Christoph Schneider
Christoph Schneider / Mittelweg 36
Eurozine
Mittelweg 36
Mittelweg 36 5/2011
2011-10-25
Täter ohne Eigenschaften?
Über die Tragweite sozialpsychologischer Modelle in der Holocaust-Forschung
"[...] denn was einen Gesunden von einem Geisteskranken unterscheidet, ist doch gerade, dass der Gesunde alle Geisteskrankheiten hat, und der Geisteskranke nur eine!"
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
1. Die Dämonie der Normalität
Die rhetorische Figur der "Ordinary Men", erstmals von Henry V. Dicks in seiner psychiatrischen Studie Licensed Mass MurderHenry V. Dicks, Licensed Mass Murder. A socio-psychological Study of some SS Killers, London 1972, S. 231. eher beiläufig verwendet, wurde vor allem dank Christopher Brownings herausragendem Buch über das Polizeibataillon 101 zum prominentesten Idiom der neuesten Täterforschung. Im Geleitschutz von sozialpsychologischen Erklärungsansätzen wurde mit den "ganz normalen Männern" eine empirisch belegte Handlungstheorie genozidaler Aktionen in die Holocaust-Forschung eingeführt, die jedoch auf eine tendenziell "ahistorisch-anthropologisierende Erklärung"Gerhard Paul, "Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung", in: ders. (Hrsg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, Göttingen 2003, S. 13-90, hier: S. 38. des Mordens hinauslief. Der zentrale Begriff "Normalität" wurde dabei zur fixen anthropologischen Selbstverständlichkeit, die, obwohl sie den Diskurs maßgeblich strukturierte, weitgehend unhinterfragt blieb.
Normalität ist jedoch längst nicht so normal, wie man zunächst glauben möchte. Im Folgenden soll es daher darum gehen, die anthropologischen Basisannahmen einer Figur wie der der "ganz normalen Männer " und der damit verflochtenen sozialpsychologischen Theorien zu prüfen. Im nächsten Abschnitt wird zunächst besprochen, inwiefern sozialpsychologische Modelle kultursoziologisch gegengelesen und ergänzt werden können. Dabei wird vor allem der Unterschied zwischen "Anpassung " und "performativer Partizipation" herausgearbeitet. Der darauffolgende Abschnitt fragt, was normale Männer eigentlich sind und welche Implikationen sich ergeben, wenn Normalität einerseits im Sinne statistischer "Durchschnittlichkeit" und andererseits als Referenzwert des "Gesunden" verstanden wird. Abschließend wird die Schnittstelle zwischen Gruppe und Organisation thematisiert, während sich die Sozialpsychologie hauptsächlich auf die Überlappungszone von Gruppe und Individuum konzentriert.
An dieser Stelle soll zunächst einleitend auf die Anthropologie der "Normalität" eingegangen werden. Der wesentliche Befund einer sozialpsychologisch operierenden Täterforschung lässt sich in der Aussage verdichten, man dürfe die Täter weder "dämonisieren" noch "pathologisieren ", oder -- beides zusammengefasst -- man solle eine "dämonisierende Pathologisierung"Alexander Kochinka, Jürgen Straub, "'Dämonologie' oder psychologisches Denken?", in: Analyse & Kritik. Zeitschrift für Sozialwissenschaften, 20. Jg., 1 (1998), S. 95-122, hier: S. 97. vermeiden. Elisabeth Brainin und Samy Teicher halten gleichlautend fest, eine dämonisierende Pathologisierung rücke das Geschehen "in eine mystische Grauzone",Elisabeth Brainin, Samy Teicher, "Vom Gedanken zur Tat. Psychoanalytische Überlegungen zu Über-Ich, Verantwortung und Aggressionsbarrieren", in: Werner Bohleber, John S. Kafka (Hrsg.), Antisemitismus, Bielefeld 1992, S. 75-91, hier: S. 79. die mit "normalen" Individuen nichts gemein habe.
"Dämonen", um es vorwegzunehmen, gibt es nicht. Es gibt allerdings eine wandelbare Metaphorik des Dämonischen, auch wenn der vormalige Gespensterglaube seine Glaubwürdigkeit längst eingebüßt hat. Wird die "Entdämonisierung" von NS-Tätern gefordert, so kann damit wohl kaum die Austreibung "echter" Dämonen gemeint sein. Wird indes vermittels der Rhetorik von den ganz normalen Männern die Entdämonisierung von NS-Tätern eingeleitet, so gestaltet sich dieser verwissenschaftlichte Exorzismus freilich wesentlich schwieriger als zunächst behauptet: Zum einen allein deshalb, weil Normalität und die Figur des "normalen Durchschnittsmenschen" längst Bestandteil der modernen Metaphorik des Dämonischen waren, bevor die normalen Männer in der NS-Forschung überhaupt die Bühne des Diskurses betraten. Die Figur der normalen Männer gehört zur Dämonologie der Moderne, da ihnen die Bedrohlichkeit des Insignifikanten und damit des Unerkennbaren anhaftet. Die ganz normalen Männer sind eine beunruhigende Kippfigur, deren Eigenschaftslosigkeit insofern das Charakteristikum des "Unheimlichen" erfüllt, indem sie gleichzeitig Vertrautheit und Fremdheit vermittelt.Vgl. Sigmund Freud, "Das Unheimliche", in: ders., Psychologische Schriften. Studienausgabe Bd. IV, Frankfurt am Main 1970, S. 241 ff.
Was die Rede von den ganz normalen Männern leistet, lässt sich unter diesem Gesichtspunkt als Signifikation des Insignifikanten beschreiben. Ernesto Laclau prägte für Semantiken, die eine Bezeichnung des Unbezeichenbaren vornehmen, den Begriff des "leeren Signifikanten".Ernesto Laclau, Emanzipation und Differenz, Wien 2007, S. 65. Als ein solcher leerer Signifikant erzeugt der Topos von den ganz normalen Männern im NS-Diskurs eine Leerstelle. Ihr kommt eine bedeutsame Funktion in unserem Bemühen zu, eine einigermaßen beruhigende Antwort auf die Frage zu formulieren, wer "die Täter" denn eigentlich gewesen sind. Die "normalen Männer" sagen uns gleichzeitig "alle!" (taten es, hätten es tun können), und "die da!" (taten es, hätten es tun können). Faktisch lassen sich die Täter damit weder der einen noch der anderen Seite zuordnen, woraus folgt, dass der Topos eine offene Projektionsfläche zwischen einer tatsächlich benennbaren Tätergruppe und der Suggestion erzeugt, "jedermann" sei zu Derartigem in der Lage. Da sie das in Wahrheit Unspezifische mit einem spezifizierenden Attribut belegen, stehen die ganz normalen Männer freilich für etwas anderes als "jedermann". Sie figurieren als ein semantischer Platzhalter zwischen "wir alle" und "die da". So wird einerseits dem verständlichen Verlangen nach einer identifizierenden Kennzeichnung der Täter entsprochen, andererseits aber ein präzisierbares Definitionskriterium verweigert. Insofern liefert der Topos von den ganz normalen Männern eine paradoxe Devianzformel, die das gesellschaftliche Inklusionsideal der Normalität bemerkenswerterweise zum Kriterium moralischer Exklusion erhebt.
