicht auf die schiefe Bahn gerieten, formulierten die westlichen Besatzungsmächte im "Polizeibrief" vom 8./14. April 1949: "Der Bundesregierung wird es ebenfalls gestattet, eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten. Diese Stelle soll keine Polizeibefugnis haben."Zum Polizeibrief vgl. Georg Hermes, Artikel 87. In: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar. Bd. 3. Tübingen: Mohr 2008. Das gilt bis heute: Der Verfassungsschutz bekam keine Zwangsbefugnisse wie die Festnahme oder Hausdurchsuchung. Was freilich nicht besagt, er operiere grundrechtsneutral: Der Einsatz sogenannter nachrichtendienstlicher Mittel, zum Beispiel das Abhören und Observieren, geht mit intensiven Grundrechtseingriffen einher.Wer Extremist ist, bestimmt die RegierungDie politischen Konsequenzen eines solchen "Verfassungsschutzes" sind einschneidend. Denn er richtet sich gegen potentiell jeden, der die "Zone der gemäßigten Kritik" verlässt (so Otto Kirchheimer in seinem Standardwerk Politische Justiz). Die im KPD-Urteil beschworenen "unantastbaren Grundwerte" bündelte man im Allerheiligsten, in der im Grundgesetz mehrfach erwähnten "freiheitlichen demokratischen Grundordnung". Die einschlägige Definitionsformel findet sich im Verbotsurteil gegen die (National)Sozialistische Reichspartei von 1952."Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition" (BVerfGE 2, 1, 12f). Gerade weil die darin aneinandergereihten Gestaltungsprinzipien von entwaffnender Selbstverständlichkeit sind, erlebten sie seit den fünfziger Jahren eine einzige Kettenzitation, bis hinein in das Gesetz über den Verfassungsschutz (Paragraph 4) -- was diesen zu der Behauptung verleitete, man verfüge damit über "Kriterien für die Grenzziehung zwischen Extremisten und Demokraten". Doch es gibt keine Rechtssicherheit auf dem doppelten Boden von Legalität und Legitimität. Mithilfe der Formel von der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" geschieht gleichsam das Wunder des "streitbaren" Verfassungsschutzes: Aus Bürgern werden Verfassungsfeinde.Die Unterscheidung zwischen "richtigem" und "falschem", zwischen staatsfreundlichem und staatsfeindlichem Gebrauch der Freiheit wird anhand der Extremismuslinie getroffen. Wer aber ist Extremist? Der Begriff, der weder in der Verfassung noch in einem Gesetz steht, wird als Sammelbezeichnung für jene "Bestrebungen" verwendet, die sich vermeintlich oder wirklich gegen die fdGO richten. Wo immer er auftaucht, geht es um die Mobilisierung von Ausgrenzungsbereitschaft. Unter "Extremismus" versteht eine staatstragende Politikwissenschaft Ziele, die sie für unvereinbar hält mit den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der akademische Streit darüber ist müßig. Weil die Definitionsbemühungen um die fdGO-Formel und den daraus abgeleiteten Extremismusbegriff naturgemäß kein Ende haben, bleibt das Ganze zirkulär. Extremist ist, wer gegen die fdGO polemisiert; was die Grundordnung ausmacht, bestimmen wir von Fall zu Fall. Der Geheimdienst steht nicht über dem Streit der Parteien: Er wird vom Innenminister gelenkt. Wer "Verfassungsfeind" ist, bestimmt die jeweilige Regierung. Das Nähere regeln die Ämter für Verfassungsschutz.Vgl. Jürgen Seifert, Wer bestimmt den "Verfassungsfeind"? In: Peter Brückner/Diethelm Damm/Jürgen Seifert, 1984 schon heute oder Wer hat Angst vorm Verfassungsschutz? Frankfurt: Neue Kritik 1976.Die Veranstaltung namens Verfassungsschutz war lange Zeit