William E. Scheuerman
Hendrikje Schauer
William E. Scheuerman / Mittelweg 36
Eurozine
Mittelweg 36
Mittelweg 36 1/2013 (German version); Eurozine (English version)
2013-03-07
Von Präsidenten und Monarchen
Barack Obamas "Krieg gegen den Terror"
Die meisten US-amerikanischen Politik- und Rechtswissenschaftler haben Barack Obamas runderneuerter Version des sogenannten Kriegs gegen den Terror einen Freipass ausgestellt. Zwar hat es auch kritische Stellungnahmen gegeben: Bürgerrechtler und andere liberale Stimmen haben auf den Meinungsseiten der New York Times das Versagen Obamas angeprangert, sein Wahlkampfversprechen aus dem Jahre 2008 einzulösen und die umstrittene Antiterrorpolitik seines konservativen Vorgängers auf den Prüfstand zu stellen. Doch stehen solche Äußerungen in keinem Verhältnis zu der Flut an kritischen Büchern und Zeitungsartikeln, unter der seinerzeit die Politik Präsident George W. Bushs versank. Diese unterschiedlichen Reaktionen lassen sich teilweise auf Obamas bewundernswerte Entscheidung zurückführen, die von der Bush-Administration befürworteten "verschärften Verhörmethoden" (d.h. die Folter) abzuschaffen. Wahrscheinlich hat die Schweigsamkeit aber auch mit der parteipolitischen Präferenz von Juristen und Politologen zu tun, die instinktiv mit Obama als Präsident und einer Regierung der Demokraten sympathisieren. Zudem wurde die Neigung, sich mit Vorwürfen an Obama zurückzuhalten, wohl auch, wiewohl unbeabsichtigt, durch rechte Kritiker wie den vormaligen Vizepräsidenten Dick Cheney oder New Yorks ehemaligen Bürgermeister Rudy Giuliani verstärkt, die keine Gelegenheit ausließen, Obama vor laufenden Fernsehkameras vorzuwerfen, er bekämpfe den Terrorismus nicht entschlossen genug.
Dennoch verdient Obamas bescheidene humanitäre Bilanz im "Krieg gegen den Terror" unsere kritische Aufmerksamkeit. Die deprimierenden Resultate erzwingen eine simple Frage: Was ist eigentlich schiefgegangen? Auf diese Frage möchte ich mit der These antworten, dass Obamas Defizite maßgeblich dem spezifisch präsidialen Charakter der US-amerikanischen Demokratie geschuldet sind. Ein solches System erwartet vom Präsidenten, der Staatsoberhaupt und Regierungschef in einer Person ist, die Übernahme institutioneller und symbolischer Aufgaben, die an klassische Monarchien erinnern. Die verdeckt monarchischen Züge des amerikanischen Präsidialsystems haben entscheidend dazu beigetragen, dass die weitreichenden politischen und rechtlichen Kontinuitäten zwischen Bush und Obama zustande kamen. Erst wenn die Bürger der Vereinigten Staaten nicht nur Präsident Obamas enttäuschende Bilanz im Krieg gegen den Terror, sondern auch die institutionellen Eigenheiten ihres Präsidialsystems skeptischer betrachteten, könnte es zu humanitären Verbesserungen im anhaltenden -- und scheinbar endlosen -- Krieg gegen den Terror kommen.
I. Verfolgt von George W. Bushs Geist
Es ist unbestreitbar, dass Obama in einigen Kernbereichen der Politik mit den Positionen seines republikanischen Vorgängers gebrochen hat. Er ist von der frühzeitigen Befürwortung der Folter durch die Bush-Administration abgerückt. Trotz beachtlichen politischen Widerstands hat er eine ganze Reihe zuvor als geheim eingestufter Dokumente über die jüngsten amerikanischen Verhörpraktiken veröffentlicht, die absolut grauenhafte Details ans Licht gebracht haben.Die militanten al-Qaida-Mitglieder Abu Zubaydah und Chalid Scheich Mohammed wurden "Hunderte Male dem Waterboarding ausgesetzt. Anderen wurde über elf Tage hinweg der Schlaf entzogen". Siehe Daniel Klaidman, Kill or Capture: The War on Terror and the Soul of the Obama Presidency, New York 2012, S. 73f. Von Bush hat sich Obama auch dadurch abgesetzt, dass er die black sites, die exterritorialen amerikanischen Geheimgefängnisse, geschlossen hat, in denen mutmaßliche Terroristen fragwürdigen Verhörmethoden ausgesetzt waren. Zudem hat er die Einhaltung der einschlägigen Genfer Konventionen über die humane Behandlung von Gefangenen bekräftigt. Er ist davon abgerückt, verfassungsrechtlich kontroverse Ansprüche auf umfassende "innere präsidiale Machtbefugnisse" (inherent executive power) geltend zu machen. Stattdessen stützt sich sein Regierungshandeln auf gesetzliche Regelungen (beispielsweise auf die am 18. September 2001 vom Kongress erlassene Genehmigung, "alle notwendige und angemessene Gewalt" gegen jene einzusetzen, die den Angriffen vom 11. September Vorschub geleistet haben). Im Zuge einer beachtlichen Veränderung der rhetorischen (und mitunter auch rechtlichen) Rahmung, die die Antiterrorpolitik jetzt einfasst, ist die bellizistische Formulierung vom "Krieg gegen den Terror" aus nahezu allen Regierungserklärungen verschwunden. Auch wird die verlogene Kategorie des "feindlichen Kombattanten", mit der die Bush-Administration operierte, nicht mehr verwandt. Und selbst wenn die Obama-Administration Maßnahmen ergreift, die an Praktiken ihrer Vorgängerin erinnern, bemüht sie sich, deren zumindest behauptete Vereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Prinzipien (wie beispielsweise dem Recht auf ein faires Verfahren) herauszustellen.
