Osteuropa
Osteuropa
2012-07-09
Heftbeschreibung Osteuropa 5/2012
Alan Renwick
Im Interesse der Macht
Ungarns neues Wahlsystem
Ungarn hat ein neues Wahlrecht. Dieses geriet rasch in die Kritik: Es diene wie die vielen anderen Umgestaltungen des politischen Systems der vergangenen zwei Jahre allein dazu, die Macht des herrschenden Fidesz auf Dauer zu sichern. Dienen aber die Verkleinerung des Parlaments, die Verschiebung zugunsten des Mehrheitsprinzips und der Neuzuschnitt der Ein-Mann-Wahlkreise vielleicht auch einem öffentlichen Interesse? Eine detaillierte Prüfung zeigt jedoch: Die zentralen Elemente der schon wegen ihrer intransparenten Umsetzung fragwürdigen Reform sind dazu geeignet, die Machtposition des Fidesz zu zementieren.
Kornelia Konczal, Joanna Wawrzyniak
Traditionen, Konzepte, (Dis-)Kontinuitäten
Erinnerungsforschung in Polen
In der internationalen Erinnerungsforschung dominieren die Werke aus den USA, Frankreich und Deutschland. Dagegen sind die meisten Arbeiten zu Gedächtnis und Erinnerung aus der Feder ostmittel- und osteuropäischer Autoren unbekannt. Das hat mit dem Schatten zu tun, den der "Eiserne Vorhang" bis heute wirft. Auch die Sprachhürde spielt eine Rolle. Doch die traditionsreiche Geschichte der polnischen Erinnerungsforschung zeigt: Selbst ein Denker wie Stefan Czarnowski harrt noch seiner Entdeckung -- er leistete schon fundamentale Beiträge zur Erforschung des kollektiven Gedächtnisses und zur Erinnerungsforschung, bevor die Begriffe an sich geprägt wurden.
Alexandra Engelfried
Zar und Star
Vladimir Putins Medienimage
Anfang Mai 2012 wurde Vladimir Putin erneut ins Präsidentenamt eingeführt. Die pompöse Zeremonie unterschied sich nur graduell von seinem ersten Einzug in den Kreml im Jahr 2000. Man glaubt ihn inzwischen zu kennen. Doch Putin ist ein Verwandlungskünstler. Die mediale Inszenierung als omnipotenter Herrscher, Feldherr, guter Zar und Retter seines Volkes verwendet nationale Traditionen aus vorrevolutionärer Zeit. Rückgriffe auf die internationale massenmediale Ästhetik sowie populäre Stereotypen versetzen Putin in die Rolle eines modernen Helden, Sexsymbols, Medien- und Popstars. Die symbolische Politik unter Putin ist im Zeitalter des Politainment angekommen.
Zaur Gasimov
Idee und Institution
Russkij mir zwischen kultureller Mission und Geopolitik
Die 2007 gegründete Stiftung Russkij mir ist offiziell für die Förderung der russischen Kultur im Ausland zuständig. Wie der Name "Russische Welt" schon andeutet, ist sie aber nur bedingt mit den Auslands-Kulturinstituten anderer Länder vergleichbar: Das Konzept des russkij mir geht auf die Slawophilen des 19. Jahrhunderts und die Bewegung der Eurasier zurück. Deren Ideen verbanden sich nach dem Ende der Sowjetunion mit anderen antiwestlichen Strömungen zu einem ideologischen Konglomerat, das heute offenbar die Basis der internationalen Kulturpolitik Russlands darstellt. Sie ist im Kern konservativ und neo-imperial. Insbesondere im postsowjetischen Raum verfolgt die Stiftung auch direkt politische Ziele.
Anna Kreikemeyer
Herrschaft statt Sicherheit
Die Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit
Die 2002 gegründete OVKS soll nach Bekunden ihrer sieben Mitgliedstaaten für Sicherheit im postsowjetischen Raum sorgen. Doch sie tut es nicht. Diese Dysfunktionalität hat strukturelle Gründe: Oberstes Ziel der herrschenden autoritären Regimes von Minsk über Moskau bis Duschanbe ist der Erhalt und Ausbau ihrer Macht. Regionale Kooperation, die über Lippenbekenntnisse hinaus geht, widerspricht dem umfassenden Anspruch der Regimes auf innere und äußere Souveränität.
Ulrike Huhn
Sodom und Gomorra in Kujbysev
Metamorphosen einer orthodoxen Legende
Nach Stalins Tod war die Kirchenpolitik umstritten. Es gab widersprüchliche ZK-Beschlüsse und Repressalien gegen die Kirche. Diese Phase der Unsicherheit für Gläubige war ein fruchtbarer Boden für Wunderlegenden. Eine entstand 1956 in Kujbysev. Die Geschichte von "Zojas Stehen", in der ein junges Mädchen mit Versteinerung für die Entweihung einer Ikone bestraft wird, ist bis heute bekannt und entwickelt sich weiter. Über die Jahre erfüllte sie verschiedene Funktionen: Sie lenkte die Aufmerksamkeit von einem Missbrauchsskandal in der Diözese Kujbysev ab und bestärkte die Gläubigen. Sie diente aber auch als Identifikationsangebot für Menschen, die sich nach dem Ende der Sowjetunion der Kirche zuwandten.