Jan Philipp ReemtsmaJan Philipp Reemtsma / Mittelweg 36EurozineMittelweg 36Mittelweg 36 6/20132014-01-29"Ehrenvoller Auftrag! Ehrenvoller Auftrag!"Ansprache zum Gedenken an den 9. November 1938Der vorliegende Text basiert auf einer Rede, die Jan Philipp Reemtsma am 10. November 2013 anlässlich der Gedenkstunde zum 9. November 1938 in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat."Wenn jemand das Unglück des Landes oder sein eigenes Unglück der Anwesenheit jüdischer Elemente im Gemeinwesen zuschreibt, wenn er vorschlägt, diesem Zustand abzuhelfen, indem die Juden bestimmter Rechte beraubt oder von bestimmten ökonomischen und sozialen Funktionen ferngehalten oder des Landes verwiesen oder alle ausgerottet werden, sagt man" -- schreibt Jean-Paul Sartre 1944Erstmals veröffentlicht wurde Sartres Text 1945 und 1946. -- "er habe antisemitische Anschauungen." Und Sartre fährt fort: "Ich weigere mich jedoch, eine Lehre, die ausdrücklich auf besondere Personen abzielt und bestrebt ist, ihre Rechte zu beseitigen oder sie auszurotten, eine Meinung zu nennen. [...] Der Antisemitismus fällt nicht in die Kategorie von Gedanken, die das Recht auf freie Meinungsäußerung schützt. Außerdem ist er etwas ganz anderes als eine Denkweise. Er ist vor allem eine Leidenschaft."Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek 1994, S. 9f. Der Antisemitismus ist auch kein Vorurteil. Vorurteile sind falsifizierbar. Aber wenn man einem Antisemiten sagt, es sei falsch, dass diese oder jene Berufssparte "in jüdischer Hand" sei (oder wie seine Formulierung lauten mag), bekommt man zu hören: "Das ist ja das Problem: Man sieht sie nicht."
Schließlich ist der Antisemitismus keine Ideologie. Eine Ideologie ist eine wenigstens leidlich kohärente Weltsicht, die, sie mag noch so sehr an fixe Ideen und grobes Missverstehen gebunden sein, abgrenz- bar ist gegen andere Ansichten von der Welt. Der Antisemitismus ist das, was er dem Juden zuschreibt: Er ist universell anpassungsfähig (es gibt totalitäre und liberale, religiöse und atheistische, nationalistische und universalistisch denkende Antisemiten), und am Ende dominiert er das, womit er sich verbunden hat. Der Antisemitismus hat keine Grenzen, man kann ihn ebenso wenig widerlegen wie die Darlegungen eines Paranoikers: Ihm wird alles auf der Welt zum Beleg. Antisemitismus hat nur eine einzige Grenze: den Abscheu vor dem Antisemitismus und die Politik, die ihn bekämpft.
Der 9. November 1938 -- die Pogrome, die in Deutschland der Nachricht von der Ermordung des Diplomaten Ernst von Rath durch Herschel Grynszpan folgten, während derer jüdische Räume, private, öffentliche, religiöse zerstört wurden, Juden verhaftet, deportiert, geschlagen und ermordet wurden -- die "Katastrophe vor der Katastrophe", wie Raphael Gross geschrieben hatRaphael Gross, November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe, München 2013. -- man schreibt die Geschichte der Tage, für die der 9. November als symbolisches Datum steht, längst nicht mehr als Geschichte einer Tat und ihrer Folgen, sondern als Teil der Geschichte des Jahres 1938. Victor Klemperer erinnert sich an die Pogrome im November, auf das Jahr zurückblickend: "Und dann der entscheidende Schlag [...] das Inferno."Ebd., S. 6. Aber das Jahr 1938 ist Teil der Jahre 1933 bis 1945, die wiederum...