Dennoch hat Obama, wie seine rechten und linken Kritiker zutreffend bemerkt haben, "an nahezu allen Antiterrorismus-Maßnahmen seines Vorgängers festgehalten".Jack Goldsmith, Power and Constraint: The Accountable President after 9/11, New York 2011, S. X. So hat er die Proklamation des "nationalen Notstands" alljährlich erneuert, den Bush am 14. September 2001 verhängt hatte, und zahlreiche, allenfalls geringfügig veränderte sicherheitsrechtliche Doktrinen der Bush-Ära übernommen. Selbst wenn ihre öffentliche Rhetorik anderes nahezulegen scheint, beharrt die Regierung Obama weiterhin darauf, dass sich die USA in einem Krieg mit al-Qaida befinde. Sie beansprucht umfassende Machtbefugnisse im Kampf gegen den Terrorismus, die sie aus den ebenso weitreichenden wie sperrigen rechtlichen Vollmachten ableitet, welche die Legislative unter dem unmittelbaren Eindruck der Anschläge vom 11. September gewährt hatte. Wie sein konservativer Vorgänger gründet Obama die Rechtmäßigkeit einiger seiner politischen Initiativen auf den umstrittenen "Patriot Act",Für eine kluge und -- immer noch zeitgemäße -- frühe Kritik siehe Ronald Dworkin, "The Threat to Patriotism", in: New York Review of Books, 28. Februar 2002, S. 44. das "Gesetz zur Stärkung und Einigung Amerikas durch Bereitstellung geeigneter Instrumente, um den Terrorismus aufzuhalten und zu blockieren", dessen Verlängerung er befürwortete. Auch hat die Obama-Administration keinerlei Anstalten gemacht zu erklären, wann -- wenn überhaupt -- der bestehende "Ausnahmezustand" ein Ende finden wird. Dass die Administration viele, wenn nicht die meisten, von Bushs ausgedehnten Informationsbeschaffungs- und Überwachungsmaßnahmen übernommen hat, kann daher kaum überraschen.Goldsmith, Power and Constraint, S. 17.
Trotz seines ursprünglichen Versprechens, Guantanamo Bay zu schließen, ist das Gefangenenlager nach wie vor in Betrieb, wenngleich -- mit nur etwa 165 Gefangenen -- in bescheidenerem Umfang als unter Bush. Obwohl die Schuld für dieses Versagen nicht allein Obama anzulasten ist, hat er Bushs Politik insoweit fortgesetzt, als auch er die unbefristete Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen befürwortet, von denen viele in völliger Ungewissheit über ihre Zukunft in Guantanamo verbleiben werden. Desgleichen hat Obamas Regierung die umstrittenen speziellen "Notstands-Militärkommissionen" (Militärgerichte), die die Bush-Administration eingesetzt hatte, zwar reformiert, aber nicht abgeschafft.Ebd., S. 9. Selbst wenn sich die Verfahren vor diesen Militärgerichten jetzt -- aufgrund prozeduraler Verbesserungen zum Vorteil der Gefangenen -- von den "kurzen Prozessen" unterscheiden, an deren Durchführung Verteidigungsminister Rumsfeld zunächst gelegen war, bleibt das Gesamtbild dieser Rechtsprechung ausgesprochen ernüchternd: Weiterhin wehrt die Administration Klagen gegen ihre problematischen Versuche ab, die Kommandeure von Militärstützpunkten mit unbeschränkter Entscheidungsvollmacht auszustatten, was Besuchsregelungen für Rechtsbeistände der Gefangenen anlangt -- Vollmachten, zu denen weitgefasste Ermessensspielräume gehören, die das Recht von Verteidigern betreffen, womöglich geheime Informationen zu verwenden, die aus Gesprächen stammen, die sie mit den von ihnen anwaltlich vertretenen Gefängnisinsassen führen.Siehe Jane Suttons Reuters-Bericht: U.S. Judge Blocks New Restrictions on Guantanamo Lawyers (6. September 2012) (http://www.reuters.com/article/2012/09/06/us-usa-guantanamo-idUSBRE8851E720120906).
Dass die Obama-Administration die Praxis der "außerordentlichen Auslieferungen" fortführt und Terrorverdächtige in andere Länder verbringt, erinnert ebenfalls an das Vorgehen ihrer Vorgängerin. Obwohl vieles für eine humanere Umsetzung der Auslieferungen spricht, hat sich fast nichts an dem rechtlichen Verfahren geändert, das sondiert, wohin mutmaßliche Terroristen geschickt werden können: Erst wenn die Wahrscheinlichkeit, dass die Gefangenen im Zielland gefoltert werden, 50 Prozent übersteigt, ist es den Beamten untersagt, sie dorthin auszuliefern.Goldsmith, Power and Constraint, S. 15. Zwar hat die Regierung unter Obama den rechtlichen Status und Schutz der Gefangenen verbessert, doch hält sie daran fest, dass die Habeas-Corpus-Rechte, also der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, nicht für Personen gelten, die im Ausland (also beispielsweise in Afghanistan) festgenommen werden. Ebenso scheint sich Obamas Administration die kompromisslose Haltung der Bush-Regierung in Sachen staatlicher Geheimhaltung zu eigen gemacht zu haben. Auf sie beruft sie sich mit gleicher Härte, wann immer Klagen abzuwehren sind, die ihre Geheimhaltungspolitik in Frage stellen.Ebd. S. 13-18. Siehe auch Dana Priest und William M. Arkin, Top Secret America. The Rise of The American Security State, New York 2011, S. XXIII-XXIV. Ganz wie Bush besteht Obama auf seinem Recht, das zu betreiben, was Anwälte und Juristen "forum shopping" nennen, also darauf, die für die eigenen Absichten günstigsten Gerichtsstände auszuwählen. Nur wenn es rechtlich und politisch genehm ist, werden im Ausland geborene mutmaßliche Terroristen eine Verhandlung vor einem ordentlichen Gericht erleben. Zudem ist "jede verbliebene Hoffnung darauf, dass Folterungen und Misshandlungen", die unter der Bush-Administration begangen worden sind, "rechtlich belangt werden", wie ein Leitartikler der New York Times am 5. September 2012 völlig zutreffend kommentierte, "praktisch erloschen"."No Penalty for Torture", New York Times, 15. September 2012, S. A22. Nicht einmal jenen CIA-Vernehmern, die in Überschreitung der fragwürdigen, von Präsident Bush gebilligten Verhörmethoden Gefangene tatsächlich zu Tode gefoltert haben, droht die Strafverfolgung.
