Osteuropa
Osteuropa
2011-03-21
Heftbeschreibung Osteuropa 1/2011
Petr Fischer
Die paradoxe Ikone des Neuen
Amerika als reale Virtualität
Amerika und Europa sind zwei Seiten einer Medaille. Amerika steht für den Glauben der westlichen Zivilisation an das Individuum und für die Möglichkeit des Neuanfangs, Europa für das Kollektiv und die Bewahrung seiner Geschichte. Europa sieht in den USA nur den Prototypen der Wegwerf- und Junk-Food-Gesellschaft. Die Amerikanisierung sei an der Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts schuld. Tatsächlich aber verfügt die amerikanische Gesellschaft über soziale Bindemittel, die Europa dringend benötigt.Philipp Gassert
Erzählungen vom Ende
Rückblick und Ausblick auf das amerikanische Jahrhundert
Wieder einmal wird das Ende des "amerikanischen Jahrhunderts" beschworen. Dieser Topos hat selbst eine lange Geschichte. Zu oft erwies sich allerdings, dass dabei kurzfristige Entwicklungen mit langfristigen Trends verwechselt wurden. Zwar ist das neokonservative Projekt der Bush-Regierung mit ihren Weltvorherrschaftsplänen grandios gescheitert. Doch das auf liberalen Werten, Institutionen und Integration basierende "amerikanische Jahrhundert" in der Tradition Wilsons und Franklin Roosevelts hat keineswegs an Attraktivität verloren.Janusz Bugajski
Atlantizismus ohne Orientierung
Die USA, Obama und Europa
Europa hat in der amerikanischen Außenpolitik an Relevanz verloren. Die Legitimationsgrundlage der transatlantischen Beziehungen aus dem Ost-West-Konflikt, gemeinsam Freiheit, Sicherheit, Demokratie und Wohlstand zu schaffen, ist brüchig geworden. In Politik und Öffentlichkeit auf beiden Seiten des Atlantiks bestimmen Irritationen über den jeweils anderen das Bild. Selbst die Ostmitteleuropäer sind durch Obamas neue Russland-Politik und die Unklarheit darüber, ob die USA weiter an ihrer Seite stehen, verunsichert. Es bedarf einer neuen Vision zur Revitalisierung der transatlantischen Beziehungen. Doch es mangelt an inhaltichen Gemeinsamkeiten und dem politischen Personal, das bereit wäre, sich dafür zu engagieren.Adam Walaszek
"El dorado" und die Wirklichkeit
Die Emigration aus Polen in die USA vor 1914
Von 1860 bis 1914 verließen zehn Millionen Menschen Polen. 3,6 Millionen emigrierten dauerhaft. Ab 1880 wurde Amerika zu einem der attraktivsten Ziele. Die Auswanderer träumten von sozialem Aufstieg und besserem Leben. Die Wirklichkeit war eine andere. Ohne Ausbildung landeten die Polen in der Industrie und im Bergbau. Sie waren gezwungen, einfachste und härteste Arbeiten zu verrichten. Am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft erfuhren die Einwanderer Ablehnung und Ausgrenzung. Sie reagierten mit dem Aufbau einer eigenen Lebenswelt aus Vereinen und Verbänden. Und sie konstituierten sich als eigene ethnische Gruppe: als Polonia in Amerika.Donald Pienkos
Von Patrioten und Präsidenten
Amerikas Polonia und die US-Außenpolitik seit 1917
