Kathrin Passig
Kathrin Passig / Merkur
Eurozine
Merkur
Merkur 12/2011
2011-12-06
Internetkolumne
Wenn der Kuchen spricht, haben die Krümel Pause
Wenn dieser Text erscheint, wird man ihn zwar im Netz lesen, aber nicht kommentieren können. Sie können sich darüber bei mir beklagen, ich sage dann: "Das ist eben so beim Merkur, ich würde es auch gern ändern." Das ist gelogen. Ich finde es insgeheim ganz gut so. Wenn jemand nach dem Grund fragt, gebe ich gern an, bei Printerzeugnissen stecke man in einer unangenehmen Übergangszeit. Es gebe zwar schon allerlei Feedbackkanäle, Gedrucktes sei aber nun mal schwer bis gar nicht zu korrigieren. Das berechtige den Autor quasi dazu, die Augen zuzukneifen, denn wenn ich schon nichts ändern kann, dann will ich auch keine Kritik hören. Aber auch das ist nur eine Ausrede. In Wirklichkeit will ich einfach keine Kritik hören, Punkt.
Gleichzeitig verlange ich seit gut fünfzehn Jahren, dass die Welt die neuen Möglichkeiten des Internets nutzen soll, Unternehmen sich dem Dialog mit Kunden stellen und Autoren ihre Texte nicht einfach an der Autobahnraststätte aussetzen. Wenn sich Theorie und Praxis schon in meinem Kopf nur grußlos begegnen, dann tun sie das vermutlich auch in den Köpfen anderer, und tatsächlich ist das Phänomen in einigen Bereichen zu beobachten, nicht nur in der Textbranche: Unternehmen sträuben sich gegen die Wünsche nach mehr Transparenz und Kundenkontakt, die von Berater- wie Verbraucherseite an sie herangetragen werden. Der Staat war beim Versuch, im Netz den "Dialog mit dem Bürger" aufzunehmen, bisher ungefähr so erfolgreich wie ein durchschnittlich gesprächiger Stein.
Dass man grundsätzlich "im Internet" zu sein hat, ist inzwischen nicht mehr strittig. Der Selbständige verweist darauf, er sei ja schließlich jetzt auch bei Facebook; Unternehmen, Redaktionen und Institutionen deuten auf ihre teuer eingerichteten Kommentarforen. Es geht aber nicht nur darum, eine Kommentarmöglichkeit anzubieten und auf diese Kommentare vielleicht sogar hin und wieder zu reagieren, womöglich sogar nach Feierabend. Es ginge darum, auch einmal anderswo auf Beiträge und Fragen zu antworten, an Diskussionen außerhalb des eigenen Blogs oder Facebookstreams teilzunehmen, generell im Netz ansprechbar und anwesend zu sein, anstatt nur Statements abzusondern. Man kann als Unternehmen wie als Einzelperson im Netz aktiv sein, ohne in irgendeinen produktiven Austausch mit anderen einzutreten. Die Grenze verläuft nicht zwischen Offline- und Netzkultur, zwischen analog und digital oder zwischen Journalisten und Bloggern, sondern zwischen Durchsage und Dialog.
Schon die Vorstellung, in diesen Dialog einzutreten, ist unbeliebt. Die Feedbackkanäle, die das Internet eröffnet, werden vielfach geradezu mit Stolz ignoriert. Die Amazonrezensenten hätten ja gar nicht Literaturwissenschaft studiert wie ordentliche Kritiker, Leserkommentare stammten ganz offensichtlich von Neider- oder Narrenhand, und bei Twitter und Facebook trieben sich Querulanten mit zu viel Freizeit herum. Privat gern vorgebrachte Einwände sind: "Ich will mich nicht verkaufen, ich bin doch kein Staubsaugervertreter", "Wenn ich so was machen wollte, wäre ich nicht Autor/Journalist geworden, sondern gleich ins Marketing gegangen", "Zeit für Selbstvermarktung ist Zeit, die mir beim Schreiben fehlt", "Ich finde das, was mich interessiert, doch auch nicht über Twitter oder Facebook, und das geht im mer noch den meisten Lesern genauso", "Ich will nicht den ganzen Tag im Internet rumhängen, ich habe auch noch ein Leben", "Ich habe noch kein Blog gefunden, in dem ich auch nur lesen will, geschweige denn kommentieren".