Offenkundig vermag die Figur der ganz normalen Männer den Täterkreis also nur schwerlich seines "dämonischen" Charakters zu entledigen. Und wenn sich die "Entdämonisierung" von NS-Tätern auf sozialpsychologische Theorie stützt, so sollte zum Zweiten zumindest daran erinnert werden, dass das griechische daimon den Zuteiler von Schicksal bezeichnet.Vgl. Werner Wunderlich, "Dämonen, Monster, Fabelwesen. Eine kleine Einführung in Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe", in: Ulrich Müller, Werner Wunderlich (Hrsg.), Dämonen, Monster, Fabelwesen, St. Gallen 1999, S. 11-38, hier: S. 18. Betrachtet man die -- im ursprünglich literarischen Sinne -- Dramaturgie sozialpsychologischer Experimente wie insbesondere diejenigen Stanley Milgrams und Philip Zimbardos, so liegt es nahe, Inszenierungen dieser Art als Schicksals-Performanzen aufzufassen, die vom daimon des Versuchsleiters in Szene gesetzt wurden. Vermittels sozialpsychologischer Theorieleihgaben werden die Dämonen unter der Hand aus den Individuen hinaus-, dafür aber umso nachdrücklicher in das Soziale hineingetrieben. Philip Zimbardo selbst lässt daran keinen Zweifel. Dass er seinem letzten Buch den Titel The Lucifer Effect und den Untertitel How good people turn evil gegeben hat, ist durchaus programmatisch zu verstehen.Philip Zimbardo, The Lucifer Effect. How good people turn evil, London 2007. Die Anthropologie sozialpsychologischer Experimente stützt sich auf die ebenso grundsätzliche wie zumeist implizit bleibende Annahme, Menschen seien "an sich" gut (wobei "das Gute" annähernd äquivalent dem "Gesunden" ist, das seinerseits auf Konzeptionen des "Normalen" verweist). "Das Böse" entstehe dagegen in und durch gesellschaftliche Dynamiken, wie sie im Experiment simuliert werden, sprich: good (sic!) people turn evil.
Nach Zimbardos eigenem Verständnis ist das Stanford Prison Experiment weniger als Experiment, sondern vielmehr als eine dramaturgische Inszenierung zu betrachten. Die performative Komposition von Zimbardos Gefängnis-Experiment folgt derjenigen eines Verführungsdramas -- wenn man will: eines diabolisch infiltrierten theatrum mundi -, das sich nicht begreifen lässt, wenn es auf psychologistische Trivialformeln wie "Konformität" oder "Rollenadaption" reduziert wird. Unter Verweis auf sozialpsychologische Theorie die Entdämonisierung von NS Tätern einzufordern, verkennt den Umstand, dass sich Experimente dieser Art als Metamorphosen lesen lassen. Ihre Dramaturgie und Rollenästhetik verwandelt als durchschnittlich ausgewiesene Menschen, womit sich eine im Grunde viel tiefgreifendere "Dämonisierung" ereignet als diejenige, die angesprochen ist, wenn einzelne Personen als "dämonisch" im Sinne von "krankhaft bösartig" charakterisiert werden. Streicht Jan Philipp Reemtsma unter Verweis auf Fjodor Dostojewskis Die Dämonen den Zusammenhang von Gewalt- und Gruppenapotheose heraus, so beleuchtet dieser Nexus, dass der eigentliche Ort des Dämonischen nicht in der Binnensphäre des Individuums zu erfassen ist, sondern nur in einem sich selbst dynamisierenden Interaktions- und Zeichensystem.Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 500 f. Das Dämonische nimmt Gestalt nicht in, sondern zwischen den Individuen an. Es ist nicht statisch, sondern kybernetisch, es pendelt zwischen individualattribuierbarer Handlungsträgerschaft und Autoprozessualität, es beschreibt nicht Charaktereigenschaften, sondern Interaktions- und Kommunikationsdynamiken. Unter diesem Gesichtspunkt sind sozialpsychologische Experimente, weit davon entfernt, Entdämonisierung zu betreiben, vielmehr ihrerseits als Dämonisierungsinszenierungen zu lesen. Dämonisierung findet statt, wo Individuen zunehmend von Kräften geleitet werden, die sich nicht mehr lokalisieren lassen, das heißt in Situationen, in denen eine präzise Zuschreibung von Handlungsvollmacht unmöglich ist. Fasst man sozialpsychologische Experimente in ihrem dramaturgischen Gesamtkontext ins Auge -- Versuchsleiter und Szenerie inbegriffen -, wird eine solche diffuse und nichtsdestotrotz wirkungsmächtige Sozialdynamik sichtbar, die sich attributiv kaum noch rückrechnen lässt. Würde man die Experimente von Milgram und Zimbardo als "echte" Theaterstücke auf die Bühne stellen, käme niemand im Publikum auf die Idee, es handle sich um ein Drama der Entdämonisierung, das einen unverstellten Blick auf die menschliche Natur vermittelt. Die einzig denkbare, über sozialpsychologische Wissensbestände eingeleitete Entdämonisierung bestünde darin, bestimmte menschliche Verhaltensweisen auf statistisch berechenbare und damit wissenschaftlich domestizierte Wahrscheinlichkeiten kausal zuzurechnen.
2. Das Soziale in der Petrischale:
Macht und Gewalt im psychologischen Experiment
Die Kontroverse zwischen Brownings "ganz normalen Männern"Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen, Reinbek bei Hamburg 2007. und Daniel Goldhagens "ganz gewöhnlichen Deutschen"Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. lässt sich besser verstehen, nimmt man die jeweilige Rezeption sozialpsychologischer Theorie beider Autoren unter die Lupe. Browning favorisiert eine eher konventionelle Lesart und stellt Rollenanpassung und Konformität in den Vordergrund, während Goldhagen entgegnet, ein rekursiver Zirkel gegenseitiger Anpassung verschleiere den Umstand, dass irgendwer das Geschehene schließlich gewollt haben müsse. Brownings Position gibt sozialen Mechanismen den Vorrang, Goldhagen will Kategorien wie "Sinn" und "Intentionalität" nicht unterschlagen wissen. Ihm wiederum wurde vorgeworfen, den situativen Kontext der Mordeinheiten nicht ausreichend zu berücksichtigen.Thomas Sandkühler, Hans-Walter Schmuhl, "Milgram für Historiker. Reichweite und Grenzen einer Übertragung des Milgram-Experiments auf den Nationalsozialismus", in: Analyse & Kritik. Zeitschrift für Sozialwissenschaften, 20. Jg., 1 (1998), S. 3-26, hier: S. 8.
Die Schwachstelle in Brownings Argumentationsansatz stammt aus der Sozialpsychologie selbst, die dazu neigt, ihre Experimente im Sinne eines "quasiphysikalischen Resultantemodells"Klaus Holzkamp, "Kritische Psychologie", in: Dieter Frey, Siegfried Greif (Hrsg.), Sozialpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen, Hemsbach 1997, S. 75-80, hier: S. 78. zu interpretieren, um damit menschliches Handeln auf Reagieren zu reduzieren. Die (Sozial-) Psychologie operiert in aller Regel mit Standards, die insofern naturwissenschaftlichen Prämissen folgen, als sie objektivierte Umweltbedingungen ansetzt (oder vielmehr: eine "objektive" Umwelt im Experiment inaktiert), an denen sich Individuen dann vermittels ihrer jeweiligen Anpassungsleistungen reaktiv orientieren. Dass derartige Modelle adaptiv-reaktiven Verhaltens eine Kategorie wie "Sinn" für die Handlungstheorie ausblenden, hat Goldhagen zu Recht moniert. Sein Fehler liegt indes darin, das Subjekt als einen weitgehend autonomen Akteur auf die soziale Bühne zu stellen.
Dennoch ist eine Brücke zwischen den Positionen Goldhagens und Brownings denkbar. Browning räumt nämlich ein, Goldhagen habe mit dem Verweis auf die Kultur des Hasses und der Gewalt zumindest die richtige Frage gestellt.Browning, Ganz normale Männer, S. 273. Diesem Befund pflichten trotz der Welle schärfster Kritik, die Goldhagen entgegenschlug, etliche Historiker bei.Vgl. Ulrich Herbert, "Die richtige Frage", in: Julius H. Schoeps (Hrsg.), Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg 1996, S. 214-224. Dass die Frage nach dem Stellenwert von "Kultur" tatsächlich bereits in den richtungsweisenden sozialpsychologischen Experimenten anklingt, möchte ich im Folgenden zeigen. Zimbardo hatte im Stanford Prison Experiment bekanntermaßen seine Versuchspersonen in zwei Gruppen eingeteilt, in "Gefängniswärter" und "Gefangene". Die Situation im Mikrokosmos des Experiments wurde dank dieses Rollendifferenzials dramaturgisch vereindeutigt, weshalb man meinen könnte, die entsprechenden Rollen seien regelrecht überdeterminiert. Fixiert wurde jedoch nur, wer man jeweils ist, nicht jedoch, was man tatsächlich zu tun hat. Die Identitätsebene wird festgesetzt, die Handlungsebene bleibt relativ offen. Die Rollen sind also, was in aller Regel übersehen wird, gleichzeitig geschlossen und offen. Einerseits definiert die Geschlossenheit der vorgegebenen Rollenstereotype die Differenz "Wärter -- Gefangene". Sie ist dem Raum des Kontingenten und damit etwaiger Infragestellung oder Modifikation entzogen. So rigide die Rollenstruktur durch den Versuchsleiter präzisiert war, so unbestimmt waren andererseits Instruktionen, wie die Rollen in der Folge ausgestaltet werden sollten. Zwar wissen die "Gefängniswärter", dass sie als solche eine organisatorisch gesicherte Machtposition innehaben, doch verfügen sie nicht über institutionell fixierte Anweisungen, wo ihre Rollenbefugnisse beginnen und vor allem, wo sie enden. Das Situationsdesign souffliert den Akteuren vielmehr, was sie alles tun könnten. Während der äußere organisatorische Rahmen im Imperativ steht, ist das interaktionistische Binnengefüge im Konjunktiv verfasst.