ein Synonym für den Kampf gegen links. Das hängt mit den Konjunkturen der Innenpolitik zusammen; außerdem bringt der Modus der Bürokratie wohl eher "rechte" als "linke" Mentalitäten hervor. Von daher wird dem Verfassungsschutz gern vorgeworfen, er sei "auf dem rechten Auge blind". Wer das reklamiert, ist ihm schon auf den Leim gegangen. Eine Kritik, die sich darin erschöpft, die "richtige" Feinderklärung einzuklagen, ist zahnlos. Der Verfassungsschutz agiert seit seinem Bestehen als opportunistischer Dienstleister; er wird nicht davor zurückschrecken, notfalls auf dem linken Auge blind zu werden. Es kommt vielmehr darauf an, eine Streitkultur zu etablieren, die ein robustes Konfliktmodell belebt: Integration im Dissens. Andernfalls bleibt -- um ein Wort von Jean Améry zu variieren -- jedermann irgendeines anderen Verfassungsfeind.Der realexistierende Verfassungsschutz: NPD-Verbot, Abgeordnetenüberwachung und NSU-DebakelIm Dezember 2012 beschloss der Bundesrat, einen neuerlichen Verbotsantrag gegen die NPD vorzubereiten. Und der Verfassungsschutz tat, wie ihm geheißen: Er stellte Belastungsmaterial zusammen. Als aber die Kurzfassung der geheimen Sammlung im Februar 2013 geleakt wurde, fragte sich eine erstaunte Öffentlichkeit: Soll das alles gewesen sein? Wird denn ein Sack voll widerlicher Zitate ausreichen? Bedenkt man freilich, dass dieser Geheimdienst seit jeher auf verfassungsfeindliche Propaganda fixiert ist, wird klar, warum das zusammengeklaubte Material vor allem eines präsentiert: sattsam bekannte Parolen und Sprüche aus dem Dunstkreis dieser Partei.Vgl. Horst Meier, Endlosschleife NPD-Verbot. Über Parteienfreiheit und "streitbare Demokratie". In: Merkur, Nr. 768, Mai 2013; In der Nachfolge der NSDAP? Das SRP-Verbotsurteil und das Verfahren gegen die NPD. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 4, 2003. Dass man die NPD, wie schon einmal, als der NSDAP irgendwie "wesensverwandt" einstuft und sie zu deren Nachfolgeorganisation stilisiert, zeugt von Beweisnot. Und so schnappte die selbstgestellte Falle zu: Im Dezember 2013 reichte man den Verbotsantrag tatsächlich ein. Wie abenteuerlich hoch das Prozessrisiko ist, wird sich in Karlsruhe zeigen.Ein zweites Beispiel, aus dem linken Spektrum: Kürzlich befand das Verfassungsgericht, dass Bodo Ramelow, Abgeordneter der heutigen Linkspartei, nicht jahrzehntelang vom Verfassungsschutz beobachtet werden durfte. Denn er stehe "auf dem Boden" des Grundgesetzes. Die Entscheidung beweist Augenmaß im Einzelfall und wurde von der Linkspartei als Sieg gefeiert. Sie erlaubt es aber im Prinzip, die vorbeugende Überwachung vermeintlicher Extremisten auf gewählte Volksvertreter auszudehnen. Wer kontrolliert hier eigentlich wen?Vgl. Christoph Gusy, Wer kontrolliert wen? Der Unterschied zwischen Verfassungsschutz und Schutz der Verfassung am Beispiel Ramelow. In: Vorgänge, Nr. 4, 2012; ders., Grundrechte und Verfassungsschutz. Wiesbaden: Springer VS 2011. Das Verfassungsgericht sieht zwar die hochproblematische Verkehrung und betont, gerade hier bestehe die Gefahr, dass "die 'streitbare Demokratie' sich 'gegen sich selbst' wendet", aber: "Die Freiheit des Mandats ist nicht schrankenlos gewährleistet ... [Es ist] anerkannt, dass eine Beschränkung von Freiheitsrechten zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zulässig sein kann, weil das Grundgesetz sich für eine streitbare Demokratie entschieden hat ... Verfassungsfeinde sollen