Über Organisationen wie den Polish American Congress haben die amerikanischen Polen seit dem Ersten Weltkrieg versucht, die Außenpolitik der USA zu beeinflussen und im Kongress für ein unabhängiges, freies Polen lobbyiert. Das Verhältnis zur US-Regierung war nicht immer spannungsfrei. Belastet wurde es durch den "Verrat" an Polen in Jalta 1945. Präsidenten und Amtsanwärter versuchten die polnische Gemeinschaft als Wähler zu instrumentalisieren. Umgekehrt nutzte die Polonia ihr Gewicht, um die Politik der USA -- etwa zur Solidarnosc oder dem Nato-Beitritt -- zu beeinflussen. Angesichts des Bedeutungsverlustes und zunehmender Assimilation muss die Polonia eine neue Agenda entwickeln.Anna D. Jaroszynska-Kirchmann
Wechselnde Identitäten
Die amerikanische Polonia und ihre Mission
Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in den USA eine polnische Gemeinschaft mit ethnischer Identität. Zwar wandelte sich diese Identität nach 1918 zunehmend von "polnisch" zu "polnischstämmig-amerikanisch", doch blieb die Polonia im Zweiten Weltkrieg und während des Ost-West-Konflikts ihrer doppelten Mission treu: ein unabhängiges, freies Polen zu erreichen und das eigene kulturelle und sprachliche Erbe zu bewahren. Heute ist die Polonia gut integriert, fragmentiert und transnational, ihre Ethnizität weitgehend symbolisch. Doch das Potential, "dritte Partei" in den polnisch-amerikanischen Beziehungen zu sein, ist weiterhin vorhanden.Peter Steiner
Ansichten eines Emigranten
Vom "American Dream" zur "American Experience"
Der Traum von Amerika hatte für die meisten Emigranten eine ganz materielle Grundlage. Nicht Neugier, sondern schiere Not trieb sie an. Wer aus der kommunistischen Tschechoslowakei kam, suchte etwas anderes: eigene Erfahrungen mit einem Land, das in der Heimat verboten und bewundert wurde.Tomas Venclova
Ich ersticke
Litauen auf nationalistischen Irrwegen
Wir leben in einer Zeit des Skeptizismus, des freien, kritischen Denkens und des globalen Denkens. In Litauen jedoch beklagt die geistige Führungsriege Euro-Kollaboration und Indoktrination im Zeichen der Globalisierung. Sie predigt Intoleranz gegen Minderheiten und verschanzt sich hinter einer Mauer aus Fremdenhass und vermeintlichem Nationalstolz. Polen, Juden, Russen und neuerdings auch die USA gelten als feindliche Mächte. Diese Haltung ist auch ein Erbe der Sowjetzeit, als den Menschen eine primitive Mentalität eingeimpft wurde, die Xenophobie und Hass auf "Kosmopoliten" beinhaltete.Milan Hauner
Ideal und Idealisierung
Die Tschechen und die USA
Durch die Gründung der Tschechoslowakischen Republik auf amerikanischem Boden verband die Tschechen mit den USA ein besonderes Verhältnis. Der tschechoslowakische Staatsaufbau orientierte sich an den Prinzipien der amerikanischen Demokratie. In den welthistorischen Zäsuren von 1918, 1945 und 1989 spielten die USA eine wichtige Rolle. Doch Václav Havels Versuch, diese Tradition im Namen des "Neuen Europas" fortzuschreiben, ist gescheitert. Die USA haben nun andere weltpolitische Prioritäten. Und in Ostmitteleuropa ist eine schrittweise Abkehr von einer unkritischen Idealisierung Amerikas zu beobachten.Josef Skála
Europe und Amerika
Statist im neoliberalen Mainstream oder auf eigenem Weg?