Man sollte also nicht den Fehler begehen, die Rollenadaption mit der Rollengestaltung zu verwechseln, um in der Konsequenz dieser Verwechslung das soziale Geschehen in derartigen Situationen dann ausschließlich anhand von Passivkonstruktionen wie "situative Anpassungsbereitschaft", "Konformität" und "Autorität" zu beschreiben. Die Lücke im Erklärungspotential sozialpsychologisch ausgerichteter Ansätze lässt sich also folgendermaßen verorten: Auf die Frage, woher er wusste, wie man sich als Gefängniswärter zu verhalten habe, gab einer der als Wärter eingesetzten Studenten in Zimbardos Gefängnis-Experiment zu Protokoll, er habe dieses Wissen aus Theaterstücken und Filmen bezogen.Philip Zimbardo u. a., "Psychologie der Gefangenschaft, Deprivation, Macht und Pathologie ", in: Frank Neubacher (Hrsg.), Sozialpsychologische Experimente in der Kriminologie, Münster 2002, S. 69-91, hier: S. 74. Mit einem Wort: Es bedarf eines mimetisch reproduzierbaren Repertoires an kulturellem Sinn, um derartige Gruppendynamiken überhaupt freizusetzen.
Sozialpsychologische Erklärungsmuster sind also in kritischer Absicht zunächst daran zu erinnern, dass Akteure den Handlungssituationen nicht einfach passiv ausgesetzt sind. Sie treten vielmehr als aktive Gestalter ihrer situativen Umwelt auf.Leonard S. Newman, "Beyond Situationism. The Social Psychology of Genocide and Mass Killing", in: Helgard Kramer (Hrsg.), NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006, S. 107-119, hier: S. 115. Entscheidender ist jedoch der weitere Kritikpunkt, dass die eigentliche Rollenübernahme nicht nur über variierende Gruppendynamiken (zum Beispiel Angst vor Ausschluss, Anerkennung durch andere), sondern auch über das "Bühnendekor" und die ausgehändigten Artefakte erfolgt (Gefängniseinrichtung, Schlagstöcke, Uniformen, Häftlingskleidung etc.). Sie animieren als ein konstitutiver Performanzfundus die Akteure zu einer Art vorformatiertem "Stegreiftheater". Dessen "Skript" ist ihnen bereits aus anderen Kontexten und kulturellen Quellen geläufig, weshalb es von dort in den situativen Handlungsrahmen des Experiments importiert und entsprechend mimetisch inaktiert wird.Günter Bierbrauer, "Das Stanford-Gefängnisexperiment und seine Folgen", in: Dieter Frey, Siegfried Greif (Hrsg.), Sozialpsychologie, München 1997, S. 429-433, hier: S. 432.
Auch die Resultate des Milgram-Experiments fallen eindeutig und, gelinde gesagt, ernüchternd aus. Um Milgrams Ergebnisse für eine Erklärung von Realsituationen fruchtbar zu machen, sollte man jedoch einige Punkte beachten, die sich hinter seinen allseits bekannten Generalthesen eher verbergen. Was den Unterschied zwischen Autorität und Konformität anlangt, so hält Milgram fest, Konformität beruhe auf Imitation, Gehorsam dagegen nicht.Stanley Milgram, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 135. Aus dieser These ergeben sich zwei Probleme: Erstens wäre zu fragen, weshalb Autorität nichts mit Imitation zu tun haben soll. Man muss "Imitation" schon in einem sehr engen Sinne auf trivialste Kopierprozesse beschränken, um Milgrams Behauptung aufrechtzuerhalten. Schlüssiger ist es, davon auszugehen, dass auch Autoritätsgläubigkeit in hohem Maße mimetisch-imitativ erlernt und inaktiert wird. Das jedoch erfordert die Grundannahme, dass sich Imitation nicht nur auf die Nachahmung des direkten Handelns anderer Beteiligter richtet (Imitation, was der andere tut), sondern dass gesamte Handlungskontexte, soziale Skripte, weitläufige Interaktionssequenzen mitsamt deren symbolischen Codierungen mimetisch-imitativ erlernt und reproduziert werden. Es ist nicht einzusehen, weshalb Autorität und Gehorsam -- abgesehen von Grenzfällen puren Zwangs -- davon ausgenommen sein sollten. Milgram beharrt indes darauf, sein Experiment vorrangig über das Muster Autorität und Gehorsam auszuwerten. Diese Präferenz resultiert daraus, dass Milgram, ausgehend von explizit biologischen Prämissen, Autorität als eine evolutionäre Errungenschaft ansieht, durch die sich ein Überlebensvorteil für sozial organisierte Spezies ergibt. Erst hierarchisierte Strukturen gestatten es, gemeinsame Handlungen effektiv zu orchestrieren. Diese Prämisse verweist auf ein zweites Problem, einen blinden Fleck in Milgrams Beobachtungen: Während Zimbardo, der offenbar ein großer Verehrer des italienischen Dramatikers Luigi Pirandello ist,Vgl. Süddeutsche Zeitung, 01. 08. 2007, unter http://www.sueddeutsche.de/wissen/39/324904/text/. ein feines Gespür für den inszenatorischen Charakter seines eigenen Experiments besitzt und erkennt, selbst ein Teil des Experiments zu sein, ist Milgram auf diesem Auge blind.So weist Hans Robert Jauß darauf hin, bei Pirandello werde dem Zuschauer gegenüber "die Technik der Inszenierung nicht verborgen, um die naturalistische Illusion gesellschaftlicher Determination aufzubrechen". Zum besseren Verständnis von Zimbardos Ansatz ist dies ein sehr vielsagender Begleitkommentar; s. Hans Robert Jauß, "Soziologischer und ästhetischer Rollenbegriff", in: Odo Marquard, Karlheinz Stierle (Hrsg.), Poetik und Hermeneutik VIII. Identität, München 1979, S. 599-607, hier: S. 604. Für ihn bestätigt das Milgram-Experiment eine "natürliche" Tatsache. Um diesen Naturalismus aufrechtzuerhalten, wird ausgeblendet, dass ein situativer Handlungskontext weder im Experiment noch gar in der Realität vom Himmel fällt oder der Natur entwächst. Zwar bestätigt das Milgram-Experiment, dass willkürlich ausgewählte Probanden unter bestimmten Bedingungen zu Folter bereit sind. Es erklärt jedoch nicht, warum und wie Menschen überhaupt soziale Bedingungen schaffen, unter denen andere zu foltern bereit sind. Zwar wird in Betracht gezogen, dass bestimmte Veränderungen des situativen Arrangements (zum Beispiel räumlicher Abstand zwischen Täter und Opfer) das Verhalten maßgeblich bestimmen. Ausgeklammert bleibt aber, dass das Situationsdesign und insbesondere dessen Einbettung in transsituative Strukturen als solches Menschenwerk ist, das so oder auch anders hätte ausfallen können. Milgram erklärt das Verhalten seiner Versuchspersonen, das Handeln und Verhalten des Versuchsleiters erklärt er nicht. Insofern handelt er sich den stichhaltigen Einwand etwa Dan Millers ein, er habe den performativen Gesamtkontext in der abschließenden Beurteilung seiner Experimente außer Acht gelassen.Dan Miller, "Milgram Redux: Obedience and Disobedience in Authority Relations", in: Norman K. Denzin (Hrsg.), Studies in Symbolic Action. A Research Annual, London 1986, S. 77-105. Damit wird bei Milgram in aller Deutlichkeit das grundsätzliche Problem sichtbar, das Psychologen im Umgang mit dem Faktor "Kultur" haben. Selbst Psychologen, die sich wie Mark SchallerVgl. Mark Schaller, Christian S. Crandall (Hrsg.), The Psychological Foundations of Culture, London 2004; vgl. Mark Schaller, "Parasites, Behavioral Defenses, and the Social Psychological Mechanisms through which Cultures are evoked", in: Psychological Inquiry, 17, 2 (2006), S. 96-101. bemühen, ihre Forschungen kulturtheoretisch zu öffnen, definieren kulturellen Sinn als Anpassungsleistung eines Organismus an bestimmte Umweltbedingungen, ohne in Betracht zu ziehen, dass Kultur nicht (nur) als Anpassungsleistung an eine Umwelt, sondern mindestens gleichermaßen selbst als Umwelt zu begreifen ist. Die rekursive Anpassung von Kultur an KulturVgl. Paul Watzlawick, "Münchhausens Zopf und Wittgensteins Leiter", in: ders., Münchhausens Zopf oder Psychotherapie und Wirklichkeit, München 1997, S. 166-191. irritiert die naturwissenschaftliche Idealkonzeption eines sozialpsychologischen Experiments, denn spätestens ab diesem Punkt müssten der Experimentator selbst und die von ihm kreierte Szenerie als integrale Bestandteile des Experiments reflektiert werden.
