Stefanie PeterStefanie Peter / MerkurEurozineMerkurMerkur 12/2012 2012-12-05PhantomkörperWie ich lernte, Polens Selbstverständnis zu verstehenWenn man auf Polnisch sagt, "dem guckt Stroh aus den Schuhen", so ist damit ein Provinzler, ein richtiger Hinterwäldler gemeint. Es ist aber auch eine abfällige oder ironische Bemerkung über jemanden, der sich nicht benehmen kann. So sehr er auch vorgibt, ein feiner Herr zu sein, die Verstellungskunst hat ihre Grenzen: Früher oder später wird der Rüpel in ihm zum Vorschein kommen. Der Ausdruck geht auf eine Unterscheidung zurück, die das polnische Selbstverständnis bis heute prägt, nämlich die zwischen Adeligen und Bauern. Der Bauer verachtet seine Herkunft, die er mit Knechtschaft und Entwürdigung verbindet, zugleich idealisiert er die Lebensform seines adeligen Herrn und setzt alles daran, selbst Adeliger zu werden. Nun aber ist dieses über Jahrhunderte kultivierte polnische Adelsideal mitsamt dem Geschichtsbild, das es transportiert, wieder einmal in die Kritik geraten. Ehrgeiz, so heißt es, ist gut, die Verachtung der eigenen Wurzeln aber führt zu Komplexen.Es war Andrzej, ein Bekannter aus Warschau, der mir als erster davon erzählte. Wir hatten uns länger nicht mehr gesehen, dann kam er nach Berlin, und wir tauschten Neuigkeiten aus. "Polen", sagte er, "ist in eine große Bauerndebatte verstrickt." Bauern? -- dachte ich, wo kamen die plötzlich her? Dass die für ihre Aufmüpfigkeit bekannten polnischen Landwirte mit Treckern Hauptstraßen und Grenzübergänge blockierten und Güllespritzen einsetzten, um gegen Armut, Importe und den bevorstehenden EU-Beitritt ihres Landes zu protestieren, das lag nun schon ein paar Jahre zurück. Damals machten sie, angeführt von Andrzej Lepper, einem ehemaligen Boxer, der eine Partei namens "Selbstverteidigung" gegründet hatte und für seine Angriffslust bekannt war, in der ganzen Welt von sich reden.Auf Polens Weg in den Neoliberalismus, das stand fest, war der Bauer der Querulant und Modernisierungsbremser. Doch das ist, wie gesagt, lange her. "Wieso Bauern?", fragte ich Andrzej. "Unsere adeligen Wurzeln sind eine Erfindung", antwortete er. "In Wirklichkeit stammt die Mehrheit der Polen von Bauern ab, von Leibeigenen. Ich auch. Wir haben unsere Herkunft nur immer verdrängt und so getan, als wären wir alle Adelige."Andrzej erwähnte ein Interview mit dem Warschauer Soziologen Jacek Wasilewski in der Gazeta Wyborcza vom 27. Juni 2012, in dem dieser darauf hinweist, dass die polnische Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg vorwiegend aus Bauern bestand: "Von denen kommen wir her", sagt Wasilewski, "nicht von den Czartoryskis, Radziwills oder den herausragenden Vertretern der Krakauer oder Warschauer Intelligenz." Die idealisierende Vorstellung vom adeligen Intelligenzler, die in der Romantik gründet, gleiche einem Luftschloss. Auch würde man bei genauerer Betrachtung der polnischen Geschichte erkennen, dass der bäuerlichen Mentalität die Revolte fremd war."Der leibeigene und später befreite Bauer mit Landbesitz", führt Wasilewski weiter aus, "war ein Untertan. Jahrhundertelang stellte er es nicht in Frage, seinem Herrn und dem Pfarrer ergeben zu sein. Diese Leibeigenschaft ist Teil seiner Kultur, seiner Tradition, seiner Sitten und seiner Religiosität -- warum sollte er also plötzlich zum Revolutionär, Entdecker oder Erneuerer werden?" Selbst im Hang seiner Landsleute zum Konsum will Wasilewski das Erbe der Bauernkultur erkennen. "Für ländliche Gemeinschaften ist das Haben wichtiger als das Sein. Denn nur wer etwas hatte, konnte überleben. Das wird im kapitalistischen System noch verstärkt. Besitzen wollen alle." Doch statt endlich die Bauernvergangenheit aufzuarbeiten, hielte