-- man kann jede Geschichte als Teil größerer Geschichten erzählen, darum geht es nicht. Es geht nur eben darum, was man aus den Ereignissen, die vorausgegangen sind, hervorheben will, weil es zum Verständnis des Ereignisses, über das man sprechen will, unerlässlich ist. Man darf bei der Beschreibung von Geschichte nicht auf das zu achten verlernen, was Entscheidungen gewesen sind, Entscheidungen, die so oder anders hätten ausfallen können: Politik. Wäre Hitler nicht in die Macht hinein- komplimentiert worden, hineinkomplimentiert durch eine Allianz von Immoralität und Dummheit, es hätte so nicht kommen müssen. Dem, was folgte, war die Anfangslegitimität gegeben. Man hatte den Anführer einer als politische Partei formierten Bande gewählt, die im Wesentlichen zwei Ziele proklamierte: Krieg und Mord. Was den Terminus "Mord" angeht, wird oft eingewendet: Das, was man "Schoah" oder "Holocaust" nennt, der systematische Massenmord an der europäischen jüdischen Bevölkerung, sei doch weder abzusehen gewesen noch programmatisch verkündet worden. Das ist richtig. In Nürnberg sagte Julius Streicher zu seiner Verteidigung, das sei doch anfangs alles nicht so gemeint gewesen, so redeten Antisemiten eben. Das stimmt und gilt nicht nur für Nazis. Aber die Nationalsozialisten hatten die politische Gelegenheit bekommen, sich selbst beim Wort zu nehmen. Es heißt, die Wähler der NSDAP seien nicht alle fanatische Antisemiten gewesen, viele hätten diese Partei aus ganz anderen Gründen gewählt. Das ist richtig. Sie haben diese "anderen Gründe" jedoch für etwas gehalten, was es rechtfertigte, eine Partei zu wählen, die -- so viel ist zu sagen -- ein radikales Diskriminierungsprogramm gegen einen Teil ihrer Mitbürger ankündigte, und dies in einem mörderischen Vokabular, das so nie zuvor die Rhetorik einer Massenpartei geprägt hatte. Darum geht es bei den vielen Wählern, die doch, wie man sagt, keine Antisemiten gewesen seien: dass ihnen das egal gewesen ist. (Eine Seitenbemerkung: All die Intellektuellen, die nach dem Januar 1933 oft nur für kurze Zeit auf ein imaginiertes Neuerungspotential der NS-Regierung setzten und denen man nachher politischen Irrtum zuschrieb, haben durch ihr Handeln bekannt, dass ihnen das egal gewesen ist. Das ist kein politischer Fehler.)Von Anfang an gab es zwei Gesichter der Umsetzung des politisch organisierten Antisemitismus, das der Gesetzgebung, Verordnungen etc. und das der Übergriffe, der lizenzierten Brutalität. Bereits im März 1933 werden Kunden jüdischer Geschäfte bedroht, gibt es Schlägereien, Schmierereien, Einbrüche am helllichten Tag. 1935 kommt es zu einer "zweiten Welle der Gewalt zwischen Januar und August". Daneben ist eine steigende "Verordnungs- und Gesetzesflut" zu beobachten.Ebd., S. 34. All das bedeutete die Gewöhnung an eine radikal neue gesellschaftliche Situation. Eine Gruppe, die klar zu definieren man Gesetzgebungsaufwand betrieb, wurde stigmatisiert und zunehmend rechtlos gemacht: rechtlos durch Rechte beschneidende Gesetze und Verordnungen, rechtlos durch die durch Organisationen der Partei aktiv hergestellten rechts- freien Räume, die durch staatliches Nichtstun positiv sanktioniert wurden. Das gehört zusammen, vor allem dadurch, dass das eine das jeweils andere öffentlich legitimiert. Die Gesetze und Verordnungen stellen zunehmend die legale Normalität einer Gesellschaft doppelten Rechts her. Die Übergriffe sind öffentliche Inszenierungen eines durch die offiziellen Maßnahmen noch nicht befriedigten Begehrens: Noch, heißt das, ist die "jüdische Frage" nicht "gelöst". Wenn eine Gruppe von SA-Leuten mit Gefolge in ein Haus einbricht, die Zimmer verwüstet, die Möbel auf die Straße wirft, so heißt das zweierlei: Wir können das ungestraft tun -- und: So muss man das machen. Eine Normalität wird bestätigt und eine neue punktuell