Nicht zuletzt hat die Obama-Administration auf einem Gebiet alles überboten, was Präsident Bush unternommen hatte: Barack Obama hat die "gezielten Tötungen" verdächtiger Terroristen entschieden intensiviert. Er hat sogar das Recht für sich reklamiert und anschließend in die Tat umgesetzt, einen amerikanischen Staatsbürger töten zu lassen, nämlich Anwar al-Awlaki. Der gerichtlichen Anfechtung seines Vorgehens begegnete er mit einem Rückgriff auf Rechtsauffassungen aus der Bush-Ära.Goldsmith, Power and Constraint, S. 18f. Der Newsweek-Journalist Daniel Klaidman liefert in seinem treffend betitelten Buch Kill or Capture. The War on Terror and the Soul of the Obama Presidency einen aufschlussreichen Bericht über die regierungsinternen Auseinandersetzungen um die Antiterrorpolitik. Er zeigt, dass die gezielten Tötungen, zumeist durch den Einsatz von Drohnen, aufgrund ineinandergreifender politischer und rechtlicher Handlungsimperative rasch zu einem bevorzugten Werkzeug der Politik wurden. Sie gestatten der Administration, die Anzahl militärischer Opfer auf amerikanischer Seite gering zu halten, während sie in aller Regel auf starke öffentliche Unterstützung stoßen. Sie erlauben Obama mithin, sein Image als hart durchgreifender Staatsmann zu festigen. Außerdem hat das Instrument gezielter Tötungen den Vorteil, dass gefährliche Terroristen nicht mehr festgenommen und gefangen gehalten werden müssen -- eine Praxis, die sich zu einem juristischen und politischen Abenteuer entwickelte, nachdem der Kongress untersagt hatte, ausländische Terroristen vor ordentliche Gerichte zu stellen, und sich die Regierung dazu verpflichtet hat, Guantanamo und andere exterritoriale Gefangenenlager zu verkleinern. Die Veränderungen sind jedenfalls dramatisch: Zwischen 2004 und 2007 hat die Bush-Administration neun Drohnenangriffe in Pakistan autorisiert, während Obama 111 Angriffe allein im Jahr 2010 genehmigte.Klaidman, Kill or Capture, S. 117. Trotz breiter Ablehnung durch das Ausland hält die Administration an der gezielten Tötung als Mittel ihrer Wahl fest, wobei sie sich rechtlich durch den Kriegszustand legitimiert sieht, in dem sie sich mit al-Qaida und ihren Verbündeten befindet. Freilich bleiben diese Attacken aus einem sehr einfachen Grund umstritten: Präsident Obama traut sich zu, sowohl in der Rolle des Richters, der Geschworenen und des Henkers zu agieren -- und dies sogar in Fällen, die amerikanische Staatsbürger betreffen.
Kritiker mögen übertreiben, wenn sie Obamas Krieg gegen den Terror als "Bush-Lite" bezeichnen. Doch ist Obama den Spuren seines Vorgängers zumeist gefolgt und er hat zumindest auf einem Schauplatz, nämlich bei den gezielten Tötungen, den Einsatz eines aus der Bush Ära stammenden, ausgesprochen fragwürdigen Instruments dramatisch intensiviert.
II. Das Rätsel Barack Obama
Die genannten Kontinuitäten stellen uns vor ein heikles Rätsel. In seinem Wahlkampf zog Obama 2008 energisch gegen das Antiterrorprogramm der Bush-Regierung zu Felde. Natürlich bleiben Wahlversprechen angehender Präsidenten oft unerfüllt, nachdem diese ihr Amt angetreten haben. Doch ist Obamas Eintreten für eine gründliche Überprüfung der US-amerikanischen Antiterrorpolitik mehr als bloß opportunistische Rhetorik gewesen. Als langjähriger und beredter Verteidiger des Rechtsstaates und der bürgerlichen Grundrechte, als Herausgeber der Harvard Law Review, als Protégé prominenter liberaler Juristen und als vormaliger Rechtsprofessor an der Universität Chicago schien Obama einem grundlegenden Wandel ernsthaft verpflichtet zu sein. Eingedenk seiner früheren Haltung als Abgeordneter und Senator und angesichts der Tatsache, dass Sorgen um eine globale Wirtschaftskrise die weit verbreitete Furcht vor terroristischen Angriffen abgelöst hatten, erwarteten viele Beobachter maßgebliche Veränderungen in der Terrorbekämpfung. Sie blieben jedoch aus.
Noch vertrackter wird das Rätsel durch die eindrücklichen Belege für Obamas tief verwurzelten Glauben an das Recht: Klaidsmans Buch Kill or Capture beschreibt zahlreiche Situationen aus den letzten vier Jahren, in denen sich der Präsident mit den "idealistischen" Verfechtern der Rechtsstaatlichkeit in seiner Regierung, zumal mit dem Generalstaatsanwalt Eric Holder, verbündete und Realpolitikern wie etwa Rahm Emmanuel die Stirn bot. Zumindest gelegentlich, also beispielsweise bei der Freigabe geheimer Dokumente über amerikanische Verhörmethoden, ging er dabei erhebliche politische Risiken ein.
Wie also ist Obamas Versagen, was die von ihm in Aussicht gestellte Revision der Terrorismusbekämpfung anlangt, zu erklären? Es gibt in der gegenwärtigen Debatte vier Erklärungsvorschläge, die miteinander konkurrieren. Obwohl jeder Vorschlag wichtige Belege zu seinen Gunsten vorweisen kann, gelingt es letztlich keinem, die entscheidenden Facetten der Geschichte sinnvoll zusammenzuführen.
Der ersten, vermeintlich nächstliegenden Antwort schließen sich sowohl die von Obama enttäuschten liberalen Unterstützer an als auch Journalisten wie Klaidman. Sie hebt ganz auf Obamas politische Unerfahrenheit ab: Seine Regierung habe versagt, weil ihr ein unentschiedener Präsident vorstehe, der schlechterdings unfähig sei, Spitzenbeamte und Berater zu führen, die sich völlig über der Frage zerstritten, wie und wann die Antiterrorpolitik der Bush-Ära zu kippen sei. Obama sei es weder gegenüber seinem eigenen Kabinett noch gegenüber der Öffentlichkeit gelungen, die politische Tagesordnung zu bestimmen. Er habe, wie der Jurist David Cole herausgestellt hat, sehr schnell auch nur den Versuch aufgegeben, die besondere Macht seines Amtes auszuspielen. Zu oft habe Obama demagogischen Kritikern überlassen, den Gegenstand der Debatte zu definieren.David Cole, "Obama and Terror: The Hovering Questions", in: New York Review of Books, 12. Juli 2012. Bezeichnenderweise hielt es Obamas Wahlkampfteam nicht einmal für nötig, auf Clint Eastwoods hinterlistigen Vorwurf zu reagieren, Obama sei es nicht gelungen, Guantanamo zu schließen: Anders als bei seiner ersten Kandidatur 2008 wurde im Wahlkampf 2012 jede Diskussion der unschönen juristischen Schattenseiten des Kriegs gegen den Terror vermieden.
So ist es auch wenig überraschend, dass Obama den "alten Hasen" im nationalen Sicherheitsstaat regelmäßig den Vortritt ließ: Sein Protagonist in Sachen Antiterrorismus, John Brennan, war über fünfundzwanzig Jahre im Nachrichtendienst tätig und fungierte zu der Zeit, in der die Bush-Administration ihre umstrittenen Verhörmethoden einführte, als Stabschef des damaligen CIA-Direktors George Tenet.Goldsmith, Power and Constraint, S. 28f. Wenn es hart auf hart kam, folgte Obama dem Rat derjenigen, die tief in den nationalen Sicherheitsapparat verstrickt waren. Die abweichenden Stimmen aus dem Lager der Menschenrechtsaktivisten wurden überhört.