man sich an Mythen, die einerseits ein Überlegenheitsgefühl wecken und andererseits Komplexe verstärken. Selbst in architektonischen Trends ließe sich dieses Kulturmuster erkennen: "Das Einfamilienhaus im Stil des polnischen Gutshofs ist der Klassiker. Der Gutshof ist ein natürliches Muster der Imitation, Ausdruck geheimer Sehnsüchte. Worauf könnten wir uns sonst berufen?"Der Adel als Fake? Mir fiel der Handkuss ein. Eine adelige Geste, die ausgerechnet in der Volksrepublik en vogue gewesen war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten etliche Bauern vom Land in die Stadt und stiegen dort zu Arbeitern auf. Indem sie den Handkuss kultivierten, brachten sie zum Ausdruck, dass sie sich vom Dorf emanzipiert hatten. Nach 1989 nahm diese Geste allmählich die Züge einer Karikatur an und geriet zusehends außer Gebrauch.Das war ungefähr auch die Zeit, als im polnischen Fernsehen ein ulkiges Männerduo auftrat, das sich "T-Rapper von der Weichsel" nannte. Die beiden trugen Trapperhüte mit Fuchsschwänzen und rappten über die Lebensläufe polnischer Herrscher -- von Mieszko dem Piastenfürsten bis zu König Stanislaw August Poniatowski. In achtzehn Songs wurden markante Charaktereigenschaften und Verdienste großer Männer aufgelistet und satirisch so zugespitzt, dass jedes Kind sie sich merken konnte -- Jahreszahlen inklusive. Das war nicht nur ein recht ungewöhnliches Sujet für Rap, sondern auch eine äußerst raffinierte Form der Oral History. Mitte der neunziger Jahre bildeten die T-Rapper damit ein klares Gegenprogramm zu Disco Polo, jener bäuerlichen, für ihre deftigen Texte bekannten polnischen Variante von Eurodisco, die heute ein Comeback auf Retropartys erlebt. Aber auch die T-Rapper sind längst noch nicht von der Bildfläche verschwunden; erst vor kurzem ist ihr Album -- angereichert um weitere Königsviten und literarische Helden -- noch einmal herausgekommen. Es scheint, als hätten die beiden Fallensteller einen Nerv getroffen.Aber nicht immer begegnen die Polen ihrer Adelskultur mit soviel Humor und Selbstironie. Staatspräsident Bronislaw Komorowski beispielsweise inszenierte Polens adelige Vergangenheit mit großer Geste, als er Anfang September einen landesweiten Vorlesemarathon veranstalten ließ. In dreißig Städten führten bekannte polnische Schauspieler das Nationalepos Pan Tadeusz oder der letzte Einritt in Litauen des romantischen Dichters Adam Mickiewicz auf. Komorowski persönlich machte den Anfang: Mitten in Warschau im Sächsischen Garten las er berühmte Passagen aus dieser "Adelsgeschichte aus den Jahren 1811 und 1812". Das Versepos spielt auf dem Gut Soplicowo in Litauen, in einer Zeit, da Polen zwischen Preußen, Russland und Österreich geteilt und von der politischen Landkarte Europas verschwunden ist. Erzählt wird die Geschichte zweier verfeindeter Adelsfamilien. Pan Tadeusz ist immer noch Pflichtlektüre an Polens Schulen und das meistgelesene Buch nach der Bibel.Die präsidiale Maßnahme zur Sprachpflege und nationalen Selbstvergewisserung wirkte wie eine verspätete "adelige" Retourkutsche auf Polens "bäuerlichen" Begleitsong zur Fußball-Europameisterschaft, der manchen noch in den Ohren geklungen haben mag -- nicht zuletzt wegen des Streits, den es im Frühsommer darum gegeben hatte. Aus einer landesweiten Publikumsabstimmung per SMS war die Gruppe Jarzebina, zu Deutsch "Vogelbeerbaum", eindeutig als Siegerin hervorgegangen; ein Frauenchor in der regionaltypischen Tracht der Woiwodschaft Lublin. Polen hatte gewählt. Doch als die acht nicht mehr ganz jungen Damen in ihren bodenlangen Röcken und weißen Kopftüchern plötzlich ganz selbstbewusst über die Bühne hüpften und ein Lied sangen, dessen Refrain "Koko, koko" an das Gackern von Hennen erinnern