Thomas Sandkühler und Hans-Walter Schmuhl haben zu Recht darauf hingewiesen, man dürfe aus dem Milgram-Experiment nicht den Schluss ziehen, autoritätsinduziertes Verhalten als Ausdruck starken Zwangs zu verstehen. Vielmehr sei es -- gerade in Hinsicht auf die Täterforschung -- geboten, "die Konstituierung von Autorität und Gehorsam als Prozess, als dynamische Interaktion zwischen Befehlsgeber und Befehlsempfänger zu begreifen, die gleichermaßen auf individuellen und kollektiven Dispositionen wie auf situativen Bedingungen beruht".Sandkühler, Schmuhl, Milgram für Historiker, S. 20. Um dieser Forderung gerecht zu werden, ist es unabdingbar, die dramaturgische Dimension sozialpsychologischer Experimente ausdrücklich zu würdigen. Schon Browning hatte trotz seines eigenen, tendenziell behavioristischen AnsatzesVgl. Paul, "Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und 'ganz gewöhnlichen' Deutschen ", S. 40. in Auseinandersetzung mit Goldhagen eingeräumt, man dürfe auf der Mikroebene des tatsächlichen Gewaltvollzugs die "Kultur der Grausamkeit" nicht unterschätzen.Vgl. Browning, Ganz normale Männer, S. 273. Wenn auf der Mikroebene ansetzende Studien zum NS-Genozid einerseits mit sozialpsychologischen Modellen operieren, um andererseits ebenso auf Faktoren wie "Verrohung" und den brutalisierenden Korpsgeist militärischer Verbände zu verweisen, so muss daran erinnert werden, dass eine solche Kultur der Dehumanisierung bereits als dramaturgisches Leitmotiv in den experimentellen Performanzen der Sozialpsychologie angelegt ist.
Auch "Autorität" ist ein solches Leitmotiv. Bei Zimbardo entsteht Gruppenautorität, das heißt eine Autoritätsgläubigkeit gegenüber "der Gruppe" (deren Teil jeder Einzelne ist), die zu einem, mit Heinrich Popitz gesprochen, diffusen, aber höchst wirkungsmächtigen "Autoritäts-Zirkel" führt, "in dem jeder gefangen ist und den jeder in Gang hält".Heinrich Popitz, "Realitätsverlust in Gruppen", in: ders., Soziale Normen, Frankfurt am Main 2006, S. 175-186, hier: S. 183. Bei Milgram scheint die Position der Autorität präziser verortet zu sein, nämlich in der Person des Versuchsleiters als Instruktor. Man sollte jedoch nicht übersehen, dass die Autorität des Versuchsleiters ohne den situativen Kontext -- wenn man will: ohne den Inszenierungsrahmen -- inexistent wäre. Die "Person" des Autoritätsträgers ist, um es nach Niklas Luhmann zu formulieren, eine simplifizierende Identifikationsleistung, die es zur Regelung sozialer Interaktion gestattet, möglichst eindeutige Zurechnungen vorzunehmen.Vgl. Niklas Luhmann, "Die Form 'Person'", in: ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden 2005, S. 137-148, hier: S. 141. An wen oder was richtet sich daher die Gehorsamsbereitschaft in Milgrams Experiment? Gilt sie der Autorität der Person oder der Autorität der Situation?
Um die Theater-Metaphorik probehalber weiterzutreiben, ließe sich fragen, was einen "echten" Schauspieler eigentlich motiviert, die ihm angetragene Rolle auf der Bühne zu übernehmen. Ist es die Angst vor der Autorität des Regisseurs oder vielleicht die Angst vor dem Publikum? Vermutlich funktioniert Theater nicht ohne eine gehörige Portion Autorität, die, ganz unangesehen des zu gebenden Stücks, für jede Inszenierung gilt. Versuchten wir das Zustandekommen einer Theateraufführung anhand sozialpsychologischer Standardargumente und des Topos von den ganz normalen Männern zu interpretieren, so läge folgende Überlegung nahe: Bei Schauspielern handelt es sich um "ganz normale " Personen, deren Verhalten sich aus Konformitätszwängen, Rollenanpassung und Gehorsamsbereitschaft erklärt. Sicherlich ist aber auch der Kontrollblick des Publikums für das Bühnengeschehen von Bedeutung sowie die institutionelle Einbettung des Ensembles in die Gesamtorganisation des Theaters und anderer Kulturförderungseinrichtungen.
Doch ließe sich auch die These vertreten, das Verhalten der Schauspieler resultiere aus dem Skript des zu spielenden Stücks, gewissermaßen aus -- die Metapher ist hier unvermeidlich -- dessen "Geist". Und dieser Geist ist seinerseits keineswegs aus einem ebenso dürren wie ubiquitären Sozialregulativ herauszulesen, das als "Konformitätszwang" bezeichnet wird. Vor allem Zimbardos Gefängnis-Experiment zeigt, dass die Teilnehmer zwar gewissen Zwängen ausgesetzt sind, jedoch längst nicht nur den gruppendynamischen Imperativen, die sich aus bestimmten Machtdifferenzialen ergeben. Tatsächlich genügen sie einer weniger sanktionsbewehrten als vielmehr dramaturgischen Komplettierungsaufforderung, die darin besteht, ein vorgegebenes, allerdings seinerseits interpretierbares Skript zur theatral-performativen Vollendung zu führen. Hier haben wir es also nicht mit simpler Rollenanpassung zu tun, sondern mit einem Fall performativer Partizipation, die der Aufforderung nachkommt, den latenten, aber gleichwohl unmissverständlichen Imperativ zur Ausgestaltung einer Rolle zu erfüllen.
Mithin stellt sich die Frage, welches Verständnis "sozialer Rollen" über den Umweg sozialpsychologischer Experimente in die Täterforschung Einzug hielt, um sich dort in der sozialanthropologischen Figur der "normalen Männer" zu verdichten. Die Konzeption von "Rolle", deren sich die Täterforschung bedient, unterstellt in geradezu klassisch rollentheoretischer Weise eine Art von "Verdopplung" der Person, bei der über "Rollendistanz" oder über Markierungen wie "öffentlich-privat" die Grenze zwischen Person und Rolle stets erhalten bleibt. Nach diesem Verständnis schlüpfen wir phasenweise in Rollen, um sie dann wieder abzustreifen. Ein solches Rollenkonzept basiert auf der Vorstellung eines identitätsstabilen Persönlichkeitskerns, der jenseits aller Rollen intakt bleibt. Unter dieser Beschreibung erscheint die Figur der "normalen Männer" als Inbegriff einer soziologischen Rollenkonzeption, die für die bürgerliche Gesellschaft scharfe Demarkationslinien postuliert. Mag die Rolle, die jemand ausfüllt, noch so abstrus, verbrecherisch, wahnsinnig etc. sein, sie räumt dem jeweiligen Rollenträger stets die Option ein, nach der Exekution seiner Rollenfunktion etwa innerhalb eines sozialpathologischen Exzesses wieder als braver Familienvater nach Hause zu gehen. "Normalität" fungiert in diesem Sinne als Chiffre für ein personales, gleichsam vorsoziales Kontinuum hinter den jeweiligen Rollenepisoden.