Auch wenn dieser ersten Erklärung einiges Gewicht zukommt, leidet sie an einer eklatanten Schwäche: Als Obama 2009 versuchte, einen alternativen politischen Kurs vorzugeben und in einer ganzen Serie öffentlicher Verlautbarungen die Notwendigkeit betonte, die Antiterrorpolitik gründlich zu überprüfen, entzündeten seine Anstrengungen politisch verheerende Feuer sowohl im Kongress wie in der Zivilgesellschaft. Seine Bemühungen, Guantanamo zu schließen und Al-Qaida-Führer wie Chalid Scheich Mohammed vor ein Bundesgericht zu stellen, wurden durch den Kongress scharf zurückgewiesen. Unverzüglich und mit überwältigender Mehrheit wurde beschlossen, Obama die Überstellung von Häftlingen in Gefängnisse auf amerikanischem Boden zu untersagen.Die erschreckenden Details finden sich in: Klaidman, Kill or Capture, S. 65-172. Daraufhin veröffentlichte der Generalstaatsanwalt Holder mit Obamas Genehmigung geheim gehaltene Dokumente über unter Bush praktizierte Folterungen. Offenbar setzte man auf einen öffentlichen Aufschrei, der zu Ermittlungen des Kongresses und möglicherweise sogar zu strafrechtlicher Verfolgung amerikanischer Beamter hätte führen können. Tatsächlich bekam Holder seinen Aufschrei, allerdings in einer ganz anderen als der erwarteten Tonlage: Angestachelt durch Rupert Murdochs Fox News, erteilte die konservative Rechte dem Generalstaatsanwalt eine erste -- weitere sollten folgen -- öffentliche Abreibung. Obama wie Holder suchten hastig nach politischer Deckung, zumal selbst prominente Mitglieder der Partei des Präsidenten die beiden gnadenlos im Regen hatten stehen lassen.Klaidman, Kill or Capture, S. 73f.
So ist es vermutlich reines Wunschdenken, wenn unterstellt wird, Obama hätte politische Initiativen aus der Bush-Ära umkehren können, wäre er nur ein erfahrenerer Politiker gewesen. Auch wenn außer Frage steht, dass strategische Fehler begangen wurden, unterschätzt dieser Erklärungsversuch die Schlüsselrolle, die tief verankerte Vorbehalte gegenüber einem echten Wandel der amerikanischen Politik zur Terrorbekämpfung sowohl im Kongress wie in der Zivilgesellschaft gespielt haben.
Ein zweiter Erklärungsvorschlag vertritt eine Perspektive, die sich als "institutioneller Realismus" beschreiben ließe. Ihm zufolge unterscheidet sich die Regierungsarbeit eben grundsätzlich von Wahlkampfaktivitäten. Jetzt, wo Obama im Oval Office sitzt und täglich genötigt ist, Berichte über terroristische Verschwörungen gegen amerikanische Staatsbürger zu lesen, stellt sich ihm die Welt notwendigerweise anders dar als in seiner Zeit im Senat oder während der Wahlkampftour in Iowa oder Oregon. Die "bittere Realität präsidialer Verantwortung" habe Obama verändert.Goldsmith, Power and Constraint, S. 26. Tatsächlich musste er ein ganzes Set von institutionellen Arrangements und Praktiken, von formellen wie informellen Normen, übernehmen. Aus Gründen, die jedem, der mit den Funktionsweisen komplexer Bürokratien vertraut ist, geläufig sind, erweisen sich solche Mechanismen als ziemlich resistent gegen einschneidende Veränderungen. Guantanamo Bay war allenfalls die am übelsten riechende Unannehmlichkeit, die man vor der Eingangstür seines neuen Zuhauses in Washington, D.C. hinterlassen hatte. Rasch wurde deutlich, dass die Choreografie einer Schließung von Guantanamo Bay komplizierter ausfallen würde, als Obama sich vermutlich vorgestellt hatte. Die etwa vierundvierzig als besonders gefährlich eingestuften Gefangenen, deren Grundrechte im Zuge der sogenannten "verschärften Verhöre" verletzt worden waren, stellten Obama vor die wenig beneidenswerte Aufgabe, Guantanamo Bay zu schließen, ohne diejenigen Insassen freizulassen, von denen eine echte Bedrohung für die Sicherheit ausging. Sie konnten allerdings auch nicht mehr mit Aussicht auf ein erfolgreiches Strafverfahren vor ordentliche Gerichte gestellt werden, da das Beweismaterial unrechtmäßig erlangt worden war und in einem Prozess vermutlich unzulässig wäre. Obama stand mithin vor einer tragischen Alternative: Er hätte Al-Qaida-Sympathisanten, wenn nicht gar Anführer des Terrornetzwerks, freilassen und damit die Rechtsstaatlichkeit wahren können, allerdings nur um den Preis eines möglichen Sicherheitsdesasters und einer massiven politischen Gegenreaktion auf seine Entscheidung. Auch die mangelnde Unterstützung anderer Länder -- erinnert sei etwa an Angela Merkels beschämendes Katzbuckeln vor China, das in ihrer Weigerung gipfelte, harmlosen Uiguren, die man in Guantanamo zu Unrecht gefangen gehalten hatte, Asyl zu gewähren -- hat die Lage nicht eben entschärft. Obwohl europäische Staats- und Regierungschefs nur allzu bereit gewesen waren, Guantanamo zu kritisieren, soweit das ihren politischen Bedürfnissen entgegenkam, zogen sie es am Ende vor, Obama das Problem alleine lösen zu lassen.
Auch wenn diese Erklärung zur Auflösung des Rätsels beiträgt, verfehlt sie etwas Entscheidendes. Ihr gelingt es nicht, den doch überraschenden, lagerübergreifenden Kontinuitäten zwischen Obama und Bush Rechnung zu tragen. Während leicht zu verstehen ist, warum sich die Schließung Guantanamos als derart mühsam erwies, ist es schon schwerer nachzuvollziehen, warum institutionelle Handlungszwänge Obama dazu gebracht haben sollen, die Überwachungspolitik seines Vorgängers fortzusetzen, oder warum sie die Strafverfolgung amerikanischer Beamter ausschlossen, die sich ungeheuerlicher Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hatten. Auch Obamas offensichtliche Begeisterung für die gezielten Tötungen durch Drohnen kann diese Deutung nicht erklären. Jeden neuen Bewohner des Weißen Hauses erwartet ein unvermeidliches Moment an bürokratischer Kontinuität. Aber warum gab es derart robuste Kontinuitäten gerade dort, wo wir weitreichende Reformen erwarten durften?