soll, nachdem sie ein Ei gelegt haben, war das zu viel der Bauernfolklore. Warum musste Polen in Europa schon wieder als Hinterwäldler dastehen, obwohl das Land doch so modern ist? Entnervt von der Dauerbeschallung in Rundfunk, Fernsehen, Einkaufszentren, verglich die Schriftstellerin Dorota Maslowska das Lied in einem Artikel in der Zeit vom 12. Juni 2012 mit einem hartnäckigen Virus, der "das Hirngewebe unbeteiligter Opfer befällt" und den man selbst durch hochprozentigen Alkohol nicht mehr loswerde. Wegen eines Urheberrechtsstreits durfte der Song vor dem Eröffnungsspiel nicht ausgestrahlt werden. Das ist aber nur die offizielle Begründung. Inoffiziell heißt es, man hätte dem eigenen Image nicht schaden wollen."Einen Adelskomplex haben in Polen Angehörige sämtlicher Gesellschaftsschichten, und die sogenannten Eliten sind davon nicht ausgenommen", schreibt der 1981 geborene Soziologe Adam Czech in seinem Beitrag zur Debatte, die unter dem Titel "Schäm dich nicht für den Bauern in dir" geführt wird.Adam Czech, Chlop potega jest, nie miasta, In: Gazeta Wyborcza vom 29. August 2012.Für Andrzej, meinen Bekannten aus Warschau, ist diese Auseinandersetzung überfällig, denn "endlich", so sagt er, "geht es um die Frage, woher wir eigentlich kommen, wie wir wurden, wer wir sind". Es geht, dachte ich mir, also ums Ganze. Nun sind Identitätsdebatten in einem historisch so arg gebeutelten Land nichts Ungewöhnliches. Polen beschäftigt sich gern mit sich selbst. Und diese Selbstbezüglichkeit war es auch, die mich in den vielen Jahren, die ich mich nun schon mit Polen beschäftige, immer faszinierte. Ein ganzes Volk, das unentwegt Nabelschau betreibt, sich an seiner eigenen Geschichte und Kosmologie berauscht, das war für mich als Ethnologin äußerst ergiebig. Da musste man nicht tief schürfen, man bekam gleichsam alles auf dem Tablett serviert. "Der Elefant und die polnische Sache" nennt man einen im 19. Jahrhundert ausgeprägten Hang, in jedem noch so entlegenen Thema einen Bezug zur nationalen Frage zu erkennen. Durch Stefan Zeromskis Roman Vorfrühling aus dem Jahr 1924 wurde der Ausdruck zum geflügelten Wort. So ausgeprägt in der polnischen Kultur die Nabelschau ist, so ausgeprägt sind die unterschiedlichen Formen, sich darüber zu mokieren. Allein dieses komplexe Verhältnis zwischen Konstruktion und Dekonstruktion der polnischen Sache, es lässt sich nicht nur schwer vermitteln, es mangelt an Gelegenheit und immer noch auch an Wissen über dieses Land, und so muss man die Geschichte immer von vorne erzählen.Was mich an der aktuellen Debatte über Bauern und Adelige am meisten überraschte, war, dass sie nicht wie sonst im konservativen und nationalkatholischen Milieu für Aufruhr sorgte, sondern offenbar weitere Kreise zog. Andrzej hatte ich bisher eher als jemanden kennengelernt, der einen Bogen um die großen Fragen des Polentums machte. Er ist in den siebziger Jahren in Cieszyn, an der tschechischen Grenze, aufgewachsen und lebt nun schon lange in Warschau, wo er seit 1997 die inzwischen wichtigste Galerie für polnische Gegenwartskunst betreibt. Andrzej besitzt eine gewisse Weltläufigkeit, ist andauernd zwischen New York, London, Mexiko City, Paris und anderen Metropolen unterwegs; man kann ihn zur kulturellen Elite seines Landes rechnen. Er hatte sich des Öfteren irritiert davon gezeigt, dass ich so häufig nach Polen fahre. Und manchmal hatten er und seine erfolgreichen Kollegen sich sogar ostentativ darüber gewundert, dass ich das Land und seine Kultur seit Jahren mit unstillbarer Neugier und anhaltender Faszination erforsche und beschreibe, während es ihnen allen eher als Sackgasse erscheint, weshalb sie von dort weg strebten, in die große weite Welt. An die Universitäten Harvard, Yale oder Princeton, nach Berlin, Basel oder wie kürzlich ein Kollege von Andrzej, ein Museumskurator, nach Washington. Der kam übrigens ausgerechnet aus Jaworzno Szczakowa, einer Kleinstadt zwischen Krakow und Katowice, die mir mit einem Mal paradigmatisch erscheint, denn sie ist auch Schauplatz des Romans Queen Barbara von Michal Witkowski.Michal Witkowski, Queen Barbara. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Berlin: Suhrkamp 2010. Die Handlung spielt Mitte der Neunziger, als der freie Markt noch jung war und man vom einen auf den anderen Tag steinreich, aber ebenso schnell wieder vom Glück verlassen werden konnte. Die im katholischen Polen besonders gebeutelten Homosexuellen stellen in Queen Barbara das Personal. Am Existenzminimum und in Randzonen der Gesellschaft lebend, entfliehen sie der Tristesse durch einen improvisierten Glamour, der mit den minderwertigsten Requisiten der neuen Warenwelt auskommt und zugleich die altpolnische Plauderei adeliger Gutsbesitzer wiederbelebt.Erzähler und Held der Geschichte ist der Pfandleiher Hubert, ein stattlicher Mann, der Schnurrbart, Goldrandbrille, Armband und Siegelring trägt, hundert Kilo auf die Waage bringt und unter Krampfadern leidet. Frömmelei ist bei Hubert gepaart mit einer ausgeprägten Gier nach irdischen Gütern. Fürs Eintreiben der Schulden beschäftigt er zwei Ukrainer. Witkowski hat das Geschehen in Jaworzno Szczatkowa angesiedelt, schickt seinen Protagonisten aber auch durchs ländliche Polen und schließlich nach Warschau. Durch einen Kunstgriff verschränkt er die realexistierende, proletarische Schwulenkultur mit der Geschichte des polnischen Adels, seiner Manierismen und Sprechweisen. Die nüchterne Geschäftemacherei im Hier und Jetzt ist nämlich nur eine Seite von Huberts widersprüchlicher Persönlichkeit. Nach getaner Arbeit verwandelt sich der Außenseiter und abgebrühte Mafioso in einen sentimentalen Romantiker, der vom 16. Jahrhundert träumt und sich nichts sehnlicher wünscht, als eine Frau zu sein. Und zwar nicht irgendeine, sondern Barbara Radziwill, jene litauische Adelsdame, die als eine der Schönheiten ihrer Zeit galt. Sie war die geliebte Gemahlin des polnischen Königs Sigismund II. August, des letzten Jagiellonen, und ist auf Gemälden an ihrem üppigen Perlenschmuck zu erkennen. Hubert öffnet dann seine feuersichere Pfandhausschatulle, genießt es, den Banknoten ihre Eselsohren glattzustreichen und den Schmuck zu betrachten: "Die Krönung aber war jener Moment, wenn ich den alten rissigen Spiegel hervorzog und mir die Perlenkette von der alten Frau auf den Kopf setzte wie ein Diadem, einen Schleier." Aus den Unbilden des Alltags flieht der Ganove Hubert in ein Reich der Phantasie. Er spinnt eine Familiengenealogie, in der er selbst den Platz von Königin Barbara einnimmt und seine ukrainischen Gehilfen Sascha und Felek zu Hofdamen werden.Im Erfinden von Genealogien war Polens Adel, die Schlachta, immer geübt. Sie führte ihre Herkunft auf die Sarmaten, ein mythisches Reitervolk aus der asiatischen Steppe, zurück und wollte damit bis ins 18. Jahrhundert ihre alleinige Vorherrschaft in der polnischen Republik begründen. Bis heute ist der Begriff "Sarmatismus" deshalb gleichbedeutend mit einer Kultur des Größenwahns, der Abschottung und mangelnden Toleranz. Witkowski erkennt Reste dieser adeligen Geisteshaltung in Habitus und Mentalität der Provinzler als gleichsam gesunkenes Kulturgut wieder und findet so ein passendes Vehikel, um nicht nur den ökonomischen, sondern auch den mentalen und ästhetischen Umbruch der neunziger Jahre in seinem Land zu beschreiben.So ähnlich hatte das auch schon der Schriftsteller Witold Gombrowicz gemacht. In seinem 1953 erschienenen Auswandererroman