Der Journalist Christian Jakubetz schreibt in seinem Blog (blog-cj.de): "Immer, wenn ich auf Seminaren und Veranstaltungen wie ein Staubsaugervertreter mit diesen Geschichten von den neuen Geisteshaltungen hausieren gehe, kann ich die Gegenargumente und Einwände auswendig aufsagen: Das sei kein Journalismus. Da stehe ja doch nur Unsinn drin. Journalismus sei eine ernsthafte Sache und kein unverbindliches Geschnatter. Es sind seit Jahren die gleichen ermüdenden Debatten -- und manchmal wünscht man sich, jemand wäre so ehrlich und würde einfach mal sagen, dass er schlichtweg keine Lust auf das ganze neue Zeug hat." Dieses "keine Lust" greift aber als Erklärung zu kurz, und die stattdessen vorgebrachten Begründungen unterscheiden sich in ihrer Ausredenqualität nicht wesentlich von "Der Hund hat das Internet gefressen". Woher kommt also der Widerstand gegen den Dialog mit Lesern, Bürgern oder Unternehmenskunden?
Zum einen gefährdet die Kontaktaufnahme verschiedene Illusionen, die für das eigene Selbstverständnis wichtig sind. Der Autor Seth Godin kündigte 2010 in seinem Blog seinen Abschied vom traditionellen Buchverlag an. Er wolle nun nicht mehr für seinen Lektor schreiben, sondern für seine Leser. "Ich hatte sehr gern Lektoren als Kunden", schreibt er, "es sind kluge, motivierte und ausgesprochen sympathische Menschen, die sich gern darüber unterhalten, was sie sich wünschen und woran sie glauben. Sehr angenehme Kundschaft." Weil Leser und Autor aber heute nicht mehr durch viele Instanzen und Hierarchieebenen voneinander getrennt seien, sei es nicht mehr zeitgemäß, sich den Lektor oder Verleger als Endkunden vorzustellen. "Ich weiß ja jetzt, wer meine Leser sind."
Leser allerdings sind eine viel heterogenere und weniger autorenähnliche Gruppe als Lektoren oder Redakteure. Sie wollen nicht das, wovon der Autor denkt, sie sollten es wollen. Sie verhalten sich anders, als der Autor annimmt, und womöglich sind sie überhaupt nicht die, für die man sie bisher gehalten hat. Man will es am liebsten gar nicht so genau wissen: "Traditionell stehen Journalisten ihren Lesern eher ablehnend gegenüber und interessieren sich in erster Linie für die Anerkennung durch Mitarbeiter und Vorgesetzte", heißt es in einer lesenswerten Studie der Mediensoziologen Wilson Lowrey und William Anderson.Wilson Lowrey / William Anderson, The Journalist Behind the Curtain. In: Journal of Computer-Mediated Communication, Nr. 3, 2005. jcmc.indiana.edu/vol10/issue3/lowrey.html
Lange Zeit konnte man folgenlos so tun, als sei es wünschenswert, mehr über die Leser herauszufinden. Jetzt, wo das tatsächlich geschieht, mehren sich die Anzeichen des Unbehagens. Vielleicht wurde man schon immer nur von Menschen gelesen, die das Buch nach der Hälfte weggelegt oder es einfach nur gekauft haben, um es ins Regal zu stellen? Vielleicht schreibt man für Schlaue, wird aber in Wirklichkeit hauptsächlich von Doofen gelesen? Wunschdenken darüber, wer die eigenen Leser sind, lässt sich nicht mehr so leicht aufrechterhalten, wenn man den Dialog mit diesen Lesern aufnimmt. Sie sind weder die leichtgläubigen Gimpel, die man sich wünscht, wenn die Quellenlage einmal nicht ganz so ideal ist, noch die erleuchtete Elite, für die man an den anderen Tagen schreibt. Sie sind weder einem selbst noch irgendeinem Idealbild so ähnlich, wie man sie gern hätte.