avantgardistisch gesetzt. Am 15. Februar 1938 veröffentlicht eine Zeitschrift namens Der Student der Ostmark eine mit "Jüdische Firmen in Königsberg" überschriebene Liste. Aufgeführt wurden: "Geschäftemacher [, die] ihren Profit aus den Lohngroschen deutscher Arbeiter und Angestellter" zögen. Es finden sich auf dieser Liste Geschäfts- und PrivatadressenAndreas Nachama/Uwe Neumärker/Hermann Simon (Hg.), "Es brennt!". Antijüdischer Terror im November 1938, Berlin 2008, S. 64. -- eine Liste, während eines Pogroms abzuarbeiten. Das Jahr 1938 bereitete insgesamt die Bühne für seinen November. 1938Zum Folgenden vgl. Saul Friedländer, Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1, München 1998; Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München/Zürich 1998. ist das Jahr der Annektierung Österreichs und der dort sogleich einsetzenden antisemitischen Aktionen und Maßnahmen. Ein weiterer Expansionserfolg: die international akzeptierte Annexion eines Teils der Tschechoslowakei. Anfang 1938 werden Juden sowjetischer Staatsangehörigkeit aus Deutschland ausgewiesen. 1938 ist auch das Jahr der "Polenaktion", der Abschiebung in Deutschland lebender Juden nach Polen. Arisierungen werden vorangetrieben und zunehmend rück- sichtsloser durchgeführt. Es kommt immer wieder zu massiven anti- jüdischen Ausschreitungen. Schon im Juni gibt es eine Denkschrift des von Joseph Goebbels damit beauftragten Berliner Polizeipräsidenten, die in Teilen vorwegnimmt, was dann in der berüchtigten Konferenz nach den Novemberpogromen programmatischer Exzess wird: die Einführung von Kennkarten, die Kennzeichnung jüdischer Geschäfte, das Verbot des Grundstückserwerbs, die Einrichtung von "jüdischen Gaststätten" und das Verbot des Betretens bestimmter Freizeiteinrichtungen. Während an dieser Denkschrift noch gearbeitet wird, werden in Berlin jüdische Geschäfte durch Beschmierungen und Demolierungen gekennzeichnet. Der Hinweis: "das ist jüdisches Eigentum" und die Demonstration dessen, was mit ihm zu tun erlaubt ist, fallen in eins.
Es ist interessant für die Dynamik dieses durch staatliche und nichtstaatliche Institutionen Aktion werdenden Judenhasses, wie unentschieden Goebbels für sich selbst den Juni 1938 kommentiert: "Die Judenfrage in Berlin hat sich nun sehr kompliziert. Die Partei hat [...] die Judengeschäfte beschmiert. Darob hat sich [der gerade zum Wirtschaftsminister ernannte Walter] Funk eingeschaltet. Er will das alles legal machen. Aber es dauert so lange [...]. [Polizeipräsident] Helldorf hat meine Befehle ins Gegenteil verkehrt: ich hatte gesagt, Polizei handelt mit legalem Gesicht, Partei macht Zuschauer. Das Umgekehrte ist nun der Fall." Statt dass die Polizei agiert und der Mob die Kulisse der Gaffer gibt, agiert nun der Mob, und die Polizei sieht zu. "Ich bestelle mir alle Parteiinstanzen und gebe neue Befehle heraus. Alle illegalen Handlungen" -- man übersetze sich das: alle Handlungen, die nicht von staatlichen Organen durchgeführt werden, die gesetzliche Grundlage ist nicht das Thema -- "haben zu unterbleiben [...] Funk muß sich etwas sputen mit seinen Maßnahmen [...] im Übrigen hat diese Art von Volksjustiz doch auch wieder ihr Gutes gehabt. Die Juden sind auf- geschreckt worden."Longerich, Politik der Vernichtung, S. 179.