Trans-Atlantik griff er das barocke Genre der "gaweda", der Adelsplauderei, auf, um das Milieu polnischer Emigranten zu schildern, die wie er selbst während des Zweiten Weltkriegs und danach in Buenos Aires lebten. Dabei herausgekommen ist eine herrliche, autobiographisch gefärbte Satire über den fern der Heimat kultivierten, lächerlichen Patriotismus und das Adelsgebaren seiner Landsleute -- ein Anti-Pan Tadeusz, der sich gewaschen hat. Laut Gombrowicz war der polnische Geist nämlich auch hundert Jahre nach Erscheinen des berühmten Versepos noch hoffnungslos in jener romantischen Gestalt gefangen, die sein Schöpfer Adam Mickiewicz ihm verpasst hatte.Der Krakauer Soziologe Jan Sowa würde Gombrowicz sofort zustimmen, ja er würde sogar so weit gehen zu sagen, dass der polnische Geist, trotz Gombrowiczs leidenschaftlicher Austreibungsversuche mittels Dramen, Romanen und Tagebüchern, bis heute romantisch geprägt und das Adelsideal weiterhin sehr lebendig ist. In seiner originellen und umfangreichen Studie Der Phantomkörper des Königs. Der periphere Kampf mit der modernen Form, die sich wie eine Art Überbau zur jüngsten "Bauerndebatte" verhält, versucht Sowa Erklärungen dafür zu finden.Jan Sowa, Fantomowe cialo krola. Peryferyjne zmagania z nowoczesna forma, Krakow: Universitas 2012. Zunächst tut er etwas, das ihn von den meisten Analytikern aktueller polnischer Problemlagen unterscheidet: Er wählt eine Perspektive der longue durée. Während jene dazu neigen, der Volksrepublik die gesamte Schuld für Polens gegenwärtige Probleme anzulasten -- manchmal wird noch auf den Zweiten Weltkrieg und manchmal auf die Teilungen Bezug genommen --, geht Sowa zurück ins 16. Jahrhundert.Der Titel seines Buches lehnt sich an die mittelalterliche Rechtsauffassung der "zwei Körper des Königs" an, die Ernst Kantorowicz in seinem gleichnamigen Buch untersuchte. Sowa wendet die Metapher des Phantomkörpers auf die polnisch-litauische Adelsrepublik (1572-1795) mit ihrer Wahlmonarchie an, die sich, wiewohl in der landläufigen polnischen Geschichtsauffassung immer als goldenes Zeitalter verklärt, vor allem durch eine Reihe von Unzulänglichkeiten ausgezeichnet habe. Sowa zeigt, dass die mit dem Tod des Jagiellonen Sigismund II. August, des letzten polnischen Erbkönigs Polens und Litauens, beginnende sogenannte Erste Republik kein Staat im strikten Sinne des Wortes war. Eher handelte es sich um ein Phantom, ein Hirngespinst, eine Vorstellung.Polen als Gesellschaft, Staat und Nation, so Sowa, konstituierte sich auf der Basis von drei aufeinanderfolgenden Abwesenheiten. Das Fehlen des römischen Erbes in diesem Teil Europas zog einen Mangel an neuzeitlicher sozialer Organisation nach sich, die auf der Kombination von Absolutismus und Kapitalismus bestand. Die Macht des Königs war in der Adelsrepublik so eingeschränkt, dass man von einem Mangel königlicher Herrschaft sprechen muss. Der Effekt all dessen war die Abwesenheit von Staatlichkeit, die unter dem Begriff der "Teilungen" in die polnische Geschichte eingegangen ist. Diese endgültige Niederlage wird immer als das konstitutive Trauma Polens bezeichnet und muss als Erklärungsmuster für den polnischen Habitus herhalten. Sowa versucht jedoch nachzuweisen, dass die Teilungen nur offenbarten, was bereits zweihundert Jahre real war, bevor es überhaupt zur ersten Teilung Polens kam: die Nichtexistenz des polnischen Staates. Sowa schlägt vor, diese imaginäre Staatlichkeit der Ersten Republik den "Phantomkörper des Königs" zu nennen.Die erwähnten konstitutiven Leerstellen waren in der polnischen Geschichte immer von entsprechenden Ideologien umgeben. Während der latenten Nichtexistenz Polens (genannt Polen-Litauen) war dies die Ideologie des