Aleida AssmannAleida Assmann / Mittelweg 36EurozineMittelweg 36Mittelweg 36 1/20112011-03-09Hier bin ich, wo bist du?Einsamkeit im KommunikationszeitalterAnfang des 20. Jahrhunderts beschrieben die Soziologen neue Formen der Einsamkeit. Tönnies, Durkheim und Simmel schilderten die akuten Gefahren der sozialen Desintegration bis hin zum Zerbrechen des Gesellschaftsvertrags in der anonymen Massengesellschaft. In der neuen Einsamkeit sahen sie die Kosten der Modernisierung, die den Bruch mit Traditionen und Loyalitätsbindungen forciert hatte. Max Weber war erfüllt von der Sorge, dass der Mensch selbst aufgrund der Rationalisierungstendenzen der Moderne in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft zum Gefangenen im Kerker eines stahlharten Gehäuses werden könnte. Anfang des 21. Jahrhunderts bietet sich uns ein ganz anderes Bild. Statt des stahlharten Gehäuses haben wir das Internet bekommen. Und es sieht so aus, als hätte diese neue Kommunikationstechnologie das Gespenst der Einsamkeit ein für alle Mal vertrieben. Das Internet ist dabei nicht nur ein Medium, das neue Kommunikationsformen ermöglicht, es ist selbst auch das Produkt eines verstärkten Bedarfs, Wunsches, Drangs nach Kommunikation. Beim Internet handelt es sich um ein hybrides Konstrukt, das auf drei Säulen aufruht:/XML/infobox/changingmediabox.htm1. eine neue Ordnung von Daten/InformationenEs muss hier daran erinnert werden, dass das Internet keineswegs das erste interaktive Massenmedium ist. Es schließt an die Zeitungen des 19. Jahrhunderts an, die sich mehr und mehr in Richtung Sensationspresse entwickelten. Ein Historiker hat pointiert formuliert, die viktorianischen Zeitungen wären zu einem großen Teil von ihren Lesern geschrieben worden. Dieses Feedback fand in den ausgedehnten Leserbriefspalten Platz, die bereits so etwas wie ein öffentliches Meinungsbild produzierten. Jonathan Rose, "Education, Literacy, and the Victorian Reader", in: Patrick Brantlinger et al. (Hrsg.), A Companion to the Victorian Novel, Oxford 2002, S. 31. (Stichwort: Hypertext; Beispiel: Suchmaschinen wie Google);2. die Entwicklung neuer Formen von Interaktion (Stichwort: neue Kommunikationsplattformen, Beispiele: Myspace, Facebook);3. die globale Ausweitung der Zugangsformen (Stichwort: erschwingliche Computer und handheld devices, Vervielfältigung der Server, Knoten, Terminals).Diese drei Aspekte des Internets sind das Ergebnis zunächst eigenständiger technologischer Erfindungen und Entwicklungen, die dann miteinander fusioniert wurden.Dieses Schema basiert auf dem Vortrag, den Jens Schröter (Siegen) am 8. 2. 2010 im Studium Generale an der Universität Konstanz gehalten hat. Ich habe es für diesen Vortrag geringfügig abgeändert. Zu den sozialen Netzwerken siehe Tim O'Reilly, "What is Web 2.0? Design Patterns and Business Models for the Next Generation of Software", in: International Journal of Digital Economics 65 (2007), S. 17-37. "Es ist an der Zeit, die digitale Revolution, die mehr ist als das Web 2.0, in ihrer ganzen Wucht zu erkennen", schrieb Frank Schirrmacher in der FAZ.Frank Schirrmacher, "Ist Google schuld?", FAZ vom 23.1.2010, S. 1; weitere Teilnehmer an dieser aktuellen öffentlichen Debatte über die Formen, in denen das Internet den Menschen und sein Gehirn verändern, sind u.a. Ben Macintyre, "Im Einbaum durchs Internet", FAZ vom 29.1. 2010, S. 31, Stephen Baker, "Das müssen wir wissen", FAZ vom 6.2. 2010, S. 31, Jaron Lenier, "Der digitale Maoismus ist zu Ende", FAZ vom 16.1. 2010, S. 33 und Sascha Lobo, "Frank Schirrmacher und der Kulturpessimismus. Eine Gegenrede", Spiegel online, 1.12. 