Wird die Separierung zwischen Rolle und Person vermittels der diskutierten Schlüsselbegriffe wie Autorität, Konformität und Anpassung stabilisiert, so belehrt eine dramaturgisch orientierte Gegenlektüre sozialpsychologischer Experimente über die Unmöglichkeit einer solchen Grenzkontrolle. Zwar "spielen" die Akteure Rollen, denen eine grenzstabilisierende Distanzierungsfunktion zukommt, doch öffnen sich, wie wir gesehen haben, liminale Übergangs- und Transgressionsräume, in denen sich die Scheidelinie zwischen personaler Identität und situativem Kontext, zwischen den Subjekten und den objektiven Gegebenheiten, zwischen dem Selbst und den symbolischen Codierungen des sozialen Raumes auflöst. Wo liegen, fragt Helmuth Plessner, "die Grenzen der Verkleidung, wann geht sie in Verwandlung über?"Helmuth Plessner, Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie, Frankfurt am Main 1974, S. 178. Anders formuliert: Rollen werden pausenlos in Identitäten rückübersetzt (und vice versa), weshalb es ausgesprochen fraglich ist, ob in diesem permanenten Infektionsverhältnis eine Art von personalem "Bilanzschnitt" angesetzt werden kann, der definitiv entscheidet, was als "Rolle" und was als "Identität" zu gelten habe.
Die eigentliche Schwachstelle sozialpsychologischer Modelle ist allerdings an einem etwas anders gelagerten Ort auszumachen. Sozialpsychologische Handlungsmodelle leiden an einem verschleppten Selbstwiderspruch, da sie einerseits die sozialkonstruktivistische Prämisse beinhalten, wonach der jeweils gegebene soziale Interaktionskontext maßgeblich für menschliches Handeln sei, um dann andererseits an der gesellschaftsimmunen Individualfigur des "normalen Subjekts" festzuhalten. Daraus ergibt sich folgendes Problem: Die im Grunde "ganz normalen Männer" begehen die entsetzlichsten Verbrechen, wobei Faktoren wie "Gruppendruck", "Konformität", "Rollenanpassung" etc. ausschlaggebend sein sollen. Später kehren sie zu ihren Familien und in ihren Alltag als Arbeitnehmer in zivilen Berufen zurück, wo sie wieder sein dürfen, was sie eigentlich doch die ganze Zeit über waren, nämlich ganz normale Durchschnittsmenschen. Allein die gewaltfördernden Codes und situationsspezifischen Normen sollen sie gewissermaßen phasenweise aus ihrer ursprünglichen persönlichen Normalität herausgedrängt haben. Der Fehler dieser Argumentation liegt nun darin, dass einerseits zur Erklärung des abweichenden Verhaltens hochgradig interaktionsvariable Erklärungsmuster mobilisiert werden, während andererseits der Zustand alltäglicher Normalität stillschweigend als Resultat normaler charakterlicher Dispositionen erscheint, wie sie dem Individuum persönlich und jenseits seiner sozialen Verfasstheit anhaften. Die Ätiologie der Devianz wird kollektiviert, diejenige der Normalität dagegen individualisiert. Die Subjekte bleiben "normal", die "Situation" beziehungsweise der "Handlungskontext" werden gleichsam pathologisiert, ohne dass die Frage aufkommt, woher und geschaffen von wem die situationsabhängigen Handlungsrahmen eigentlich stammen. Nähme sich dieser sozialpsychologische Diskurs beim Wort, so müssten doch auch die Zustände so genannter Normalität als das Resultat bestimmter Anpassungsleistungen an gegebene Gruppenprozesse aufgefasst werden. Damit würde allerdings hinfällig, weiterhin von Normalität als einer Individualeigenschaft zu reden. Dann gäbe es keine "(a)normalen Männer ", sondern nur noch "(a)normale Situationen".
3. Was sind "ganz normale Männer"?
"Ganz normale Männer" sind zunächst das begriffliche Resultat einer Klassifikation, die einem binären Code -- normal/anormal -- unterliegt. Hierbei handelt es sich, wie mit Luhmann festzuhalten ist, um eine gewählte Unterscheidung.Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, S. 68 ff. Insofern sollte der Frage, ob die Täter normale Männer oder Psychopathen gewesen sind, die grundlegendere Frage vorhergehen, ob das gewählte Unterscheidungsschema, das heißt beide Seiten der Unterscheidung, der Sache überhaupt gerecht wird. Zwar stiegen die normalen Männer zur diskursprägenden Figur der Täterforschung auf, doch blieb die Diskursgeschichte der Normalität ausgeblendet. Dabei speiste sich das so genannte Normale, wissenshistorisch ein Kind des 19. Jahrhunderts, bereits zu seiner Geburtsstunde aus zwei alles andere als trennscharf geschiedenen Quellen: einmal aus dem Kunstprodukt des statistischen Durchschnitts, zum anderen aus Idealkonzeptionen des Gesunden. Ian Hacking kommt in seiner Studie The Taming of Chance zu dem Schluss: "The normal stands indifferently for what is typical, the unenthusiastic objective average, but it also stands for what has been, good health, and for what shall be, our chosen destiny. That is why the benign and sterile-sounding word 'normal' has become one of the most powerful ideological tools of the twentieth century."Ian Hacking, The Taming of Chance, Cambridge 1990, S. 169; vgl. John Carson, "Abnormal Minds and Ordinary People. American Psychologists discover the Normal", in: Jürgen Link u. a. (Hrsg.), 'Normalität' im Diskursnetz soziologischer Begriffe, Heidelberg 2003, S. 85-99, hier: S. 93. Genau diese von Hacking angesprochene wechselseitige Vermischung von Durchschnittlichkeit mit Gesundheit finden wir in der Konzeption der normalen Männer.
Mit einer Figur wie derjenigen der ganz normalen Männer verhält es sich ähnlich wie mit dem berühmten "Mann von der Straße". Man weiß, dass es ihn "irgendwo da draußen" gibt, hat ihn dennoch niemals gesehen. Begreift man die normalen Männer als Durchschnittsmenschen, so sei an Ralf Dahrendorfs Warnung erinnert, die Soziologie solle den "hypothetischen Charakters ihres künstlichen Menschens"Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Opladen 1977, S. 93. nicht vergessen. Das Problematische besteht dabei nicht allein darin, Durchschnittlichkeit in Normalität umzumünzen, sondern eine solche Normalität zusätzlich mit dem Idealmaß (psychischer) Gesundheit zu verquicken. Was in solchen Kurzschlüssen geschieht, ließe sich als die Hypostasierung statistischer Konstrukte durch Wirklichkeitspostulate bezeichnen. Schlichter formuliert: Das Durchschnittliche definiert das Gesunde, das Gesunde ist das Normale und das Normale das Durchschnittliche. Mit diesem Zirkel verändert sich der Bedeutungsgehalt von Durchschnittlichkeit und Normalität. Die "normalen Männer" werden unversehens zu einer eigenen Spezies. Doch taugt weder Normalität noch Durchschnittlichkeit als spezifizierende Klassifikation, ergibt sich deren vermeintlicher Erklärungswert doch gerade aus einer Emphatik des Unspezifischen.