Sarmatismus, der, wie Sowa nachweisen kann, alle Eigenschaften des Kolonialismus aufwies. Dafür spricht erstens die Selbstdefinition der Schlachta, die mit dem Verweis auf ihre edle Herkunft die Herrschaft über Ostmitteleuropa an sich riss und die in der Region lebende Bauernbevölkerung unterwarf. Zweitens rechtfertigte der Sarmatismus die koloniale Expansion der Schlachta in die gesamten östlichen Landesteile und eine Lebensweise, die durch die Verherrlichung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Gutshöfe, ihre Abtrennung von der städtischen Zivilisation, Erdverbundenheit und eine Abneigung gegen alles Fremde charakterisiert war.Viele der Landadeligen hielten sich für Patrioten im Dienste der Nation. Doch verstanden sie unter Nation allein sich selbst, also eine Gemeinschaft gleichgestellter Herren, die nach demokratischen Prinzipien regierten. Der polnische Habitus wurde im 16. Jahrhundert auf tiefe und nachhaltige Weise durch Polens Randlage bestimmt. Nicht nur in dem Sinne, dass es sich, weil es weit weg von den zivilisatorischen Zentren lag, damit zufrieden geben musste, seine Größe in einer unendlichen Imitation zu erlangen. Es ging um mehr: Die bloße Position und der Charakter Polens als antimodernes Agrarland wurden durch die Integration ins wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der kapitalistischen Welt bestimmt, bei allerdings peripherer Lage. Der Kontakt mit diesem System führte indes nicht dazu, dass sich in Polen der Kapitalismus entwickelte, sondern bewirkte dort die Konservierung einer archaischen sozioökonomischen Ordnung.Im 19. Jahrhundert, so Sowa, entstand ein Korpus an Ideologien, die diesen konstitutiven Mangel verschleiern sollten, vor allem sollten sie dem kollektiven Bewusstsein die Möglichkeit nehmen zu erkennen, wo die tatsächlichen Ursachen für den Untergang Polens lagen, nämlich in der realen Nichtexistenz des polnischen Staates ab Ende des 16. Jahrhunderts. Im Wechselspiel zwischen diesem ideologischen Trauma einerseits und der kolonialen Abhängigkeit Polens von den drei Teilungsmächten andererseits bildete sich die polnische Nation. Hier sieht Sowa den Schlüssel zur gegenwärtigen Verfasstheit der polnischen Gesellschaft und Kultur, die bis heute bestimmt werde durch das dialektische Verhältnis zwischen der sie konstituierenden Leere und den Versuchen, sich angesichts fremder Einflüsse und Muster grundsätzlich positiv zu definieren.Für mich war Sowas Buch mindestens so lange überfällig, wie es für Andrzej die "Bauerndebatte" war. Denn es öffnet den Weg für eine ganz neue Betrachtung polnischer Geschichte jenseits der eingefahrenen Helden- und Opferschemata. Sowa nennt seine Forschung einen Beitrag zur "Soziologie der Rückständigkeit". Für mich sind sein Buch ebenso wie die "Bauerndebatte" Bausteine zu einer Kulturgeschichte des polnischen Ehrgeizes. Ich ahne nun, woher die Verwunderung kommt, die manche Polen zum Ausdruck bringen, wenn sie hören, dass ich mich für ihr Land interessiere. Als würde ich nach etwas suchen, das sie verstecken wollen.Soeben ist in den polnischen Kinos wieder ein Historienschinken angelaufen: Schlacht um Wien, eine italienisch-polnische Koproduktion darüber, wie der polnische König Jan Sobieski im September 1683 am Kahlenberg das Wien belagernde osmanische Heer zurückschlug. Und auch die polnische Autoindustrie fährt oder besser gesagt: reitet einstweilen weiter auf dem Adelsticket. "Hussarya" ist der Name des Sportwagens, den ein Warschauer Hersteller nächstes Jahr auf den Markt bringen will. Der Name soll an die donnernden Geräusche beim Heranreiten der berüchtigten Flügelhusaren erinnern. Im 17. Jahrhundert war Polens Kavallerie berühmt für ihre Schönheit, Kraft und Beweglichkeit.