Für die letzte Frage hält eine dritte Erklärung eine schlichte Antwort bereit: Parteipolitik. Jeder, dem die zunehmende Polarisierung im Feld der US-amerikanischen Politik vor Augen steht, wird sofort zugeben, dass die Republikaner wild entschlossen waren, Obama als Schwächling im Krieg gegen den Terror zu diskreditieren. Dass die Meinungsumfragen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2012 nahelegten, er genieße in Sicherheitsfragen bei den Wählern inzwischen höheres Vertrauen als die Republikaner, hat Obamas politische Rivalen nicht bloß frustriert, sondern in der Tat schockiert. Augenscheinlich glauben die Republikaner, sie besäßen ein natürliches Monopol auf die Ausbeutung von Terrorängsten. Also besteht einer der Gründe für Obamas Bereitschaft, dem Drehbuch von Bush im Wesentlichen zu folgen, darin, dass seine Berater und er selbst sich gezwungen sahen, einer hässlichen und vermutlich beispiellosen parteipolitischen Kampagne zuvorzukommen. Der befürchtete Gegenschlag ist wohl nur vor dem Hintergrund verständlich, dass der Wahlsieg Barack Obamas ein weiterer Nagel im Sarg der Ideologie weißer rassischer Überlegenheit in einem Land war, wo die politischen Rechte von Schwarzen erst mit dem Wahlgesetz von 1965 fest verankert wurden.
Diese dritte Antwort bagatellisiert die beunruhigende Tatsache, dass Obamas anfängliche Versuche, die Antiterrorgesetzgebung und -politik zu revidieren, auf nahezu vollständige Ablehnung stießen. Die Gesetze, die ihm eine Schließung von Guantanamo definitiv verunmöglichten, weil sie die Überstellung von Gefangenen auf amerikanischen Boden untersagten, wurden im Jahre 2009 zu einem Zeitpunkt erlassen, als Obamas eigene Partei in beiden Häusern des Kongresses über komfortable Mehrheiten verfügte. Die Abstimmung im Senat fiel mit 90 zu 6 Stimmen gegen Obama aus, nur sechs Demokraten hatten seinen Vorstoß unterstützt. Auch die Entscheidung des Repräsentantenhauses zugunsten des propagandistisch betitelten "Keep the Terrorists Out of America"-Erlasses erfreute sich breiter, beide Parteien übergreifender Unterstützung. Insofern kann Obamas Entscheidung, schließlich doch einen drakonischen Weg einzuschlagen, nicht allein und schon gar nicht in der Hauptsache auf parteipolitische Gegnerschaft zurückgeführt werden. Zu vieles spricht dafür, dass eine harsche Antiterrorpolitik gegenwärtig nicht nur auf die parteiübergreifende Unterstützung der politischen Eliten stößt, sondern wahrscheinlich auch mit dem Einverständnis der US-amerikanischen Bevölkerung insgesamt rechnen kann.
Das führt uns zur vierten -- und bisher ausgeklügelsten -- Antwort auf die Frage, warum Obama in die Fußstapfen Bushs getreten ist. Formuliert hat sie Jack Goldsmith, ein konservativer Jurist der Harvard University. Er war für die Bush-Administration tätig, hat sich allerdings -- was für ihn spricht -- aus der Regierungsarbeit verabschiedet, als er von deren Auswüchsen im Bush-Kabinett genug hatte.Ebd. Ohne denen zu nahetreten zu wollen, die Obamas Anleihen bei Bush empört haben, hält Goldsmith dessen Vorgehen im Grunde für lobenswert. Für Leute, die sich über die unbefristeten Inhaftierungen, über Abu Ghraib und Guantanamo erregt haben, hält Goldsmith beruhigende Worte bereit. Trotz einiger Schönheitsfehler habe sich das politische Gemeinwesen der Vereinigten Staaten -- gesegnet mit einer starken Zivilgesellschaft und verlässlich eingespielten "checks and balances" -- nach dem 11. September gut geschlagen: Immerhin habe sich Präsident Bush gezwungen gesehen, seine dubiose Folterpolitik zu überdenken. Und dank der Widerständigkeit des Verfassungssystems und der Kraft zur Selbstkorrektur hätten wirkungsvolle Gegenreaktionen die Amtsträger nicht nur ermutigt, fragwürdige Politiken aufzugeben. Zugleich seien wichtige Lernprozesse in Gang gekommen, wie mit dem Ausnahmezustand politisch umzugehen sei, in dem sich die Vereinigten Staaten Goldsmith zufolge auf absehbare Zukunft befinden.
Obwohl Obamas gegenwärtige Politik keineswegs makellos sei, habe er an die überzeugenden Leistungen der Bush-Administration angeknüpft und behutsam versucht, deren Hinterlassenschaft wieder stärker mit rechtsstaatlichen Prinzipien in Einklang zu bringen. Dass ihn dazu derselbe öffentliche Druck angetrieben habe, der schon Präsident Bush gezwungen hatte, Zugeständnisse zu machen, hält Goldsmith für besonders begrüssenswert: "Auch Obama spürte den Stachel der checks and balances."Ebd., S. XIII. Also gibt es gute Nachrichten: Das System der "checks and balances" habe sich bewährt, und zwar auf eine Weise, die James Madison und andere Verfassungsarchitekten des 18. Jahrhunderts begrüsst hätten, selbst wenn das Zusammenspiel dieser Kontrollen die Gründungsväter vermutlich irritiert haben würde. Deshalb sollte, wie Goldsmith meint, die traditionelle Konzentration auf die Auseinandersetzungen zwischen Präsident, Kongress und Oberstem Gerichtshof um eine Analyse der "überraschend hinzugetretenen, untergeordneten Kräfte" ergänzt werden, "die innerhalb wie außerhalb der Regierung ausschlaggebend für das Vorgehen des Präsidenten waren".Ebd., S. XIV-XV. Jedenfalls sei Kritikern, die meinen, die gegenwärtige Präsidentschaft stehe de facto nicht mehr unter institutioneller und verfassungsrechtlicher Kontrolle, entgegenzuhalten, dass der Präsident auch weiterhin unter institutionellen Zwängen und breiteren politischen Vorgaben operiere.Siehe beispielsweise Bruce Ackerman, The Decline and Fall of the American Republic, Cambridge, Mass. 2010; Peter M. Shane, Madison's Nightmare: How Executive Power Threatens American Democracy, Chicago 2009.