Harald Welzer argumentiert, wir hätten die Täter lange dort gesucht, wo wir selbst nicht seien, woraus sich -- durchaus nachvollziehbar -- ein psychohygienischer Entlastungseffekt ergebe. Deshalb plädiert er für eine Annäherung an die Täter, die sie "grundlegend als nicht verschieden von uns wahrnimmt und konzipiert".Harald Welzer, "Wer waren die Täter? Anmerkungen zur Täterforschung aus sozialpsychologischer Sicht", in: Gerhard Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, Göttingen 2003, S. 237-253, hier: S. 238. Beidem ist grundsätzlich nicht zu widersprechen, dennoch ist eine Korrektur nötig. Die Täter im von Welzer eingeforderten Sinne als grundlegend ununterschieden von uns wahrzunehmen, ist sicherlich ein ernstzunehmender Ausgangspunkt. Doch drängt sich die Frage auf, ob wir uns im Rahmen einer zeitgenössischen Kultur, deren Fixsterne Individualität und Unverwechselbarkeit sind, tatsächlich selbst als normale Durchschnittsmenschen thematisieren. Lauert hier nicht die Gefahr, die Täter gerade dank des Labels "ganz normale Männer" genau dorthin zu verfrachten, wo sie nach Welzers Überzeugung nicht hingehören, in denjenigen symbolischen Raum nämlich, der den Anderen vorbehalten ist? Damit würden die vormals dämonisierten NS-Verbrecher, die sich der deutschen Gesellschaft gleichsam von außen bemächtigt haben sollen,Vgl. Bernhard Giesen, Triumph and Trauma, Boulder 2004. durch ein neues Phantom in den Binnenraum des Gesellschaftlichen versetzt.
Um den notorisch fragwürdigen Status der Normalität zu stützen, werden gewöhnlich soziografische Eckdaten mit bestimmten Charaktereigenschaften verklammert. Beispielsweise stellt Browning fest: "Nach Alter, regionaler und sozialer Herkunft waren die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 alles andere als geeignetes 'Material' zur Heranbildung zukünftiger Massenmörder."Browning, Ganz normale Männer, S. 214. Ohne Brownings herausragende Leistungen schmälern zu wollen, suggeriert dieser Satz, die Eignung zum Massenmörder lasse sich anhand von Indikatoren wie der "Schuhgröße" ermitteln. Kein Wunder, wenn dann erstaunt registriert wird, dass sich diesbezüglich keine Korrelate beobachten lassen. Auch Welzer konstatiert: "Wenn es zutreffend ist, dass die Täter aus allen Schichten, Milieus und Regionen kamen, wenn wir in den Sozialisationsumfeldern alle möglichen Konstellationen vorfinden, kurz: wenn wir bei den Täterinnen und Tätern nichts Besonderes in ihrer Persönlichkeit finden, dann muss die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie das alles möglich war, bei den Prozessen und Situationen ansetzen, in denen die Täter sich dazu entschieden haben, zu Mördern zu werden."Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main 2005, S. 43. Welzers methodische Forderung, das analytische Augenmerk auf Prozesse und Situationen zu richten, kann nur unterstrichen werden. Problematisch ist allerdings seine eher beiläufig mitgeteilte Schlussfolgerung: Rechtfertigt der soziografische Umstand, dass die Täter "aus allen Schichten, Milieus und Regionen kamen", die starke Behauptung, es könne "nichts Besonderes in ihrer Persönlichkeit" gefunden werden? Offenbar unterstellt Welzer, soziografische Klassifikationen seien grundsätzlich persönlichkeitskonstituierend. Da sich aber keine soziografischen Besonderheiten im Sinne statistischer Häufungen abzeichnen, kann demzufolge auch keine korrelierende Häufung bestimmter Persönlichkeitsprofile vorliegen, sprich: Die Täter waren wohl gewöhnliche Durchschnittsmenschen. Man fühlt sich an das erkenntnistheoretische Gleichnis vom Fischer erinnert, der ein Netz mit fünf Zentimeter Maschenweite zum Fischfang nutzt, um angesichts des Fanges dann zu behaupten: "Es gibt keine Fische, die kleiner als fünf Zentimeter sind."Vgl. Hans Poser, Wissenschaftstheorie. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2001, S. 18. Völlig außen vor bleibt die doch naheliegende Erwägung, dass sich charakterliche Dispositionen, wie sie in bestimmten Situationen zu ethischem oder eben unethischem Handeln führen, auf einem Niveau sozialer Interaktion ausbilden, das mit grobmaschigen Kategorien wie "Schicht", "Milieu" oder "Region" nicht zu erschließen ist. So stellt sich die Frage, warum etwas, das in diesem Sinne nicht abbildbar ist, als homogenisierte "Normalität" ausgewiesen wird. Hier tritt die Virtualität des Normalen (und Pathologischen) überdeutlich zutage und bekräftigt Hans Mommsens warnenden Hinweis auf die deutlich eingeschränkte Reichweite biografischer Zugriffe.Hans Mommsen, "Probleme der Täterforschung", in: Helgard Kramer (Hrsg.), NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006, S. 425-433, hier: S. 426. Sollte die "Persönlichkeit" der Täter von Bedeutung sein, so ist die Erfassung entsprechender Daten ausgesprochen problematisch. Ist die Persönlichkeit der Täter dagegen bedeutungslos, so sollte man die empirische Unzugänglichkeit personaler Faktoren nicht mit einer Verlegenheitsfloskel wie "Normalität" kaschieren.
Die Kritik an der Figur der normalen Männer würde ihr Ziel verfehlen, ginge es um eine pauschale Diskreditierung sozialpsychologischer Ansätze. Was demgegenüber zur Debatte steht, ist ein semantisches Problem: Wozu dient die Semantik des Normalen innerhalb des Täter-Diskurses? Verwenden Gesellschaften, wie Claude Lévi-Strauss ausgewiesen hat, Zeichen, deren Aufgabe es ist, die Abwesenheit von Sinn abzuwehren, ohne selbst festgelegter Sinn zu sein, so erfüllt die Rede von den ganz normalen Männern womöglich genau diese Funktion: Indem sie die Charaktereigenschaft der Eigenschaftslosigkeit behauptet, erzeugt sie einen "symbolischen Nullwert".Claude Lévi-Strauss, "Einleitung in das Werk von Marcel Mauss", in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie. Bd. 1, München 1974, S. 7-41, hier: S. 40. Die "normalen Männer" sind eine Figur, mit Hilfe derer das Subjekt als Bezugspunkt möglicher Erklärungen angesteuert wird, um es im gleichen Atemzug zu neutralisieren. Aus Sicht der Gesellschaft wird über diesen Topos das Problem exzessiver Gewalt auf das Subjekt zurückprojiziert. Doch zeigt sich hier die Krux sozialpsychologischer Modelle in ihrer Applikation auf die sozialhistorische Wirklichkeit. Zwar soll die individuelle Person der Täter über den Hinweis auf die Dominanz situativer Zwänge ausgeschlossen werden, doch muss dazu ebenjenes Subjekt adressiert werden, das die soziale Welt zusammenhält, wenn und insoweit diese als ein Handlungs- und Kooperationszusammenhang gedacht wird. Der sozialpsychologische Diskurs führt damit unweigerlich zu einer subjektzentrierten und paradoxen Deutung der Ereignisse: Er führt das Subjekt ein, um es im Medium der angebotenen Erklärungen wieder auszuschließen (oder auch vice versa).