nicht unter Berufung auf Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören dürfen".BVerfG-Ramelow-Beschluss vom 17. September 2013 -- 2 BvR 2436/10, Rdnr. 117 und 111f (Entscheidungsgründe unter www.bverfg.de).Das ist ganz das alte Denken und könnte Wort für Wort im KPD-Urteil aus dem Jahr 1956 stehen. Es suggeriert, das Grundgesetz habe sich ein für allemal für eine streitbare Demokratie "entschieden". Das aber stellt Ausnahme und Regel auf den Kopf. Das Grundgesetz hat sich keineswegs dafür "entschieden", künftigen Generationen vorzuschreiben, Freiheit in Deutschland auf Sparflamme zu kochen. Eben das ist aber das Ideal der streitbaren deutschen Ideologie. Sie wird seit Jahrzehnten in Amtsstuben, auf Lehrstühlen und in Gerichtssälen emsig wiederaufbereitet, in Redaktionen und Schulen geduldig wiedergekäut. Sie kennt sich fabelhaft aus mit der Freiheit und wittert zuallererst deren Missbrauch; kurz: Der deutschen Ideologie graust vor den Schrecken, aber sie weiß nichts vom Glutkern der Freiheit.Vgl. Helmut Ridder, Zur Ideologie der "streitbaren Demokratie". Berlin: Argument 1979.Der Fall des Abgeordneten Ramelow ist ein Lehrstück über das Missverhältnis von Opposition und Geheimdienst. Dass legale politische Parteien und deren Abgeordnete auf Geheiß der Regierung geheimdienstlich beobachtet werden, ist in einer Demokratie nicht üblich: Politische Minderheiten sind in ihren Rechten gerade geschützt. Was anderswo einen handfesten politischen Skandal auslöste und den Geheimdienst in Erklärungsnöte brächte -- hierzulande geschieht es im Normalbetrieb und auf ordentlicher gesetzlicher Grundlage. Dass das Recht auf Opposition zu der vom Verfassungsgericht definierten fdGO-Formel zählt, geriet darüber in Vergessenheit.Ein drittes Beispiel. Ernst Uhrlau, hochkarätiger Geheimdienstexperte und zuletzt BND-Chef, prägte einen Satz, der einem seit der Aufdeckung des NSU-Skandals durch den Kopf geht: "Im Kampf gegen Rechtsradikale entscheidet sich die Zukunft des Verfassungsschutzes." In ihrer Extremistenfibel dienen Innenminister den Verfassungsschutz unverdrossen als ein "Frühwarnsystem" an, das "auch in Zukunft unverzichtbar" sei. Wer in dem über tausend Seiten starken Bericht blättert, den der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages kürzlich vorlegte, dem klingen solche Worte wie Hohn in den Ohren. Punkt für Punkt wird hier das gesamte Ausmaß eines "bis dahin nicht vorstellbaren Versagens" der Sicherheitsbehörden aufgelistet. Dabei geizt man wahrlich nicht mit Kritik an den polizeilichen Ermittlungen. Doch im Zentrum steht ein Abschnitt über die "mangelnde Analysefähigkeit" des Verfassungsschutzes. Ihm wird bescheinigt, er habe den Rechtsterrorismus "falsch und grob verharmlosend" dargestellt und über Jahre hinweg diese "fatale Unterschätzung und Bagatellisierung" fortgesetzt. Und obgleich mehrere Ämter etliche V-Leute im Umfeld des NSU-Trios führten, wurden deren Hinweise "teilweise nicht oder unzureichend" ausgewertet. Von der termingerechten Aktion Reißwolf im Kölner Bundesamt gar nicht zu reden.Die Drucksache 17/14600 ist ein Dokument, das in die Geschichte des deutschen Parlamentarismus eingehen dürfte. Die Kritik des Untersuchungsausschusses, die wohlgemerkt als "Minimalkonsens" von CDU bis Linkspartei formuliert wurde, gipfelt in dem Verdikt, der Verfassungsschutz habe "als Frühwarnsystem ... kläglich versagt".S. 853ff. des Abschlussberichts des "NSU-Untersuchungsausschusses". Deutscher Bundestag, Drucksache 17/14600, XLVII nebst CD mit Dokumenten und Protokollen (als pdf-Download unter www.bundestag.de). So gelangt man im Bericht zu der unvermeidlichen Frage, was mit solchen Ämtern überhaupt noch anzufangen sei.Reformieren oder abwickeln?Kann man den Verfassungsschutz reformieren? Ja, natürlich kann man das, es wird aber nicht genügen. Viele der diskutierten Reformvorschläge gehen in die richtige Richtung, und es käme einem "Stück 'Kulturrevolution'" gleich, würden sie wirklich umgesetzt, schreibt Winfried Ridder, der als Referatsleiter viele Jahre lang beim Verfassungsschutz für die Analyse des Linksterrorismus zuständig war.Winfried Ridder, Verfassung ohne Schutz. Die Niederlagen der Geheimdienste im Kampf gegen den Terrorismus. München: dtv 2013. Indes sind "Reformpakete", die lediglich interne Strukturen modernisieren, zu kurz gedacht. Ein zentrales V-Leute-Register löst nicht das V-Leute-Problem.Vgl. Rolf Gössner, Geheime Informanten. München: Knaur 2003 (Neuauflage als eBook 2012 mit einem aktuellen Prolog). Und eine Verbesserung der Zusammenarbeit löst nicht das Problem sich überschneidender Zuständigkeitsbereiche und schon gar nicht das der notorischen Konkurrenz zwischen Polizei und Verfassungsschutz. Die vom damaligen Innenminister Friedrich angekündigte "umfassende Binnenreform" bleibt dem Horizont der Ministerialbürokratie verhaftet und belegt neben guten Vorsätzen vor allem eines: den Überlebenswillen einer Institution, die um ihre Existenz bangt.Dass die Veranstaltung namens Verfassungsschutz auf der Kippe steht, ist den engagierten und nachdenklichen Geheimdienstleuten längst bewusst. Im Vorwort des Jahresberichts 2012 schreibt der Innenminister, in Zukunft werde die "Sammlung von Informationen über Personen und Gruppierungen konsequent in den Vordergrund treten, die als gewaltorientiert einzustufen sind oder Gewalt ausüben". Das ist der beste Reformansatz überhaupt, er reflektiert freilich nicht die prekäre Überschneidung mit originären Polizeiaufgaben.Bevorzugt der Verfassungsschutz dagegen eine der Gesellschaft entgegenkommende, das heißt sich selbst zurücknehmende weichgespülte Variante, so muss er sich beim Auswerten allgemein zugänglicher Quellen vorwerfen lassen, man könne selbst Zeitung lesen oder im Internet surfen. Und versuchen sich Geheimdienstler als Agenten der politischen Bildung, um bei der "Aufklärung" in Schulen zu helfen, so müssen sie sich anhören, sie verwechselten diese mit schnöder Öffentlichkeitsarbeit.Eine anstößige Alternative:"Politische Polizei" statt VerfassungsschutzEine radikale Reform der Sicherheitsarchitektur müsste von einer zentralen strategischen Überlegung ausgehen: Die nachrichtendienstliche Inlandsaufklärung muss in ihrem überkommenen Kernbereich, dem "legalistischen" Extremismus, zurückgenommen und künftig ganz auf den Bereich der politisch motivierten Kriminalität, insbesondere auf Gewalttaten ausgerichtet werden. Konzeptionell heißt das: Wo heute noch gesinnungsbezogener Verfassungsschutz herrscht, muss künftig gefahrenbezogener Republikschutz praktiziert werden. Ideologiebelastete Begriffe wie fdGO und Extremismus taugen dafür nicht. Eine neue Strategie zur Verteidigung der Demokratie braucht ein rationales, objektiv bestimmbares Kriterium, das nicht sogleich in den Streit der Tagespolitik gerät: den Rechtsbruch, die rote Linie der Gewalt. Diese ist politisch neutral, weil sie nicht auf