Trotz unbestreitbarer Vorzüge leidet diese Erklärung an deutlichen Schwächen. Dem weiten Spektrum der Meinungen, die an der amerikanischen Antiterrorpolitik Anstoß nehmen, erweist sie offenkundig einen schlechten Dienst. Obwohl Goldsmith Bürgerrechtler und andere Kritiker dafür lobt, den Exzessen der Exekutive widersprochen zu haben, weigert er sich letztlich, auch nur zu erwägen, dass ihre Bedenken noch immer legitim sein könnten. Was er als den sich formierenden Konsens in der Antiterrorpolitik beschreibt, erstreckt sich von einem Rand der gemäßigten (politischen) Rechten bis zum anderen Rand der gemäßigten Rechten: Wo der Rest von uns reinpasst, bleibt unklar. Zudem verschleiert seine Darstellung beunruhigende Realitäten. So spricht Goldsmith von einer blühenden Kultur investigativen Journalismus, der seit dem 11. September in "Hunderten erstaunlicher journalistischer Erfolgsgeschichten wohlgehütete Regierungsgeheimnisse enthüllt" habe.Goldsmith, Power and Constraint, S. 56. Doch passen einige der angeblichen Erfolgsgeschichten nicht so recht in ein derart optimistisches Bild. Tatsächlich berichteten ausländische Journalisten, wie Goldsmith selbst vermerkt, bereits im Oktober 2001 über geheime US-Gefängnisse und umstrittene Verhörmethoden. Allerdings fanden diese Erkenntnisse erst im Jahre 2004 ihren Weg in die amerikanischen Medien. Erst im September 2006 räumte die Bush-Administration die Existenz von Geheimgefängnissen ein und machte sich daran, sie aufzulösen. Wenn das eine Erfolgsgeschichte ist, so handelt sie allerdings davon, wie es Präsident Bush gelang, die verschärften Verhörmethoden weitgehend unbehelligt von öffentlicher Aufmerksamkeit über Jahre hinweg durchzusetzen und an den Neuregelungen insgesamt fast fünf Jahre lang festzuhalten.Ebd., S. 66f.
Überzeugend darzustellen, wie sich der diffuse politische Druck aus der Zivilgesellschaft auf die hergebrachten Institutionen, also den Kongress und den Obersten Gerichtshof, ausgewirkt hat, fällt Goldsmith sichtlich schwer. Und wenn er den mäßigenden Einfluss institutioneller Kontrollen auf das Handeln der Exekutive analysiert, überbewertet er deren Erfolge. Während der Präsidentschaft von Bush ist der Kongress über lange Zeiträume hinweg bestenfalls ein Juniorpartner im Krieg gegen den Terror gewesen, der sich in dem Bemühen überschlug, der Exekutive möglichst große Handlungsspielräume zu gewähren. Zwar ist es richtig, dass Obama ein kalter Gegenwind aus dem Kongress entgegenschlug. Doch richteten sich die Anstrengungen des Kongresses vor allem gegen Obamas vorsichtige Versuche, die amerikanische Politik deutlicher an humanitären Prinzipien auszurichten, etwa durch die Schließung von Guantanamo oder die Überstellung mutmaßlicher Terroristen an ordentliche Gerichte. Zumal seit die Republikaner im Jahre 2010 die Mehrheit im Repräsentantenhaus übernahmen, betrieb der Kongress eine Straf- und Repressionspolitik, die diejenige Obamas an Härte entschieden überbot. So gestattet das 2011 verabschiedete Gesetz zur Finanzierung der Streitkräfte nicht nur unbefristete militärische Inhaftierungen. Erstmals in der amerikanischen Geschichte untersagt es dem Präsidenten auch, mutmaßliche Terroristen vor ein ordentliches Gericht zu stellen. Die Behauptung, ein funktionierendes System von "checks and balances" habe den Auswüchsen der Exekutive im Krieg gegen den Terror einen Riegel vorgeschoben, ergäbe folglich nur dann irgendeinen Sinn, wenn man Obamas verhaltene und tastende Schritte zur Begrenzung exekutiver Macht absurderweise gleichsetzte mit Bushs vollmundiger Befürwortung der Folter und anderer überzogener Maßnahmen. Der Kongress hat Obama also durchaus "kontrolliert", freilich nicht in einer Form, die Madison behagt hätte: Abgewehrt hat er nämlich Obamas vorsichtige Anläufe, der imperialen Präsidentschaft zumindest gewisse Fesseln anzulegen.Siehe Andrew Rudalevige, The New Imperial Presidency: Renewing Presidential Power after Watergate, Ann Arbor 2005.
Auch die einschlägigen Urteile des Obersten Gerichtshofs (Rasul vs. Bush, Hamdi vs. Rumsfeld, Hamdan vs. Rumsfeld und Boumediene vs. Bush) interpretiert Goldsmith auf seine Weise. Nach dieser Lesart haben die Gerichtsurteile den Aktionsradius des Präsidenten, seiner engsten Berater in Fragen der nationalen Sicherheit und der Soldaten im Einsatz empfindlich eingeschränkt.Goldsmith, Power and Constraint, S. 194. Zwar unterschlägt Goldsmith die ganz andersgeartete Einschätzung vieler Menschenrechtsaktivisten und Anwälte nicht, doch nimmt er deren Urteil, ihr Einsatz habe allenfalls minimale und mitunter oberflächliche Veränderungen eines zutiefst inhumanen Strafvollzugssystems bewirkt, nicht ernst. Wie hatte Michael Ratner vom Center for Constitutional Rights gesagt? "In Sachen Vorbeugehaft haben wir mehr oder minder verloren. In Sachen Militärgerichtsbarkeit haben wir mehr oder minder verloren."Zitiert in ebd., S. 195.
Und was wäre wohl aus den von Goldsmith so gepriesenen institutionellen Lernprozessen geworden, hätte Mitt Romney im vergangenen November die Präsidentschaftswahl gewonnen? Der Kandidat hatte ja im Verlauf der republikanischen Vorwahlen das Waterboarding nicht nur eisern als eine akzeptable Verhörmethode befürwortet, sondern er plante offenbar auch, Obamas Folterverbot gleich mit einer seiner ersten Amtshandlungen als gewählter Präsident wieder aufzuheben.Charles Savage, "Election will decide future of interrogation methods for terrorism suspects," in: New York Times, 28. September 2012, S. A13 und A19.
III. Amerikanisches Königtum?
Keine der vier Erklärungen kann zwei auf den ersten Blick völlig widersprüchliche Merkmale miteinander in Einklang bringen, die Obamas Krieg gegen den Terror kennzeichnen. Einerseits existieren unübersehbare Kontinuitäten zwischen Obama und Bush, in denen Obama an bedeutsamen Vorrechten der Exekutive festhält, die er von Bush übernommen hat, beispielsweise die unbefristete Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen. Andererseits haben sich Kongress und Zivilgesellschaft allen Versuchen Obamas, einen Teil dieser präsidialen Befugnisse aufzugeben, geradezu vehement entgegengestellt. So wurde der Vorstoß verhindert, Gefangenen ein ordentliches Gerichtsverfahren zu ermöglichen. Und im Widerstand gegen Obama haben sie durchgreifende exekutive Befugnisse auch dort gefordert, wo ihr Besitz den Präsidenten selbst sichtlich beunruhigte. Wenn sich der Kongress in jüngster Zeit mit Nachdruck gegen die Exekutive gestellt hat, so stets in der Absicht, die zaghaften Anläufe zu torpedieren, durch die Obama die imperiale Präsidentschaft einschränken wollte -- mitsamt all der neuen Machtbefugnisse, die ihr im letzten Jahrzehnt zugewachsen waren.