2010. Das Buch, mit dem Schirrmacher diese Debatte anstoßen wollte, lautet Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen, München 2009. Ich werde mich in diese grundsätzliche Debatte über das Internet und die anthropologischen und politischen Konsequenzen der neuen Datenordnung hier jedoch nicht einschalten, die derzeit von Meinungsmachern wie Frank Schirrmacher, Stephen Baker und Sascha Lobo geführt wird, sondern mich nur auf die zweite Säule konzentrieren, die Neugestaltung der Kommunikation durch das Web 2.0. Darunter versteht man jene 'Generation' des Web, die durch Entwicklung neuer interaktiver und kollaborativer Nutzungsarten die Formen der Kommunikation weltweit grundlegend verändert hat. Web 2.0 wird auch als eine universal, standards-based integration platform definiert. Entscheidend für diese Entwicklung ist eine neue Architektur des massengerechten Mitwirkens.Unter Web 2.0 versteht man eine neue 'Generation' des Web, das neue Nutzungsarten entwickelt hat. Dazu gehören insbesondere eine Reihe interaktiver und kollaborativer Elemente, die die Formen der Kommunikation weltweit grundlegend verändert haben. Entscheidend für diese Entwicklung ist eine neue Architektur des massengerechten Mitwirkens. Was der Intention nach als ein Kommunikationsmedium für militärische (USA) und wissenschaftliche Zwecke (CERN) erfunden worden war, ist innerhalb des letzten Jahrzehnts zu einem globalen Kommunikationsmedium geworden.Die Geschichte der technischen Evolution macht dort spektakuläre Fortschritte, wo Bedarf und Nutzen passgenau aufeinandertreffen. Das war beim Internet der Fall. Internet und mobile Telekommunikation wurden im letzten Jahrzehnt zu dem absoluten Renner neuer Erfindungen und Marktstrategien. Die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung ist nichts anderes als das menschliche Grundbedürfnis zu kommunizieren, sich mitzuteilen, Botschaften auszutauschen. Hinter diesen technischen Neuerungen und ihrem überwältigenden kommerziellen Erfolg steht also letztlich ein anthropologischer Faktor: Der Mensch ist nicht nur ein vergesellschaftetes Wesen, ein zoon politicon, sondern vor allem ein mitteilsames Wesen. Die grundlegenden Existenzfragen des Menschen im globalen Medienzeitalter lauten nicht mehr: Wer bin ich? Wohin bin ich geworfen? Sondern: Hier bin ich, wo bist du? Kommunikation ist selbst zur primären und performativen Existenzform geworden: Ich blogge, also bin ich. Zumal in westlichen Gesellschaften wird die basale Frage nach der eigenen Identität immer weniger im Deutungsrahmen von Kultur, Politik oder Religion beantwortet und immer mehr im Medium des Kommunizierens selbst. Identität steht und fällt mit Akten der Kommunikation, sie entwickelt und manifestiert sich im Prozess von Kommunikation.Die Theoretiker der kognitiven Evolution haben uns inzwischen auch eine Erklärung für diesen neuen Trend der flächendeckenden inflationären Kommunikation geliefert. Kommunizieren, so lernen wir von ihnen, ist genuin menschlich, und die Art, wie dies geschieht, beruht auf neuronalen Grundlagen, die die Tiere in dieser Form nicht besitzen. Michael Tomasellos These ist, "dass Menschen sich mit ihren Artgenossen tiefer 'identifizieren' als andere Primaten". Damit meint er eine kognitive Fähigkeit, die bereits das Kleinkind entwickelt, und die darin besteht, andere Menschen als ihm ähnliche Wesen, und das heißt als intentionale Akteure zu sehen. Genuin menschlich scheint das Vermögen zu sein, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, fremde Intentionen zu verstehen und die Perspektiven anderer zu übernehmen. Kinder erlernen die Grundlagen für soziale Wahrnehmung, koordinierte Aufmerksamkeit und kommunikative Kompetenz bereits zwischen dem 9. und 15. Lebensmonat.Malinda Carpenter, Katherine Nagell und Michael Tomasello, Social cognition, joint attention, and communicative competence from 9 to 15 months of age, Chicago 1998. Menschen sind Wesen, die in den Köpfen ihrer Mitmenschen weiterdenken, deren Wünsche und Impulse antizipieren und sich somit beständig mit anderen intelligenten Wesen