In diesem Sommer finden in ganz Deutschland antijüdische Aktionen statt. In Frankfurt am Main "Zertrümmerungen von Fensterscheiben, Beschmierungen widerlicher Art von Schaufenstern," -- so wörtlich der für den Bereich Fulda-Werra zuständige SD-Führer -- "Beschädigungen von Synagogeneinrichtungen, Belästigungen von arischen Angestellten, tätliche Auseinandersetzungen mit jüd. Geschäftsinhabern usw."Ebd., S. 183. Die Folgerungen, die man auch aus einigen dabei festgestellten Abneigungsbekundungen gegen Unordnung zieht, bestehen etwa in einem Maßnahmenprogramm, das unter anderem das Verbot für Juden enthält, Theater, Badeanstalten und Grünanlagen aufzusuchen. Doch ist der SD insgesamt, wie Goebbels, mit den nichtstaatlichen Aktionen keineswegs unzufrieden. Goebbels schrieb in sein Tage- buch, die Juden seien "aufgeschreckt" worden, der SD bilanziert: "Die Aktionen gegen jüdische Geschäfte, die im ganzen Reichsgebiet durchgeführt worden sind, haben in vielen Fällen die Arisierung der Geschäfte vorwärts getrieben. Um sich vor weiteren Maßnahmen seitens der Bevölkerung" -- Maßnahmen seitens der Bevölkerung -- "zu schützen, haben die jüdischen Geschäftsinhaber teilweise ihre Geschäfte von sich aus selbst gekennzeichnet" -- von sich aus selbst. "In anderen Fällen wurden sie zur Kennzeichnung ihrer Geschäfte durch polizeiliche Anordnung veranlaßt."Ebd., S. 184.Es folgt eine gesetzgeberische Offensive, zu der das Verbot diverser Berufe für Juden, der Entzug der Approbation für jüdische Ärzte und das Verbot der Anwaltstätigkeit gehört. Nach den Novemberpogromen wird Juden zudem untersagt, den Beruf des Zahnarztes, des Tierarztes oder Apothekers auszuüben. Im Verlaufe des Sommers werden in München und Nürnberg die dortigen Hauptsynagogen abgerissen, im September in zahlreichen Orten Synagogen überfallen und verwüstet. In Franken und Württemberg kommt es zu Vertreibungen ortsansässiger Juden. "Nach Berichten sollen sich die Angehörigen der Gliederungen der Partei in Zivil vor den jüdischen Anwesen versammelt und die Juden zum endgültigen Verlassen des Ortes aufgefordert haben. Als diese der Aufforderung keine Folge leisteten, habe man sie aus ihren Häusern herausgeholt, geschlagen und angespuckt, mit den Füßen getreten und zum Teil barfuß durch die Ortschaft getrieben. Auch die Kinder nahmen an dieser Demonstration nach Aufforderung teil." Es sei zu "empörten Reaktionen" der nicht beteiligten Bevölkerung gekommen; man habe daraufhin die Juden in "Schutzhaft" genommen und sie, nachdem sie sich verpflichtet hatten, den Ort zu verlassen, freigelassen. Das Ergebnis ist dasselbe, nur im zweiten Zug findet es gleichsam ordentlich statt, dieses Mal von staatlichen Organen durchgeführt. Es braucht beide Seiten: die öffentliche Demonstration der Rechtlosigkeit, bei der es nicht darauf ankommt, wer an ihr teilnimmt und wer sie missbilligt, sowie die staatliche positive Sanktionierung und Durchführung der Rechtlosstellung durch den Mob, die zuvor -- "Es muß hinzugefügt werden, daß Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung zum Teil auch daraus entstanden sind, daß die Parteiangehörigen den Augenblick zur endgültigen Liquidierung der Judenfrage gekommen glaubten" -- durch buchstäblich richtungsweisende Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen seitens des Staates vorbereitet worden war.Ebd., S. 192ff. Grynszpans Attentat liefert ein willkommenes Stichwort. Goebbels vermerkt es am 9. November in seinem Tagebuch mit dem Kommentar: "In Hessen große antisemitische Kundgebungen. Die Synagogen werden niedergebrannt. Wenn man jetzt den Volkszorn loslassen könnte!" Erst am 10. wird ein Konzept daraus: "In Kassel und Dessau große Demonstrationen gegen die Juden, Synagogen in Brand gesteckt und Geschäfte demoliert. Nachmittags wird der Toddesdeutschen Diplomaten von Rath gemeldet [...] Ich gehe zum Parteiempfang [...] Riesenbetrieb [...] Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig." Hitler setzt auf Aktionen des Mobs (worunter immer zu verstehen ist: Stoßtrupps der NSDAP, SA oder SS und wer immer sich ihnen anschließen mag). "Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei. Dann rede ich kurz dementsprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telephone. Nun wird das Volk handeln." Goebbels' Leidenschaft ist entfacht, und er lässt sich von sich selbst mitreißen wie alle anderen Aktivisten in dieser mörderischen Sache auch: "Einige Laumänner machen schlapp. Aber ich reiße immer wie- der alles hoch. [...] Mal den Dingen ihren Lauf lassen. Der Stoßtrupp Hitler geht gleich los, um in München aufzuräumen. Das geschieht denn auch gleich. Eine Synagoge wird in Klump geschlagen. Ich versuche sie vor dem Brand zu retten. Das mißlingt", stellt er befriedigt fest. "Ich gebe noch ein präzises Rundschreiben heraus, in dem dargelegt wird, was getan werden darf und was nicht [...] ich lasse mich nicht beirren. Unterdeß verrichtet der Stoßtrupp sein Werk [...] Ich weise [...] an, die Synagoge in der [Berliner] Fasanenstraße zerschlagen zu lassen [...] Ich will ins Hotel, da sehe ich den Himmel blutrot. Die Synagoge brennt. [...] Wir lassen nur so weit löschen, als das für die umliegenden Gebäude notwendig ist. Sonst abbrennen lassen. Der Stoßtrupp verrichtet fürchterliche Arbeit. Aus dem ganzen Reich laufen nun Meldungen ein [...] Jetzt rast der Volkszorn. Man kann für die Nacht nichts mehr dagegen machen. Und ich will auch nichts machen. Laufen lassen. [...] Als ich ins Hotel fahre, klirren die Fensterscheiben. Bravo! Bravo! In allen großen Städten brennen die Synagogen", notiert Goebbels wie trunken. Am nächsten Tag wird nachgenießend wieder Ordnung gemacht. "Die Vorgänge in Berlin. Dort ist es ganz toll hergegangen. Brand über Brand. Aber das ist gut. Ich setze eine Verordnung auf Abschluß der Aktionen auf. Es ist nun gerade genug. Lassen wir das weitergehen, dann besteht die Gefahr, daß der Mob in Erscheinung tritt." Soll heißen: Diejenigen, die nicht kommandiert oder an- gestiftet sind, die, die machen, was sie wollen, wie hieß es: "Belästigung von arischen Angestellten". "In der Osteria erstatte ich dem Führer Bericht [...] Die Aktion selbst ist tadellos verlaufen. 17 Tote. Aber kein deutsches Eigentum be- schädigt." Am 12. November ergänzte Goebbels: "Die Lage im Reich hat sich allgemein beruhigt [...] Die Juden können mir obendrein noch dankbar sein."Elke Fröhlich (Hg.), August 1938-Juni 1939. Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil 1: Aufzeichnungen 1923-1941, Bd. 6, München 1998, S. 178ff. Es waren 1400 Synagogen sowie weit über 7000 Wohnhäuser und Geschäfte zerstört, 30700 Menschen verhaftet und deportiert und zwischen 1300 und 1500 Personen ermordet worden. Über den 9. November wird aus dem thüringischen Nordhausen berichtet: "Die betrunkenen SA- und SS-Männer [holten] alle Juden, Männer, Frauen, Kinder und Schwerkranke und Greise, aus ihren Wohnungen. Teils noch in Nachthemden wurden wir dann in Autos zum 'Siechenhof' [früher eine Art Obdachlosenasyl, ab 1933 ein Internierungsort für Angehörige unterschiedlicher Gruppen] gebracht. Natürlich wurden beim Abholen auch die Wohnungen demoliert, Betten zerschnitten, Stuhlbeine abgebrochen, alle Fensterscheiben von jüdischen Läden wurden eingeschlagen [... Es] kam alles schon geschlagen und geprügelt auf dem Siechenhof an. Auch zwei- und dreijährige Kinder waren in der Gruppe. Auf dem Siechenhof wurde weitergeprügelt." Am nächsten Tag werden die Männer zwischen 15 und 85 Jahren, 78 an der Zahl, nach Buchenwald gebracht. Sie werden ins Lager geprügelt, im Lager geprügelt, in Baracken zusammengepfercht. "Von den Nordhäusern im Konzentrationslager umgekommen: 1) Singer, Vater des Lehrers von Nordhausen, 60 Jahre alt. Er wurde in der Nacht vom Sonntag auf Montag verrückt und ist in der Waschküche totgeschlagen worden. 