Diese scheinbar widersprüchliche Gemengelage lässt sich durch den Hinweis auf den präsidialen Charakter der amerikanischen Demokratie entwirren. Sie hält für diejenigen, die über die exekutive Gewalt verfügen, nämlich wirkungsvolle institutionelle Anreize bereit, die besonderen Befugnisse des Präsidenten gegenüber Kongress und Gerichten aus zuweiten. Einen Grundzug von Präsidialsystemen hat der politische Soziologe Juan Linz zutreffend als doppelte demokratische Legitimation definiert: Exekutive wie Legislative verfügen über je eigene Legitimationsquellen, da jeder Zweig des Regierungssystems gesondert gewählt wird.Juan Linz, "Presidential or Parliamentary Democracy: Does it Make a Difference?", in: Juan J. Linz/Arturo Valenzuela (Hrsg.), The Failure of Presidential Democracy, Bd. 1: Comparative Perspectives, Baltimore 1994, S. 6. Natürlich wird das politische Leben überall durch institutionelle Rivalitäten geprägt und belebt. Allerdings sind derartige Rivalitäten in Präsidialsystemen mit ihrer besonders strikten Gewaltenteilung geradezu allgegenwärtig, denn die präsidiale Exekutive und die Legislative können jederzeit gut begründete Ansprüche auf demokratische Legitimität geltend machen. Dementsprechend porträtieren die Verfechter einer machtvollen Präsidentschaft deren jeweiligen Inhaber in aller Regel als die überzeugendste Verkörperung des "vereinheitlichten" Volkswillens, während die Fürsprecher der Macht des US-amerikanischen Kongresses betonen, der Senat und das Repräsentantenhaus würden die Interessen- und Stimmenvielfalt der amerikanischen Gesamtgesellschaft am besten repräsentieren. Selbstverständlich erhöht sich die Wahrscheinlichkeit institutioneller Auseinandersetzungen, wenn Exekutive und Legislative von Vertretern jeweils unterschiedlicher Parteien ausgeübt werden, doch stellen sich Konflikte zwischen beiden Institutionen normalerweise auch unter andersgearteten Bedingungen parteipolitischer Arithmetik ein.
Unter den Bedingungen doppelter demokratischer Legitimation sorgen institutionell bedingte Anreize, wie gesagt, dafür, dass die Inhaber der exekutiven Gewalt an den Machtbefugnissen festhalten, die ihnen durch den Prozess der politischen Willensbildung zugefallen sind. Da ihr politisches Schicksal nicht an das der Legislative gekoppelt ist, müssen sie ihrerseits unter Beweis stellen, dass sie das Vertrauen verdienen, das die Wählerschaft in sie gesetzt hat. Anders als bei Premierministern in parlamentarischen Systemen sind ihre Amtszeiten freilich genau datiert. Deshalb ist der politische Alltag in einem Präsidialregime, wie aufmerksame Beobachter festgestellt haben, einem eigentümlichen Zeitdruck ausgesetzt. Ein Präsident hat nur wenig Zeit, um sein politisches Programm umzusetzen. Zudem führt die resolute Teilung der Gewalten in einem Präsidialregime dazu, dass sich die Exekutive darauf einstellen muss, ziemlich schnell auf den Widerstand feindselig gestimmter politischer Gegner zu stoßen, die den Rückhalt der Legislative haben. So treibt in den Vereinigten Staaten Präsidenten, die gerade erst mit großer Mehrheit gewählt wurden, schon die Sorge um den möglichen Ausgang der midterm-Wahlen zum Kongress um. Selbstverständlich wollen auch Premierminister Dinge in Bewegung setzen, doch sind sie weit weniger als Präsidenten dazu genötigt, in Höchstgeschwindigkeit aktiv zu werden.
Es sind diese im Grunde bekannten Fakten über die Besonderheiten von Präsidialregime, die uns gestatten, Obamas deprimierende Bilanz richtig einzuordnen. Zweifelsohne fühlte er sich nicht nur persönlich, sondern auch politisch dazu verpflichtet, die Sondervollmachten der Exekutive wieder zurückzuschneiden, die ihm die Bush-Ära hinterlassen hatte. Doch verschaffte ihm der Amtsantritt eine institutionelle Position, in der er Versuche, seine politischen und administrativen Handlungsspielräume ernsthaft einzuschränken, geradezu zwangsläufig ablehnen musste, zumal angesichts einer Situation, wo derart viel auf dem Spiel steht wie beim Kampf gegen den Terrorismus. Begreiflicherweise beschäftigt einen Präsidenten der Umstand, dass die Wählerschaft nicht den Kongress oder den Obersten Gerichtshof, sondern ihn für Fehlentscheidungen zur Rechenschaft ziehen wird, deren Resultate Terroranschläge auf Bürger der Vereinigten Staaten sein könnten. Eingedenk der mehr oder minder permanenten Rivalität zwischen Exekutive und Legislative, die nun einmal zur institutionellen Dynamik von Präsidialsystemen gehört, ist es nicht weiter verwunderlich, dass Obama an einer ganzen Reihe von Vollmachten festhielt, die sein rechtskonservativer Vorgänger für die Exekutive erfolgreich reklamiert hatte. Schon seit 2009 hatten Obamas politische Berater die Warnung ausgesprochen, es könne für ihn politisch gefährlich werden, auf einen Teil seines beträchtlichen Ermessenspielraums im Krieg gegen den Terror zu verzichten. Dass ihr "kluger" politischer Rat vermutlich zur Wiederwahl Obamas beigetragen haben wird, ändert nichts daran, dass er zugleich außerordentlich beunruhigende humanitäre und rechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hat.
Damit ist allerdings noch nicht erklärt, warum der Kongress und die Zivilgesellschaft derart erpicht darauf waren, die Exekutive mit Machtbefugnissen auszustatten, denen Obama selbst mit äußerster Skepsis begegnete. Woraus speist sich dieser allgemeine Wunsch, die Exekutive mit umfassenden Vollmachten auszustatten?