abstimmen. Kommunikation ruht auf diesem soliden Fundament auf, das aus einem dichten Geflecht von gegenseitigen Annahmen von gemeinsamem Sinn und Unterstellungen von geteilten Intentionen gewirkt ist; sie ist von diesem Drang zur Intersubjektivität und kollektiven Partizipation getragen, ganz unabhängig davon, ob diese Annahmen im einzelnen Fall auch wirklich geteilt werden. Diese aktuellen Forschungen der Neurowissenschaften münden in ein neues Menschenbild. Danach ist der Mensch ein kooperatives Wesen, das mit einer 'theory of mind' ausgestattet und auf Kommunikation und Empathie angelegt ist. Im Zentrum dieses Menschenbildes steht nicht der Wille zur Macht, sondern der Wille zur Kommunikation. Diese "einzigartige sozio-kognitive Fähigkeit", die den Menschen zur Kommunikation disponiert, trat "erst mit dem modernen Homo sapiens auf" und ist nach Tomasello das Hauptmerkmal, "das moderne von prämodernen Menschen unterscheidet".Michael Tomasello, Origins of Human Communication, Cambridge 2008, S. 68; vgl. auch Joshua Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Frankfurt am Main 2010. Mit dem Internet, so dürfen wir diesen Abschnitt zusammenfassen, hat der auf Kommunikation angelegte und ausgerichtete Mensch endlich das ihm kongeniale Medium erfunden.Meine These ist, dass das Internet einen erstaunlichen und in dieser Form nicht vorhersehbaren Effekt hat: Es hat durch neue Kommunikationsbedingungen Einsamkeit abgeschafft; genauer, es hat in einem bislang unvorstellbaren Maße negative Wirkungen unfreiwilliger Einsamkeit beseitigt. Kommunikation ist freilich nicht mehr das, was einst Denker wie Karl Jaspers, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann darunter verstanden. Um unsere Frage nach Einsamkeit und Geselligkeit neu stellen zu können, müssen wir deshalb damit beginnen, diesen Strukturwandel der Kommunikation genauer zu beschreiben. Ich tue das in drei Schritten.1. Mediale Programmierung der Kommunikation
2. Universalität des Freundschaftsprinzips
3. Grenzverschiebungen zwischen Geselligkeit und Einsamkeit
1. Mediale Programmierung der KommunikationKommunikation mithilfe des Internets vollzieht sich nicht zufällig, direkt und spontan, sondern technisch vermittelt und formatiert. Dieses Format ist kein weißes Blatt Papier, das individuell gestaltet wird, sondern ein Skript. Es gibt hier ganz unterschiedliche Formate, die sich durch die Art ihrer technischen Programmierung unterscheiden. Ich sehe hier von schriftzentrierten Formaten wie der E-Mail oder dem Blog ab und wende mich anderen Kommunikationsformaten zu, die in multimedialer Form Schrift, Bild und Ton integrieren. Im Gegensatz zur E-Mail und zum Blog hält sich der Schriftanteil in diesen Kommunikationsplattformen in engen Grenzen; es sind meist nur kurze (und ultra kurze) Botschaften, die auf diesen Seiten kursieren.MyspaceMyspace ist eine Plattform für Künstler und solche, die es werden wollen, und wendet sich vor allem an Bands, Musiker, Filmemacher oder Comedians. Die Handlungsanweisungen für die Besucher und Nutzer lassen sich in drei Imperativen zusammenfassen. 1. Registrier dich jetzt und werde Teil der Myspace-Welt. In die mediatisierte Kommunikationswelt kann nur eintreten, wer von sich selbst zunächst einmal ein Profil erstellt hat. Das erste Gebot der Internetkommunikation lautet folglich: Du musst dir ein Bildnis von dir selber machen!Man muss sich zuerst einmal erfinden, ausstaffieren und ausstellen, bevor man anderen begegnen kann, ganz nach der Devise von T. S. Eliots 'Prufrock', dem Protagonisten seines berühmten Gedichts über Einsamkeit in einer diffus und belanglos gewordenen Welt der Moderne:"There will be time, there will be timeTo prepare a face to meet the faces that you meet."T. S. Eliot, "The Love Song of J. Alfred Prufrock", in: Selected Poems, 2. Aufl., London 1963, S. 11-17.