Autoren und Journalisten vertreten häufig die Meinung, bei Lesungen oder in den Kommentarforen ihrer Publikationen begegneten sie nur einer ganz speziellen, nicht repräsentativen Unter gruppe ihrer Gesamtleserschaft. Das ist zwar vermutlich richtig, aber ob und vor allem in welche Richtung diese Gruppe vom Leserdurchschnitt abweicht, ist völlig offen. Es könnte ebenso gut sein, dass es sich dabei um die interessiertesten, gebildetsten, sympathischsten Leser handelt. Die Nullhypothese muss bis zum Erheben weiterer Daten sein, dass die sichtbaren Leser exakt diejenigen sind, die die betreffende Zeitung kaufen oder den Autor schätzen.
Auch die subjektive Wahrnehmung, man habe sich einwandfrei verständlich gemacht, kann sich als Illusion erweisen, wenn Kritik am Text auftaucht, die auf Missverständnisse zurückgeht. Es ist unangenehm, auf die grundsätzliche Schwierigkeit von Verständigung hingewiesen zu werden. Die Ursache für das Verständnisproblem kann nur beim anderen liegen. Das zeigt sich in der handelsüblichen Ungeduld im Umgang mit Gesprächspartnern, die einen ganz einfachen Sachverhalt partout nicht verstehen wollen, und im Ärger von Aphasikern über die Begriffsstutzigkeit ihrer Mitmenschen. Es erscheint plausibler, dass der andere das Verstehen bewusst verweigert und damit eine Grundvereinbarung bricht, als dass er wirklich nicht versteht, was man glasklar ausgedrückt hat. Je mehr und detailliertere Rückmeldungen man zu einem Text bekommt, desto schwieriger wird es, die Schuld an diesen Missverständnissen allein bei den Lesern zu suchen.
Und gefährdet ist schließlich auch die Illusion vom Rechthaben, wenn man seine Pläne schon während der Arbeit an einem Text einer breiteren Öffentlichkeit vorstellt (einer Öffentlichkeit also, die man nicht bereits im Hinblick auf ihr Wohlwollen, ihre Höflichkeit oder ihre Gleichgültigkeit ausgewählt hat). Die dann womöglich eingehenden Hinweise, was zu einem Thema schon alles geschrieben wurde, sind unter dem Produktivitäts- und Geldverdienaspekt nicht uneingeschränkt hilfreich. Sie stören zum einen die Illusion, man wüsste schon alles Nötige, zum anderen die Vorstellung, man habe etwas Neues zur Diskussion beizutragen, und schließlich verursachen sie zusätzliche Arbeit, denn man müsste den Literaturtipps ja nachgehen. Schmerzlich ist nicht nur, dass es da draußen oft jemanden gibt, der es besser weiß. Die Welt enthält unangenehm viele Menschen, die mindestens genauso schlau sind wie man selbst. Das ist im Netz unübersehbar, und man muss die Augen schon sehr fest zukneifen, um diese Tatsache weiterhin ignorieren zu können.