Präsidialsysteme beruhen nicht zuletzt auf etwas, das man wohl "quasigöttliches Recht" nennen muss.Für eine ausführliche Darlegung des Arguments siehe William E. Scheuerman, "'American Kingship'? The Monarchical Origins of Modern Presidentialism", in: Polity, 37 (2005), S. 37-52. Es gibt, anders und kurz gesagt, überzeugende empirische Hinweise dafür, dass die moderne Präsidentschaft exekutive Funktionen übernommen hat, die uns ansonsten nur aus Monarchien bekannt sind. Die wichtigste besteht darin, dass der Präsident, wie es in der vormodernen politischen Theorie hieß, als "Beschützer des Reiches" oder als "erster Krieger" aufzutreten hat, namentlich, wie man in den Vereinigten Staaten noch heute sagt, als "commander-in-chief", das heißt als Oberbefehlshaber. An göttliches Recht glaubt heutzutage natürlich so gut wie niemand mehr. Gleichwohl stellt ein Präsident in vielfacher Hinsicht ein funktionales und symbolisches Äquivalent zur klassischen Monarchie dar. Während parlamentarische Regierungssysteme die Rolle des Staatsoberhauptes von allen Regierungsfunktionen unterscheiden, die gewählte Parteipolitiker über nehmen, werden sie in Präsidialsystemen miteinander verschmolzen. Daher neigt nicht nur das allgemeine Bewusstsein, sondern durchaus auch die politische Theorie dazu, einem Präsidenten in Anlehnung an Alexander Hamiltons berühmte Beschreibung der Exekutivgewalt in den Federalist Papers "Tatkraft" und "raschen Zugriff" zuzuschreiben. Damit werden zentrale Begriffe des alteuropäischen Verständnisses von Königtum aufgerufen, wonach allein der Monarch, in dem sich alle Staatsgewalt verkörpert, fähig sei, auf existenzielle Bedrohungen mit zügigen und abgestimmten Maßnahmen zu reagieren. Dass moderne Präsidenten im Feld der Außen- und Sicherheitspolitik über ausgedehnte Machtbefugnisse verfügen, die es mit denen ihrer königlichen Vorläufer unter Umständen durchaus aufnehmen können, ist also keineswegs zufällig. Und es kann daher auch nicht überraschen, wenn zeitgenössische Befürworter einer überdimensionierten Exekutivgewalt des Präsidenten, beispielsweise John Yoo, Autor der berüchtigten Folter-Memos der Bush-Administration, ganz unverblümt die monarchischen Attribute des amerikanischen Präsidentenamtes feiern.John Yoo, The Powers of War and Peace: The Constitution and Foreign Affairs After 9/11, Chicago 2005.
Gerade in diesem Kontext ist es wichtig, den Zusammenhang von quasigöttlichem Recht und der doppelten demokratischen Legitimation zu verstehen. In aller Regel müssen sich Anwärter auf die Präsidentschaft nämlich bemühen, "hoch über den Niederungen jener Alltagspolitik zu stehen, wo sich die gewöhnlichen Sterblichen abmühen", um damit sowohl ihren Abstand von den Borniertheiten parlamentarischer Interessenvertretung zu unterstreichen wie ihre außergewöhnliche politische Autorität zu rechtfertigen.Bruce Ackerman, "The New Separation of Powers", in: Harvard Law Review, 113 (2000), S. 663-729, hier S. 661. Wie ließe sich der Anspruch auf eine verfassungsrechtliche und politische Vormachtstellung besser untermauern als durch die Kultivierung "einer besonderen Aura und eines Selbstbildes", das sich, wie Linz richtig gesehen hat, vom Image des "üblichen Politikers" unterscheidet?Linz, "Presidential or Parliamentary Democracy", S. 6. Die in einer Präsidialdemokratie eingespielte Gewaltenteilung verleitet die Inhaber der Exekutivgewalt dazu, einen Platz jenseits des normalen Politikbetriebs zu besetzen und Eigenschaften zur Schau zu stellen, die an ihre königlichen Vorgänger erinnern. Deren Anspruch auf Autorität und unbedingte Gefolgschaft beruhte ja auf dem Glauben des Volkes an ihre überirdische Begabung oder "göttliche" Kraft. Kein Wunder also, dass sich der politische Diskurs in modernen Präsidialsystemen geradezu obsessiv mit dem "Charisma" des Präsidenten befasst.
Die latent monarchischen Eigenschaften von Präsidialsystemen machen begreifbar, warum Kongress wie Zivilgesellschaft so versessen darauf waren, den Arm der Exekutive im Krieg gegen den Terror zu stärken. Nach klassischem Verständnis besitzt nur die im Präsidenten versammelte Exekutivgewalt das nötige Vermögen -- Hamilton umschreibt es in Nr. 70 der Federalist Papers als "Entschlossenheit, Rührigkeit, Verschwiegenheit und raschen Zugriff" -- um ernsthafte Bedrohungen abzuwehren. Aus dieser Sichtweise speist sich der Mythos präsidialen Regierens, weshalb es nicht weiter erstaunlich ist, dass ein verängstigtes Wahlvolk und seine Vertreter im Kongress unter dem Eindruck terroristischer Herausforderungen instinktiv dazu tendieren, die Macht der Exekutive auszuweiten. Selbstverständlich gibt es viele und sattsam bekannte Gründe dafür, dass ein gut funktionierender Staats- und Verwaltungsapparat entscheidend für die innere und äußere Sicherheit ist: Gesellschaften ohne die Fundamente moderner Staatlichkeit gelingt es im Allgemeinen nicht, die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Dennoch verhindern die monarchischen Eigenschaften von Präsidialdemokratien, einmal ganz abgesehen von dem Glauben an ein quasigöttliches Recht, auf den sich Präsidialsysteme nicht nur stützen, den sie vielmehr auch heraufbeschwören, eine nüchterne Debatte darüber, was moderne Präsidentschaft tatsächlich leisten kann und soll. Trotz aller Fixierung auf sein Charisma wartet ein moderner Präsident eben nicht mit überirdischen oder magischen Kräften auf. Ihm solche Fähigkeiten zu attestieren, und sei es auch nur verstohlen, ist gefährlich. Faktisch sind es atavistische Überbleibsel eines unzureichend entzauberten politischen Weltbildes, auf denen Präsidialsysteme fußen. Und dieses Weltbild ist unvereinbar mit dem modernen Bekenntnis zu den Prinzipien bürgerlicher Freiheit und demokratischer Rechtsstaatlichkeit.
Die in Aussicht gestellte Abkehr von der inhumanen Antiterrorpolitik seines konservativen Vorgängers ist Obama nicht geglückt. Zweifelsohne fällt seine Bilanz enttäuschend aus. Doch reichen die Probleme, mit denen wir zu tun haben, viel tiefer. Wenn es den Bürgerinnen und Bürgern der Vereinigten Staaten ernst mit ihrem Wunsch nach einem Kurswechsel im Kampf gegen den Terrorismus ist, dann müssen sie sich unangenehmen Fragen stellen. Sie betreffen weniger den Präsidenten Obama als vielmehr die institutionellen Grundlagen ihrer -- zunehmend veralteten -- präsidialen Form von Demokratie.