Unterzieht man den Topos der "normalen Männer" der hier vorgeschlagenen dekonstruktivistischen Lektüre, ist der Punkt lokalisierbar, an dem sich der Täter-Diskurs in einen Selbstwiderspruch verstrickt. Der Umschlag erfolgt dort, wo statistische Durchschnittlichkeits- und Normalitätskonzeptionen als tatsächliche charakterliche Spezifika der Subjekte auf eben jene rückattribuiert werden. Dabei führt dieser Diskurs stillschweigend die Übereinkunft mit, das Pathologische konkretisiere sich individuell, bleibe also in seiner Erscheinung vereinzelt. Dem widerspricht die medizinsoziologische Selbstverständlichkeit, wonach das Normale und das Pathologische gesellschaftliche Konstruktionen seien, die sich zu einer starren bipolaren Unterscheidung funktional erst verfestigen, sobald es um ein zentrales Definitionskriterium des Gesunden und Kranken geht, also um die Entscheidung über soziale Leistungsfähigkeit.Johannes Siegrist, Medizinische Soziologie, München 2005. Es mag gegen die Gepflogenheiten des akademischen Diskurses verstoßen, so leidenschaftlich und normativ wie Arno Gruen zu argumentieren, der die These vertritt, dass die Bereitschaft zu angepasster gesellschaftlicher Funktionalität, nicht aber die Befähigung zum eigenen moralischen Urteil über den Status des psychisch Gesunden oder Kranken entscheidet.Arno Gruen, Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: Eine grundlegende Theorie zur menschlichen Destruktivität, München 1990. Gleichwohl ist festzuhalten, dass sich die Rede von den ganz normalen Männern auf eine an sich kontingente Festlegung psychischer Gesundheit stützt, der sich die soziologische Analyse nicht vorbehaltlos anschließen sollte. Die medizinisch-psychologische Praxis braucht nach Robert Castel "Profile der Normalität",Robert Castel, "Der Markt der Seele", in: Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hrsg.), Die erloschene Seele. Disziplin, Geschichte, Kunst, Mythos, Berlin 1988, S. 38-50, hier: S. 44 (kursiv im Original). die am zu heilenden Individuum ausgerichtet sind. Solche Normalitätsstandards dienen als Eichmaß für Reparaturarbeiten an der Psyche. Doch ist fraglich, ob ein Normalitätsbegriff dieses Zuschnitts zur Analyse soziohistorischer Phänomene herangezogen werden kann.
4. Macht, Gewalt und Mimesis: Die Gruppe in der Organisation
Ali Banuazizi und Siamak Movahedi haben vier Jahre nach dem Stanford-Prison-Experiment das Rekrutierungsverfahren Zimbardos in einer eigenen Untersuchung nachgestellt. Dazu legten sie ebenfalls einer Gruppe von College-Studenten (nur solchen, die von Zimbardos Experiment nichts wussten) in etwa den selben Katalog an Informationen vor, der Zimbardos Versuchspersonen zugänglich war (zum Beispiel: "College students needed for psychological study of prison life." [...] "You will have to give your consent to be under surveillance, to be harrassed, and have your civil rights curtailed for the entire period of the experiment."Ali Banuazizi, Siamak Movahedi, "Interpersonal Dynamics in a Simulated Prison. A Methodological Analysis", in: American Psychologist, 2 (1975), S. 152-160, hier: S. 157.). Danach wurden die "Versuchspersonen" zusätzlich befragt, welchen Zweck ihrer Meinung nach das Experiment wohl verfolge ("What would you say the experimenter is trying to prove?"Ebd., S. 157.). Allein aufgrund der Informationen des Auswahlbogens waren stattliche 81% der Versuchspersonen in spe in der Lage, die Hypothese des Experiments akkurat wiederzugeben (Kommentar einer der Versuchspersonen: "He is trying to find out if anybody would fit into either of the two roles" [Wärter/Gefangene, C.S.]Ebd., S. 157.). Das heißt, ohne am Experiment teilgenommen zu haben, war den Versuchspersonen bereits im Vorfeld klar, was in der Folge "gespielt" werden sollte. Anschließend wurden die Probanden um ihre Einschätzung gebeten, wie sie selbst und andere Teilnehmer ihre jeweiligen Rollen erfüllen würden. Die Ergebnisse lauteten folgendermaßen (nur Männer, gerundete Zahlen): Es wurde in der Fremdeinschätzung vermutet, dass 85% der als "Wärter" eingeteilten Männer zu einem "repressiven und feindseligen" Stil in ihrer Rollengestaltung neigen, während nur 10% der Männer in ihrer Rolle als Wärter "fair und nachsichtig" agieren würden. Bezüglich der Selbsteinschätzung gaben 48% der Männer an, sie selbst würden ihre Rolle ebenfalls repressiv und feindselig gestalten, während 33% vermuteten, sie würden als Wärter fair und nachsichtig sein. Was das Rollenstereotyp des "Gefangenen" anlangt, lautete die Fremdeinschätzung, dass nur 23% der Gefangenen zur Rebellion neigen, während 38% sich passiv unterwerfen würden. Die Selbsteinschätzung ergab, dass geringe 16% der Männer von sich selbst behaupteten, rebellisch zu reagieren, während 19% angaben, sich der Situation passiv zu ergeben.
Die Männer (Selbst- wie Fremdeinschätzung) glaubten demnach, dass sie als Wärter eher zu einer repressiv-feindseligen als zu einer fairen und nachsichtigen Rollengestaltung neigen würden. Im Gegensatz zu den hohen Werten des repressiv-feindseligen Wärter-Stereotyps fällt die geringe Bereitschaft ins Auge, als Gefangene zur Rebellion bereit zu sein. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die befragten Personen gemäß ihrer Selbst- und Fremdeinschätzung die Rollenstereotype "Wärter" und "Gefangener" bereits vor der eigentlichen "heißen" performativen Phase verinnerlicht hatten und ihr künftiges Verhalten in der Experimentalsituation relativ eindeutig beurteilten, obwohl sie wussten, zu welchem Verhalten sie das Experiment bringen sollte. Offensichtlich bewirkte ihr Wissen keine reflexive Distanzierung von der auf Dehumanisierung zielen den Intention des geplanten Experiments, vielmehr blieb der performative Master-Frame in den Köpfen der befragten Personen fest verankert.
Dieser Befund spricht dafür, dass Menschen über performative Dispositionen verfügen, in denen sich bestimmte Handlungsskripte abgelagert finden, die situativ dann mobilisierbar sind. Zudem eröffnen die Resultate von Banuazizi und Movahedi eine interessante Perspektive auf das Verhältnis von Organisation und Gruppe. Gewöhnlich konzentrieren sich sozialpsychologische Experimente (und die auf sie zurückgreifende NS-Täterforschung) auf die Schnittstelle von Individuum und Gruppe. Mindestens genauso bedeutsam ist jedoch die Schnittstelle zwischen Gruppe und Organisation. Sven Reichardt hat am Beispiel der italienischen squadre d'azione und der SA nach dem "faschistischen Habitus" und der "Subkultur der Gewalt" gefragt.Sven Reichardt, "Praxeologie und Faschismus. Gewalt und Gemeinschaft als Elemente eines praxeologischen Faschismusbegriffs", in: Karl H. Hörning, Julia Reuter (Hrsg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 129-153; vgl. ders., "Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung", in: Sozial-Geschichte, 22, 3 (2007), S. 43-65. Wo und wie wird "Kultur", so ließe sich in der Spur seines Ansatzes weiterfragen, in Organisationen eingespeist, das heißt, wo erfolgt eine praxeologisch zu interpretierende Vermittlung zwischen Organisationen und kulturell bereitgestellten Handlungsskripten?
Das folgende Modell ist sicherlich unterhistorisiert, auch beschreibt es lediglich eine Facette der Interaktion zwischen Organisation und Gruppe, schließlich ist es auch nur auf diejenigen Praktiken exzessiver Gewalt anwendbar, die, außerhalb der nationalsozialistischen Vernichtungslager, im direkten Nahkontakt zwischen Mordkommandos und ihren Opfern vollzogen wurden.Vgl. Jürgen Matthäus, "Die Beteiligung der Ordnungspolizei am Holocaust", in: Wolf Kaiser (Hrsg.), Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden, Berlin, München 2002, S.166-185; vgl. Klaus-Michael Mallmann, "'Mensch, ich feiere heut'den tausendsten Genickschuss'. Die Sicherheitspolizei und die Shoah inWestgalizien", in: Gerhard Paul (Hrsg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen 2003, S. 109-136. In jedem Fall ließe sich der Befund Banuazizis und Movahedis aber unter organisationssoziologischer Hinsicht wie folgt akzentuieren: Bestimmte Sozialdynamiken, die Gewalttätigkeiten bis zum Extrem ungezügelter Eskalation generieren, können nicht nur als Resultat der Interaktion zwischen Gruppe und Individuum verstanden werden, vielmehr kann die Dachorganisation bereits im Vorfeld der eigentlichen Interaktionsabläufe bestimmte performative Pfade symbolisch vorcodieren, an denen sich Gruppenstrukturen orientieren werden.