2) Sohn von Singer, Lehrer, ging ins Drahtverhau, weil er nicht mit ansehen konnte, wie sein Vater, mit der Hand angebunden, über den Hof geschleift wurde. 3) Amtsgerichtsrat Gerson, wollte ins Drahtverhau, ist dann gebunden und totgeschlagen worden. 4) Ernst Plau, in der Waschküche erledigt. 5) Bacharach, 81 Jahre alt, totgeschlagen. 6) Lewin, 70 Jahre alt; totgeschlagen."Zitiert aus: Gross, November 1938, S. 59ff. Der Antisemitismus ist keine Ansicht, kein Vorurteil, keine Ideologie. Er ist die Selbstermächtigung von Menschen, ihre Macht in Freiheit vom gemeinen Witz bis zum organisierten Mord auf Juden zu richten und auszuleben. Die Legitimationen dieses Tuns sind für die Täter und die, die sich ihnen anschließen, belanglos, allenfalls nachrangig -- das, was man eben sagt, wird man nachträglich gefragt. Die Tat wird nicht durch die Worte, die sie begründen, legitimiert, sondern die Tat erfährt ihre Legitimation dadurch, dass sie getan werden kann. Im Kern ist auch jede Legitimation, die der Antisemit äußert, aufschreibt und verkünden lässt, nur diese eine: dass man in einer langen Tradition des Antisemitismus stehe und nun antrete, dieses Problem endlich zu lösen. Die Rechtfertigung liegt also darin, dass der Ankündigung die Tat folgt. Aber Antisemitismus gab es doch überall -- warum in Deutschland in dieser Weise? Nur in Deutschland gab es eine radikal antisemitische Regierung, nur in Deutschland gab es genügend Wähler, die eine solche Partei wegen oder unter gleichgültigem "Absehen von" diesem Antisemitismus gewählt hatten. In Deutschland gab es keine zureichende Tradition, keinen verlässlichen Abscheu sozialer und intellektueller Eliten vor solchem Mob. Die Frage, wie es in einem kultivierten Land zu so etwas habe kommen können, ist falsch gestellt: Es war eben kein kultiviertes Land in diesem Sinne. Es wäre sonst eben dazu nicht gekommen. Man konnte die Ereignisse nicht voraussehen, aber zumindest eine Warnung vernehmen im Berliner Antisemitismusstreit. Heinrich von Treitschke machte sich 1879 mit seinen vulgären Tiraden akademisch eben nicht unmöglich; unter den nichtjüdischen Wissenschaft- lern widersprach nur Theodor Mommsen vehement. Treitschke folgten dann auch bald diejenigen, die schon von Deportation und Mord fantasierten.Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2013, S. 423--430. 15 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 442-444.Wenn ich vom leidenschaftlichen Ausleben der Freiheit spreche, Mitmenschen nach Gutdünken zuzurichten, indem man sich selbst zu dem erhöht, der andere erniedrigen darf, der lebt, damit andere sterben müssen, dann meine ich nicht nur das Gesicht des Pogroms. Ich meine auch die Gesetze und Verordnungen vorher und nachher. Sie sind ein Ausdruck großer, fast kindlicher Freude über die Freiheit, über die Stränge der Zivilisation schlagen zu können. Wie erfreut man sich doch an den Schikanen, die man verfügt. Wie hochgestimmt ist der Kreis um Hermann Göring, der am 12. November berät, was weiter geschehen soll.Vgl. zum Folgenden ebd., S. 442-444 Denn man muss ja wieder ans Regeln gehen. Wie freuen sie sich, zu dekretieren, die Juden sollten doch die Schäden gefälligst selbst aufräumen -- und natürlich dafür bezahlen. Wie viel? Sie überbieten einander wie die Kleinkinder: 6 Millionen? 