den (stets umstrittenen) "extremistischen" Inhalt, sondern auf die Form von Politik abstellt. Es geht darum, sich auf die Tradition des bürgerlich-liberalen Verfassungsdenkens, das heißt auf ein reformalisiertes Verständnis von Demokratie zu besinnen.Der Weg aus dem Irrgarten der "inneren Sicherheit" führt über die Abwicklung des Verfassungsschutzes zur rechtsstaatlichen Domestizierung der früher so genannten "Politischen Polizei".Vgl. Claus Leggewie/Horst Meier, Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie. Reinbek: Rowohlt 1995; dies., Bürgerrechte & Polizei/CILIP 103 (3/2012), Polizeilicher Staatsschutz -- Ausweg oder Irrweg?. Der in Ansätzen bereits vorhandene Nachrichtendienst der Polizei muss reorganisiert werden und sich voll und ganz auf Milieus konzentrieren, die militante Einzeltäter, Gruppen und Gewalt hervorbringen. Künftig allein für Inlandsaufklärung verantwortlich, widmet er sich der schwierigen Aufgabe, im Vorfeld politisch motivierter Straftaten deren Planung rechtzeitig aufzudecken. "Auch wenn es für einen ehemaligen Verfassungsschützer nicht einfach ist", bilanziert Winfried Ridder: "Die Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus gehört in eine Hand. Und dies kann nur die Polizei sein." Eine solche Flurbereinigung stärkte einerseits den Schutz der Bürgerrechte und verbesserte andererseits die analytische Leistungsfähigkeit einer "Inlandsaufklärung", die diesen Namen verdient. Da, wo radikale Opposition zum Rechtsbruch übergeht, wo Hass in Gewalt und Terrorismus umschlägt, dort werden künftig die Schlachten um die Verteidigung der Demokratie geschlagen.Die Ämter für Verfassungsschutz können binnen fünf Jahren sozialverträglich abgewickelt werden. Sie stehen nicht etwa unter dem Schutz der Verfassung.Im Grundgesetz Artikel 87 I heißt es zwar: "Durch Bundesgesetz [kann eine Zentralstelle] ... zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes ... eingerichtet werden." Aber aus dieser Kompetenznorm ergibt sich keine Pflicht, Verfassungsschutz nach dem alten Muster zu betreiben. Einen Teil des Personals kann man in die Staatsschutzkommissariate der Kriminalpolizei eingliedern. Die dortigen Beamten sind seit jeher mit der Aufklärung politisch motivierter Straftaten beschäftigt. Das ist ebenfalls skandalträchtig, weil verdeckte Ermittler und auch V-Leute im Einsatz sind. Es ist aber, weil auf benennbare Gefahren und Straftaten bezogen, ein ungleich solideres Handwerk als die uferlose Spitzeltätigkeit eines "Frühwarnsystems", das nicht einmal funktioniert.Es überrascht nicht, dass sich unter jenen, die den Verfassungsschutz so schnell wie möglich loswerden wollen, kaum jemand für eine Politische Polizei erwärmen kann. In vielen Diskussionen klingt an, so etwas Anstößiges dürfe es in einer Demokratie gar nicht geben. Dabei wird übersehen, dass in der Bundesrepublik (nach dem Muster der Weimarer Republik) von Anbeginn ein kriminalpolizeilicher "Staatsschutz" aufgebaut wurde. Gewiss, diese Politische Polizei ist historisch stark belastet; die Liste der Negativbeispiele ist lang.Eine durch die Umbrüche der Herrschaftssysteme wandelnde literarische Kunstfigur schuf Hans Joachim Schädlich, Tallhover. Reinbek: Rowohlt 1986; eine Art oral history bietet Richard J. Evans, Kneipengespräche im Kaiserreich. Stimmungsberichte der Hamburger Politischen Polizei 1892-1914. Reinbek: Rowohlt 1989. Die Berührungsängste zur Politischen Polizei sind also verständlich, jedoch im Kern unbegründet: Soweit und solange diese in rechtsstaatliche Strukturen eingebunden ist, bleibt sie ein Instrument zum Schutz der Republik.Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Verfassungsschutz wird weder mit der Polizei zusammengelegt noch werden seine ausufernden Aktivitäten auf die Polizei verlagert.Ob sich das von Linken und Liberalen betonte "Trennungsgebot" aus dem Grundgesetz ableiten lässt und welche Tragweite es hat, ist umstritten und wurde bislang vom Verfassungsgericht nicht entschieden. Im Bundesgesetz über den Verfassungsschutz ist zwar ausdrücklich festgeschrieben, dass dieser keiner polizeilichen Dienststelle angegliedert werden darf. Das aber steht zur Disposition einer einfachen Parlamentsmehrheit. In seinem Urteil zur Antiterrordatei (vom 24. April 2013) hat das Verfassungsgericht aus dem Grundrecht auf Datenschutz ein "informationelles Trennungsprinzip" abgeleitet und erklärt, der Datenaustausch zwischen Polizei und Nachrichtendiensten sei "nur ausnahmsweise zulässig" (Rdnr. 123). Die Vorfeldüberwachung der neuerdings "Legalisten" genannten Extremisten entfällt ersatzlos. Das "Frühwarnsystem" der Demokratie heißt nicht amtlicher Verfassungsschutz, sondern freie Wahlen, ungehemmte Meinungsfreiheit und kritische Öffentlichkeit. Nehmen wir zum Beispiel die NPD: Mit einer Partei, die bislang keine militanten und klandestinen Strukturen aufweist und bei der letzten Bundestagswahl mit 1,3 Prozent (das sind 560828 Zweitstimmen) unter den Tisch fiel, kann und muss eine demokratische Gesellschaft zurechtkommen. Einzelne Mitglieder oder Teilbereiche der Partei geraten erst dann ins Visier eines polizeilichen Nachrichtendienstes, wenn ihre Politik in Straftaten übergeht.Durch den Bedeutungszuwachs des präventiv-polizeilichen Nachrichtendienstes droht keine "Geheimpolizei" in rechtsfreien Räumen; es gelten alle rechtsstaatlichen Regeln, die Polizeiarbeit üblicherweise binden. Im Ergebnis erhält der polizeiliche Staatsschutz nicht mehr Kompetenzen und Eingriffsbefugnisse als bisher, er behält einzig die -- nunmehr alleinige -- Zuständigkeit für Terrorismus und politisch motivierte Kriminalität. Dazu gehört, wie schon bisher, ein gewisses Maß an Vorfeldüberwachung. Der entscheidende Unterschied zum Verfassungsschutz ist, dass sich dieses Vorfeld auf potentielle, im Gesetz definierte Straftaten bezieht und nicht auf eine politische Grauzone des legalen Extremismus. Der Nachrichtendienst der Polizei würde also nicht neu erfunden, sondern durch ehemalige Verfassungsschützer personell verstärkt.Wer beklagt, dass das mutmaßliche NSU-Trio jahrelang unentdeckt blieb, sollte sich dem Problem stellen, statt sich auf die pauschale Behauptung zurückzuziehen, jeglicher Nachrichtendienst sei mit demokratischen Prinzipien unvereinbar: Transparenz und Geheimdienst bleiben ein spannungsgeladener Widerspruch, mit dem Politik so oder so umgehen muss. Die Zeit ist reif für eine Zäsur, die gar nicht so radikal ist, wie sie sich anhört. Die Berliner Republik kann den Weg ins Freie gehen. Sie kann sich in eine Tradition stellen, die hierzulande lange schwach ausgebildet war, jetzt aber ein Fundament in der demokratischen Lebenswelt besitzt: in die Tradition des bürgerlich-liberalen Verfassungsstaats. Dieser Verfassungsstaat ist keine Zitadelle der Ausgrenzung, er bietet ein Forum der zivilen Konfliktaustragung: Bürgern und "Wutbürgern", Extremisten und Radikalen -- all inclusive.