Es wurde weiter oben auf eine Besonderheit von Zimbardos Experiment verwiesen, die darin besteht, einen rigiden und übernormierten Situationsrahmen anzulegen (Gefängnis -- Wärter -- Gefangene), um gleichzeitig im Binnenraum des situativen Arrangements erhebliche Freiräume offen zu lassen, wie der Master-Frame tatsächlich umzusetzen sei. Was die Schnittstelle von Gruppe und Organisation angeht, beschreibt Zimbardos Experiment so betrachtet den Prozess einer intendierten Radikalisierung, wie sie über das Programm (fremd)gesteuerter Selbststeuerung erklärbar ist. Aus der Forschungspraxis mit Trainingsgruppen ("T-Gruppen") ist bekannt, dass die größten gruppendynamischen Potentiale geweckt werden, wenn ein fester Außenrahmen im Binnenraum mit der Forderung kombiniert wird: "tut innerhalb dieses Rahmens, was ihr wollt".Vgl. Karl Schattenhofer, "Gruppendynamik als Praxis der Selbststeuerung in sozialen Systemen", in: Karl Schattenhofer, Wolfgang Weigand (Hrsg.), Die Dynamik der Selbststeuerung, Opladen 1998, S. 39-38, hier: S. 33. Wird Freiwilligkeit mit einem Imperativ belegt, erhöhen sich Eskalationsrisiken. Einem derartigen Verfahren kann es gelingen, bestimmte Anfangsintentionen in einen Prozess der Selbstorganisation so einzuschleifen,Günther Ortmann, Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung, Frankfurt am Main 2003, S. 14 f. dass eindeutige Zurechnungspfade letztendlich diffundieren. Die paradoxe Konstruktion imperativer Freiwilligkeit verwischt also normative Markierungen. Löst sich die Grenze zwischen dem Verbotenen und Erlaubten, zwischen dem Erwünschten und Unerwünschten innerhalb eines Handlungsraumes auf, orientieren sich die Akteure nach Günther Ortmann aber selbst in modernen ausdifferenzierten Organisationstypen an einem einfachen, in der Praxis jedoch hochkomplexen Prinzip: Sie setzen auf Mimesis.Ebd., S. 146 f. Mimesis lässt sich freilich weder im Sinne bewusst-reflexiver Intentionalität verstehen noch über das Programm eines behavioristischen Automatismus deuten. Ihr Machtpotential als praxeologisches Handlungsprinzip liegt gerade darin, dass sie sich solchen Dichotomien entzieht.
Befragt man die am Holocaust beteiligten NS-Organisationen organisationssoziologisch darauf, welche nicht nur modernen, sondern annähernd "postmodernen" Organisationsprinzipien in ihnen wirksam waren, so drängt sich insbesondere das Modell des Netzwerkes auf.Vgl. Gerald D. Feldman, Wolfgang Seibel (Hrsg.), Networks of Nazi Persecution. Bureaucracy, Business, and the Organization of the Holocaust, New York 2005. Auch empfiehlt sich die in der neueren Organisationstheorie prominente "projektbasierte Arbeitsgruppe" als ein geeignetes Deutungsinstrument, soll die binnenorganisatorische Spezifität gewisser Aspekte des Holocaust namhaft gemacht werden. "Teams" und "Projektgruppen" stellen ein hybrides Schnittstellenaggregat dar, das eine (teil)autonome, situationsbezogen mobile und flexible Operationsweise gestattet.Helga Manthey, "Menschliche Organisationen und verorganisierte Menschen. Zur Emotionalisierung von Arbeitsbeziehungen", in: Alexander Meschnig, Mathias Stuhr (Hrsg.), Arbeit als Lebensstil, Frankfurt am Main 2003, S. 109-132. Deren Machtpotential liegt nicht zuletzt in einer Doppelcodierung, die sowohl mit formalen Befehlsstrukturen wie mit informell emotionalisierten und mimetisch reproduzierten Gruppen- und Gemeinschaftsanforderungen operiert, um die Abgrenzung zwischen Person und Organisation sukzessive zu unterhöhlen. Die solchermaßen freigesetzten mimetisch dynamisierten Radikalisierungsprozesse, wie sie sich auch in Zimbardos Experiment abzeichneten, sind allerdings über das Standardargument "Konformität" kaum aufzuschlüsseln. Es erweist sich, wie angemerkt, als unterkomplex.
Die bisherige Täterforschung hat sozialpsychologische Modelle in erster Linie herangezogen, um die Schnittstelle zwischen Individuum und Gruppe/Situation zu analysieren. Dass die Schnittstelle zwischen Gruppe/Situation und Organisation in der Sozialpsychologie unterthematisiert blieb, ist insofern verständlich, als mit dem Einbezug der Organisationsebene (sprich: des Experimentators und des Experimentaldesigns) die positivistische Illusion einer "objektiven" Laborsituation durch kybernetische Effekte untergraben würde. Gleichwohl zeigt insbesondere Zimbardos Experiment, wie gerade im Überlappungsraum von Organisations- und Gruppenebene Prozesse initiiert werden können, die es verdienen, als intendierte Radikalisierung bezeichnet zu werden. Angesichts dieses Phänomens sind die sattsam bekannten Dichotomien der Holocaust-Forschung, sind die Gegenüberstellungen von "Intentionalismus" und "Funktionalismus" oder "Plan" und "Eskalation", nicht einmal auf der noch einigermaßen überschaubaren situationsbezogenen Mikroebene ein methodisch verlässlicher Wegweiser.Vgl. Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2004, S. 569.
5. Ausblick
Lautete Brownings englischer Originaltitel noch "Ordinary Men", so wurde daraus in der deutschen Übersetzung "Ganz normale Männer" (während "totally ordinary" im Englischen schon hart an die Ironiegrenze rücken würde). Auch bei Goldhagen sind es in der deutschen Ausgabe "Ganz gewöhnliche Deutsche", die uns im Untertitel begegnen. Welzer schließlich führt titelgebend ebenso die "Ganz normalen Menschen" an, die zu Massenmördern wurden. Warum bedarf die Normalität im deutschen Diskurs der Steigerungsform?
Die Rhetorik von den normalen Männern ist insofern beunruhigend, als sie zu verstehen gibt: "eigentlich jeder könnte es sein". Ganz und normal stehen so gesehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Floskeln wie "ist doch ganz klar" oder "das ist doch ganz einfach" werden umgangssprachlich verwendet, um Irritationen auszuschließen. Auch im Falle der ganz normalen Männer wirkt das "ganz" wie ein semantisches Sedativum, das über die Beunruhigung durch die behauptete Normalität der Männer wieder hinwegspielt.
Dieser wohlige "Grusel des Ungewohnt-Gewohnten" gründet indes auf unsicherem theoretischen Boden. So bleibt zu resümieren, dass die Figur der "ganz normalen Männer" an einer doppelten Aporie scheitert. Wenn einerseits Handlungen durch situative Kontexte gesteuert werden, dann gilt dies nicht nur für eskalative Situationen extremer Gewalt, sondern auch für Zustände alltäglicher Wirklichkeit. Damit jedoch wird "Normalität" als Individualeigenschaft ad absurdum geführt. Sollten andererseits situative Kontexte dazu auffordern, bestimmte destruktiv-gewaltaffine "innere Anteile" oder "Ego-States"Vgl. John G. Watkins, Helen H. Watkins, Ego-States. Theorie und Therapie, Heidelberg 2003. zu mobilisieren, dann waren solche Dispositionen bereits zuvor schon im Individuum angelegt. Dann allerdings kann schon vor dem Exzess nicht umstandslos von "charakterlicher Normalität" ausgegangen werden. Die Sozialanthropologie der normalen Männer tradiert letzten Endes das Ideal, Menschen besäßen eine Identität, wie sie dann durch Faktoren wie "Rollen" oder "Situationen" moduliert wird. Die Täterforschung sollte von dieser Konzeption Abstand nehmen und mit dem Gedanken spielen, dass Subjekte womöglich grundsätzlich über multiple Identitäten verfügen. Von hier aus könnte man darüber nachdenken, ob solche Zustände hybrider Identität paradoxerweise vielleicht sogar die Bezeichnung "normal" verdienen könnten.