Die USA zwingen Osteuropa seit 1989 ihr neoliberales Modell auf. Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert. Davon profitieren vor allem die USA. Doch gerade in Amerika zeigt sich das Scheitern des neoliberalen Projekts. Die globale Finanzkrise hat es offenbart: Die Weltmacht USA steht vor dem Niedergang. Europa steht am Scheideweg. Es muss sich entscheiden, ob es im Raubtierkapitalismus versinkt oder seinen Sozialstaat und damit die Krone seiner Zivilisation bewahrt.Stefan Bednarek, Michal Matlak
Mehr als eine platonische Liebe
Das polnische Amerikabild
Das Bild, das die Polen von Amerika pflegen, hat etwas von Liebe: Wir idealisieren unsere Partnerin, vergöttern ihre Vorzüge und drücken vor negativen Zügen ein Auge zu. Diese Haltung speist sich aus der Erinnerung, dass die USA in wichtigen Momenten des 20. Jahrhunderts an Polens Seite standen. Doch bereits zuvor hatten Nachrichten aus Übersee die polnische nationale Identität beeinflusst, Bewunderung ausgelöst und Faszination geweckt. Erst in jüngster Zeit gibt es Indizien dafür, dass an die Stelle einer romantischen Zuneigung der Polen zu den USA eine pragmatische Gewinn- und Verlustrechnung treten könnte.Tibor Frank
Wem gehört die Geschichte?
Wandlungen des historischen Amerikabildes
Politische Ereignisse und Fragen von heute beeinflussen die Fragestellung, die Methoden und die Urteile der Geschichtsschreibung. Dies ist eine Ursache, weshalb sich etwa die Beurteilung der Haltung der USA zum ungarischen Aufstand 1956 wandelt. Dies zeigt eine Analyse von amerikanischen Lehrbüchern zur Geschichte des 20. Jahrhunderts. Prämissen des Multikulturalismus und der political correctness führen jedoch zu einer ahistorischen Verzerrung der Geschichte Amerika.Tomás Sedlácek
Kleine Unterschiede
Bilder der amerikanischen und der europäischen Kultur
Auf den durchschnittlichen Amerikaner wirkt Europa wie ein Kontinent, der seines eigenen Gewichts müde ist. Die Amerikaner gelten dem durchschnittlichen Europäer als simpel gestrickt und ungestüm. Beide Seiten sind von der anderen fasziniert. Die Europäer bewundern Amerikas Einheit. Die Amerikaner bestaunen Europas Vielfalt. Die kulturelle Faszination von Europäern und Amerikanern beruht auf Gegenseitigkeit. Das ist weder verwerflich noch abwegig: Es handelt es sich um die gleiche Kultur -- mit erheblichen kleinen Unterschieden.Dorothea Redepenning
Ambivalentes Amerika
Martinu, Enescu und Bartók in den USA
Totalitäre Herrschaftssysteme in Europa trieben zahlreiche Künstler ins Exil. Die ostmitteleuropäischen Komponisten Bohuslav Martinu, George Enescu und Béla Bartók gingen in die USA. Martinu wurde erst dort zum Symphoniker. Seine Ästhetik korrespondierte mit einer Hauptströmung der amerikanischen Musikanschauung. Enescu erfreute sich in den USA großer Wertschätzung und kam in zwei seiner Spätwerke dem Publikumsgeschmack entgegen. Und Bartóks Meisterwerk "Konzert für Orchester" ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Exilerfahrung das künstlerische Schaffen beeinflusste.Ulrich Schmid
Eine mäßig verfaulte, große Republik
Czeslaw Miloszs ambivalentes Amerikabild
Seit der Romantik gibt es in Polen eine ausgeprägte Amerika-Begeisterung. Czeslaw Milosz (1911-2004), der prominenteste polnische Immigrant des 20. Jahrhunderts in den USA, hebt sich durch seine Skepsis gegenüber westlichen Gesellschaftsformen wie Demokratie und Kapitalismus deutlich von dieser Tradition ab. Aus seiner Sicht werden die USA von einer rohen Natur dominiert und bleiben aufgrund ihrer Geschichtslosigkeit blind für die Lektionen der beiden Weltkriege, die vor allem Europa heimgesucht haben. Sein eigenes Dichteramt nahm Milosz wahr als Verteidigung einer gewachsenen und religiös überformten Kultur, die von Rationalisierung, Technisierung und Ökonomisierung bedroht ist.Jaroslav Peprník