30 Millionen? Warum nicht 100 Millionen! Ach was: eine Milliarde! Und dann zum Grundsätzlichen: Juden in der Öffentlichkeit. In Eisenbahnzügen? Man debattiert hin und her, wie man das machen soll mit den Abteilen, und was ist, wenn ein Zug überfüllt wäre, aber dann hat Göring die Idee: Der Jude muss "auf dem Lokus sitzen während der ganzen Fahrt". Man denke auch an die Schmierereien der Gestapo, von denen Victor Klemperer berichtete, wenn es eine Razzia gab im "Judenhaus". Immer wieder geht es um die Freizeitanlagen: Sollen Juden sich doch in eigenen Kinos jüdische Filme ansehen! Und: "Heute laufen Juden rudelweise" -- rudel- weise -- "im Grunewald herum. Das ist so aufreizend und provozierend, daß es dauernd zu Schlägereien kommt." Göring hat die Idee, bestimmte Teile nur für Juden vorzusehen und dort Tiere anzusiedeln, die wie Juden aussehen, Elche zum Beispiel, denn "der Elch hat ja so eine gebogene Nase". Sie amüsieren sich königlich über den Mordsspaß. Ein Antisemit, konstatiert Sartre, "möchte das disziplinierte Mitglied einer undisziplinierten Gruppe sein", er will "sich alles erlauben [können], ohne fürchten zu müssen, als Anarchist zu gelten, was ihm ein Grauen wäre".Sartre, Überlegungen, S. 23. "Ich lasse mich nicht beirren", schreibt Goebbels, und als er die Anweisung gibt, die Synagoge in der Fasanenstraße "zerschlagen zu lassen", sagt der Kommandoempfänger: "Ehrenvoller Auftrag"Fröhlich (Hg.), Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil 1, Bd. 6, S. 180. -- und immer wieder: "ehrenvoller Auftrag". Es muss immer nebenher mitlaufen -- nicht bei allen, aber bei denen, die etwas von sich halten --, dass sie etwas anderes sind als Schläger und Mörder, wenn sie zuschlagen und morden. Man mache auch nicht so viel her von denen, die antisemitische Politik als Intellektuelle und Wissenschaftler begleiteten, wenn nicht vorantrieben. Um das Programm von Schlägern und Mördern intellektuell zu garnieren, muss man bald denken wie ein Schläger und einer, der auf Mord aus ist. Die einen machten Karriere, weil es ihnen lag, so zu denken und zu schreiben, die anderen, weil sie es im Hand- umdrehen lernten -- und sie lernten es im Handumdrehen, weil es ihnen Spaß machte. Die Lust an destruktiver Machtausübung führt stets die Lust an Dummheit und auch gedanklicher Rohheit mit sich. Das scheußliche Treffen des 12. November ist ein höllisches Kaspertheater. Und ein solches Theater findet nicht nur in Ministerien statt, sondern auch an Universitäten. Der Antisemitismus, wenn er öffentliche Tat wird, wenn er staatlich geduldet, wenn er, wie zwischen 1933 und 1945 in Deutschland, Regierungspolitik wird, ist ein losgebundener Vernichtungswille, der sich seiner Legitimität durch erfolgreiche Tat versichert. Dem hat man nichts entgegenzusetzen, wird die staatliche und öffentliche Macht von solchen Leidenschaften beherrscht. Dann haben alle, die nicht mittun wollen, verloren. Aber erst dann. Vorher gibt es Gesetzlichkeit -- und, man unterschätze sie nicht, die Macht des Abscheus und der Verachtung sowie das, was wir hier tun. Demokratien müssen ein Bewusst- sein ihrer Fragilität haben -- und ein Selbstbewusstsein, das aus dem Wissen ihrer Bürger und ihrer politischen Repräsentanten besteht, dass sie es sind, die die Zukunft der Demokratie in der Hand haben. Es geht, immer wieder, um Selbstvergewisserung. Nennen wir das, was wir hier tun, nicht "Erinnerungspolitik" -- nennen wir es Politik.