Ein zweiter Teil des Problems: Die zwischen Autor und Leser operierenden Mittelsmänner sind nicht nur hinderlich, sie schaffen auch Entlastung. Blogger, so hieß es zuletzt in Der Universalcode, einem Handbuch für den Journalismus im digitalen Zeitalter, können "ein authentisches Bild ihres Schreibstils vermitteln. Sie werden nämlich nicht redigiert", und sie können "sich als freie Journalisten auf ihrer eigenen Veröffentlichungsplattform so intensiv und detailliert mit ihren Wunschthemen auseinandersetzen, wie sie wollen. Kein Redakteur steht als Themenabblocker im Weg." Genau diese Vorteile sind gleichzeitig eine Bedrohung. Blogger können sich nicht damit entschuldigen, der Text sei nach Abgabe noch umgeschrieben worden oder Defizite seien den Zeit- und Längenvorgaben der Redaktion geschuldet. Wer die Redaktion weglässt, der muss auch die Verantwortung für seine Arbeit übernehmen. Und die ist gar nicht so leicht zu tragen. Dasselbe gilt für Autoren und ihre Verleger: Wer am Verlag vorbei publiziert, der ist für alles selbst verantwortlich. Er kann weder sagen "Für die hässliche Umschlaggestaltung kann ich nichts" noch "Tut mir leid, dass ihr so viel bezahlen müsst, aber den Preis bestimmt der Verlag".
Drittens sind die Bedenken, was alles passieren könnte, wenn man sich auf einen Dialog einließe, nicht ganz unberechtigt. Gerade Autoren und Journalisten befinden sich, ob sie das nun öffentlich eingestehen oder nicht, in einer Phase großer beruflicher Unsicherheit. Eini ge ehemals zuverlässige Geldverdienmodelle funktionieren jetzt schon nicht mehr, andere nähern sich dem aufgedruckten Verfallsdatum. Die Konkurrenz um die Zeit des Lesers wird schärfer durch die zahlreicher denn je das Internet vollschreibenden Freiwilligen und durch andere Unterhaltungsformen. Und wer nicht die Besorgnis teilt, der Berufsstand könne als solcher überflüssig werden, der möchte doch gern vermeiden, sich innerhalb dieses Berufsstandes als Individuum überflüssig zu machen.
"Gleichzeitig besteht für Freiberufler natürlich die Gefahr, durch das offenherzige Freigeben der eigenen Bezugsquellen (die angezeigten Tweets, denen man folgt) wie auch der Abonnenten (derjenigen, die einem folgen) schnell kopierbar zu werden. Da sind abonnierte RSS-Feeds schon diskreter." So riet der Deutsche Journalisten-Verband DJVDer Twitter-Account des DJV besteht übrigens ausschließlich aus automatisch erzeugten Links auf die eigenen Pressemitteilungen.
unter dem Titel Sollten freie Journalisten auf Twitter aktiv werden? und erntete dafür Spott im Netz. Aber die Befürchtung, größere Transparenz schwäche die Autorität der Journalismusbranche und stärke die Konkurrenz, ist ja nicht aus der Luft gegriffen. Leser profitieren von dieser Transparenz, aber das bedeutet nicht, dass sie auch den hauptberuflichen Journalisten lang- oder auch nur mittelfristig nutzen muss.
Und nicht nur der Kontakt zum Leser gibt Anlass zur Sorge, auch die Kollaboration mit Kollegen, umso mehr, als die Grenzen zwischen Kollegen und Auftraggebern oft unscharf sind. Was, wenn sie mir die Themen klauen? Oder erkennen, woher ich mein Material nehme und dass ich auch nur mit Wasser koche? (Nebenbei gefährdet Transparenz auch die eigenen Illusionen, denn ich sehe nicht nur gern aus wie jemand, der sich das alles ganz allein ausgedacht hat -- schon kurze Zeit nach dem Erscheinen des Texts habe ich meine Quellen vergessen und glaube daran jetzt selbst.) Die Konkurrenz um Aufmerksamkeit, Status und Geld ist real, sowohl innerhalb der Branche als auch in der Abgrenzung zu anderen Akteuren. Dass das Bekenntnis der Journalismusbranche zu Social Media bisher weitgehend rhetorischer Natur geblieben ist, ist eventuell nicht einer Unterschätzung der Möglichkeiten des Internets geschuldet, sondern einer korrekten Einschätzung.