Mayflower und Müll auf dem Mond
Amerika in der tschechischen Literatur
Die USA erscheinen in der tschechischen Literatur zunächst als exotischer Ort, schon bald aber auch Auswanderungsziel. Mit Amerika verbindet sich die Vorstellung politischer Freiheit, sozialer Mobilität und ökonomischem Aufstieg, aber auch Verunsicherung angesichts einer unübersichtlichen Mischung von Ethnien und einer fremden Kultur. Im 20. Jahrhundert spiegeln sich in der Literatur die Fronten der realen Kriegsbündnisse wie auch des Kalten Krieges. Differenzierte, oft ambivalente Beschreibungen der USA finden sich häufiger erst wieder nach 1989.Marina Dmitrieva
Einholen und überholen
Amerikanismus in der Architektur des "Sozblocks"
Das ambivalente Amerika-Bild, das sich in den 1920er Jahren während des sowjetischen "Amerikanismus" herausbildete, prägte auch den Architekturdiskurs der Nachkriegszeit. Die stalinistischen Hochhausprojekte nicht nur in Moskau, sondern auch in Polen und Rumänien demonstrieren politische und ästhetische Ansprüche der Machthaber. Zu Beginn des Kalten Krieges, der auf sozialistischer Seite von einem unversöhnlichen ideologischen und sozialsystemaren Anti-Amerikanismus geprägt war, orientierten sich die kommunistischen Bauherren und ihre Architekten in der technischen Konstruktion und in ihrem antikisierenden Architekturdekor ausgerechnet an amerikanischen Vorbildern.Wojciech Orlinski
Komplet Karrington
Wie Amerikas Kultur uns lehrte, ungleich (und stolz darauf) zu sein
In Polen hat sich die Einstellung zu sozialer Ungleichheit geändert. Die heutige polnische Jugend ist offen ungleich. Diese soziale Tatsache wird anscheinend von jedermann akzeptiert. Das reicht von den Privilegierten, die ihre Kinder auf teure Privatschulen schicken, über die Konsum- und Markenfetischisten bis hin zu den unterprivilegierten Jugendlichen, die sich in Hooligantum oder Hip-Hop-Subkulturen flüchten. Dass soziale Ungleichheit akzeptiert wird, ist ein Nebeneffekt der Durchdringung Polens mit der amerikanischen Populärkultur. Nirgends sonst werden die Werte aus US-Unterhaltungsserien so ernst genommen wie in Polen.Rüdiger Ritter
Mentale Fluchthilfe
Amerikanische Musik in Nachkriegspolen
Die erzwungene Einbeziehung Polens in den sowjetischen Machtbereich führte in der Gegenbewegung zu einer intensiven Rezeption US-amerikanischer Musik. Im Jazz wie auch in anderen Formen der Unterhaltungsmusik drückte sich für viele der Wunsch nach einer politischen und kulturellen Alternative aus. Die westliche Musik wurde vom Regime zunächst bekämpft, konnte sich später aber als gesellschaftliches Ventil zum Ausdruck der polnischen Amerika-Orientierung etablieren.Maria A. Slowinska
Kaufrausch und Vergnügungssucht?
Amerikanische Populärkultur in Polen
Der Siegeszug der amerikanischen Populärkultur in Ostmitteleuropa ist kein Phänomen der Zeit nach 1989, sondern knüpft an etablierte kulturelle Normen und Werte an. In Polen wurden US-amerikanische Produkte und Symbole seit der Zwischenkriegszeit mythologisiert und idealisiert und blieben während des Ost-West-Konflikts zumindest imaginär kontinuierlich präsent. Amerikas Populär- und Konsumkultur ist nicht nur deshalb attraktiv, weil sie so zugänglich und körperbezogen ist, sondern auch, weil ihr Individualismus eine tiefe Sehnsucht der Menschen in der postsozialistischen Gesellschaft befriedigt.