Und schließlich bedeutet die vermehrte Kommunikation mit Lesern und Kollegen auch mehr Arbeit -- nicht so sehr, weil sie an sich Zeit kostet, sondern weil sie Lernprozesse anstößt, die Mühe und Unbehagen verursachen. Die Politikwissenschaftlerin Alexandra Samuel beschreibt in ihrem Blog das durch Social Media ausgelöste Unwohlsein als "referred pain", analog zu körperlichen Schmerzen, deren Ursache nicht an der Stelle zu suchen ist, an der sie auftreten. Die eigentlichen Probleme liegen anderswo, und die Konfrontation mit Social Media bringt das Unbehagen nur ans Licht. "Ihr Social-Media-Team ist machtlos gegen eine überalterte Marke oder Werbung, die den falschen Ton anschlägt; Ihre cleveren Blogbeiträge können nicht über ein von Grund auf mangelhaftes Angebot hinwegtäuschen; Ihre Twitterstrategie ist nicht nachhaltig, wenn Sie nicht bereit sind, Ihre Personalressourcen auszubauen oder umzuverteilen. Die Schmerzen, die der Einstieg in Social Media den Unternehmen bereitet, haben ihre Ursachen größtenteils nicht im Social-Media-Bereich, sondern in den unternehmensinternen Problemen, die durch Social Media ans Licht kommen."
Diese Probleme sind intern wahrscheinlich durchaus bekannt, es würde viel Arbeit bedeuten, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, und auch dort, wo man nichts zu verbergen hat, hat man unter Umständen etwas zu verlieren. Das macht es attraktiv, sich gleichzeitig öffentlich zum Dialog zu bekennen und ihn in der Praxis zu ignorieren. Oder aktiv zu verhindern -- ein Verdacht, den der Journalist Mark Potts in seinem Blog äußert: "Kommentare und andere Formen der Onlinecommunity anzubieten ist keine rocket science, Zeitungen sind damit aber zuverlässig überfordert. Tausende Websites pflegen seit Jahren lebendige, freundliche, gesittete Communities, aber bei Zeitungen reagiert man offenbar allergisch auf die Vorstellung, Leser online zu Wort kommen zu lassen -- und wenn es Interaktionsangebote gibt, sind sie fast immer mangelhaft umgesetzt ... Vielleicht ist es ein tiefersitzendes psychologisches Problem, das sich da widerspiegelt. Die Mitarbeiter der Onlinesparten von Zeitungen fühlen sich nicht wohl mit der Vorstellung, die Leser mitspielen zu lassen, weil das die alte Schlüsselposition der Journalisten im Umgang mit Nachrichten und Information schwächen würde. Deshalb sabotiert man unbewusst die Leserinteraktion, indem man auf einfache Vorkehrungen verzichtet, die die Moderation erleichtern und die Teilnahme für Leser wie Journalisten erfreulich gestalten könnten."recoveringjournalist.typepad.com/recovering_journalist/2008/03/know-comments.html
Ein ähnlich gelagerter Fall von unbewusster Sabotage der öffentlich vertretenen Ziele liegt vielleicht bei den in meiner letzten Kolumne (Nr. 744, Mai 2011) erwähnten Intellektuellen vor, die die Geistfeindlichkeit des Netzes beklagen. Ich schlug naiv vor, die Beschwerdeführer möchten nicht ausgerechnet dort herumlungern, wo ihnen das Niveau der Auseinandersetzung missfällt, es gebe ja genügend Alternativen. Mittlerweile erscheint es mir plausibler, dass schlecht gewartete Grunzkommentarforen gerade auf diese Leser eine gewisse Anziehungskraft ausüben, weil sie die Ansicht bestätigen, die Welt sei außerhalb des eigenen Freundeskreises oder der eigenen Redaktion voller Tölpel, und der Verzicht auf einen Dialog mit dieser Welt weiterhin eine sinnvolle Entscheidung.
Die Abneigung gegen eine Beteiligung am Dialog ist also kein Ergebnis schlichter Trägheit, sondern hat robuste und teilweise sogar rationale Gründe. Das heißt nicht, dass es schon in Ordnung ist, sich weiterhin die Bettdecke über den Kopf zu ziehen. Die Anforderungen an Autoren oder Journalisten verändern sich hin und wieder, genau wie in anderen Berufen. Noch vor nicht allzu langer Zeit galt es als Zumutung, sich am Arbeitsplatz mit einem Computer auseinandersetzen zu müssen. In vielen Branchen ist es üblich, seinen eigenen Schriftverkehr zu erledigen, anstatt die Schreibkraft zum Diktat zu rufen. Wissenschaftler brauchen Fähigkeiten zur Selbstvermarktung und Präsentation, die früher weniger gefragt waren. Zum Ausgleich für die neue Arbeit fallen andere Aufgaben weg, etwa das Pflegen eines eigenen Papierarchivs oder einer Expertenkartei. Von immer geringerem Nutzen ist auch das Wissen, wie man Bibliotheken bedient, diese lustigen analogen Textadventures, und niemand muss dort mehr ganze Tage zubringen auf der Suche nach einem einzigen Zitat.
Vermeidungsverhalten ist selten vollständig irrational, sondern entsteht als Polster um objektiv lästige Lebensbestandteile. Aber wer die Vermeidung dieser unangenehm besetzten Situationen im Berufsleben für eine Lösung hält, der muss auch hinnehmen, dass Kinder lieber im Bett als in der Schule sein wollen. Die Vermeidungsstrategie eignet sich bestenfalls als Übergangslösung, und ihre Tage sind gezählt. Peter Horrocks, seit Anfang 2010 Chef der BBC- Sparte "Global News", forderte bei seinem Amtsantritt in einer internen Publikation seine Mitarbeiter dazu auf, mehr Gebrauch von Social Media zu machen und verstärkt auf kollaborative Praktiken zu setzen: "Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, dann vernachlässigen Sie Ihre Arbeit. Es ist keine optionale Zusatzleistung ... Wenn Ihnen das nicht zusagt, wenn diese Veränderungen Sie überfordern oder diese Arbeitsweise nichts für Sie ist, dann sollten Sie sich eine andere Beschäftigung suchen, denn das kommt auf jeden Fall auf Sie zu. Sie können den Wandel nicht aufhalten."
Ich habe die Idee zu diesem Text nur privat mit Menschen besprochen, bei denen mit wenig Widerspruch zu rechnen war. Die Fragen, die sich beim Schreiben ergaben, habe ich nicht öffentlich geäußert, obwohl ich sie bei Google+ ohne Aufwand genau dem Personenkreis hätte stellen können, der vermutlich das eine oder andere beizutragen gehabt hätte. Wenn Sie den Text lesen, ist es zu spät für Korrekturen, Einwände und Ergänzungen. Ich kann nicht versprechen, dass ich es beim nächsten Mal anders machen werde. Aber immerhin ist mir klar, dass mein Widerwille nichts mit irgendwelchen Defiziten des Internets zu tun hat, mit Zeitmangel oder praktischen Erwägungen. Er entspringt allein meinem Unbehagen darüber, dass schlauere Menschen als ich existieren, und ich habe vor, mir in Zukunft andere Bewältigungsmechanismen zuzulegen. Alkohol wäre vielleicht eine Möglichkeit.Aus therapeutischen Gründen sollten Sie mir Ihre Meinung zu diesem Text mitteilen, ob wohl ich lieber nichts davon wissen würde. Sie können das zum Beispiel bei Google+ tun, wenn Sie das Risiko eingehen möchten, dass auch Ihre Meinungsäußerung wieder zum Ge genstand der Kommentare Dritter wird. Ansonsten böten sich E-Mail oder Twitter an. Alle Kontaktdaten finden sie unter kathrinpassig.kulturindustrie.com