Die Möglichkeiten, wie dieses Profil erstellt wird, sind im Rahmen des von Myspace vorgegebenen Formats frei gestaltbar. Es ist das Format des Schaufensters. Ins Schaufenster stellt man in diesem Fall aber nicht eine Puppe, sondern sich selber. Dieses ganz auf Sichtbarkeit und Ausstellung ausgerichtete Schaufester steht unter dem Druck großer Artifizialität. Deshalb werden für dieses 'self-fashioning' in der Regel nicht die bürgerlichen Namen verwendet, sondern Künstler- und Spitznamen. Zur Selbstinszenierung als 'Künstler', die optisch ausbaubar ist, gehören Name, Bild und eine 'tagline', ein individuelles, auf Wiedererkennbarkeit angelegtes Minimotto. Das Format kommt insbesondere Künstlern entgegen, um sich und ihre Produkte zu vermarkten. Daher der 2. Imperativ: Lade Fotos und Videos hoch! Die freie Musikszene wurde durch diese Form der Kommunikation revolutioniert. Die Künstler und Gruppen stellen mit ihrer Musik auch den Kalender ihrer Auftritte auf ihre Seite.Zusätzlich geben sie ihrem erhofften oder wachsenden Fanclub die Möglichkeit, mit ihnen und untereinander zu kommunizieren. Deshalb der 3. Imperativ: Schau dir Profile an und finde neue Freunde! Indem (potenzielle) Fans auf diese Weise den Markt neuer Künstler- (Gruppen) verfolgen und deren Entwicklungen kommentieren, tragen sie auch zu deren Erfolg bei. Wer sich hier umtut, kann Teil einer Fangemeinde werden und über gemeinsamen Geschmack und geteilte Interessen 'neue Freunde' finden.FacebookFacebook ist weit mehr als Myspace eine multimediale Plattform für die Kommunikation um der Kommunikation willen. Dieser Verein hat inzwischen an die 600 Millionen Mitglieder, davon 14 Millionen in Deutschland. Auch hier gilt, dass man sich zunächst einmal nach den Vorgaben des Formats einbringen muss, wobei im Gegensatz zu Myspace (in aller Regel) der bürgerliche Vor- und Nachname zur Identifizierung benutzt wird.Die Freundschaften sind in dieser Kommunikationsplattform aber nicht sehr gehaltvoll und entsprechend inflationär. Mit Tom, dem Gründer von Myspace, ist jeder, der dies nicht eigens abstellt, automatisch befreundet. Er hat 12 Millionen Fans. Im Vergleich dazu hat Präsident Obama 2 Millionen Freunde.Man sitzt auch nicht mehr in einem klar abgegrenzten Schaufenster, sondern öffnet eher ein Fenster in das eigene Leben. Facebook bietet gegenüber anderen Formen digitaler Kommunikation ganz neue Interaktionsmöglichkeiten an. Wer sich mit seiner Profilbeschreibung auf diese Plattform eingeloggt hat, kann nicht nur (wie bei der E-Mail) persönliche Nachrichten verschicken, sondern auch mit den Adressaten online 'chatten'.Diese für andere ebenfalls nicht einsehbare Form der direkten Interaktion macht die eine Seite des Erfolgs von Facebook aus. Die andere erfolgreiche Innovation von Facebook ist die auch für andere einsehbare 'Pinnwand' ('wall').Auf dieser Pinnwand stellt man selbst und stellen die Freunde Fotos, Videos und kürzere Texte aus, die von den Betrachtern jeweils kommentiert werden können. Mithilfe des 'Like'-Buttons kann man auch wortlos Gefallen und Zustimmung ausdrücken. Um zu verhindern, dass man auf seiner Facebook-Seite sofort angechattet wird, gibt es obendrein eine Tarnkappe. Man kann für einige sichtbar bleiben und sich anderen gegenüber unsichtbar machen. Dadurch wird das Mitteilungs- und Teilungsbedürfnis deutlich abgestuft.Durch verschiedene Stufen der Einsehbarkeit werden unterschiedliche Intimitätsgrade in den Freundeskreis eingezogen. Im Zentrum von Facebook stehen die digitale Interaktion und die Pflege von Freundschaften samt dem Suchen neuer Freunde. Sympathie wird gefestigt durch das Abtasten gemeinsamer Interessen und Vorlieben. Zu den Spielen und Psychotests, die Geschmackskompatibilitäten abtesten sollen, gehört neben dem 'movie compatibility test' zum Beispiel auch der 'nationality test', der auf einer symbolischen Ebene unterschwellige Bande und Bindungen aufzeigen soll: "people with same nationality think similar whereas others can't follow their discussion. Find out where u really come from!"Facebook funktioniert am besten als ein virtuelles Kontaktmedium für reale Freundschaften, die auch jenseits des Bildschirms existieren. Man kennt sich bereits oder hat sich soeben kennengelernt und möchte auf diese Weise Bekanntschaften weiterpflegen und vertiefen, aber vor allem eines: in einer lockeren Form von Kontakt bleiben, die die Schwellen des Briefpapiers oder des Telefons unterläuft. Der besondere Reiz und die Gratifikation dieser Plattform bestehen darin, dass man sich in einem Freundeskreis bewegt, in dem man auch Bilder, Filme und Musik miteinander teilen kann und schnelle Rückmeldungen bekommt. Interaktion kommt hier eindeutig vor Kommunikation und lebt von spielerischen Formen eines ebenso mühelosen wie prompten Hin und Her.Der Freundeskreis stützt, bestätigt und beglaubigt dabei die Konstruktionen der eigenen Identität: "Die Freunde sind das Publikum, welches das Gelingende der eigenen Existenz bezeugt, in dessen Reaktion und Eigenleben sie sich spiegelt."Alard von Kittlitz, "Der Traum von einem idealen Leben", in: FAZ vom 6.8.2010, S. 33. Rückspiegelung ist die Grundfunktion der Interaktion und damit der Stoff, aus dem jede soziale Identitätskonstruktion gemacht ist. Ich stimme deshalb mit der kritischen Tendenz des zitierten Artikels nicht überein, der die Facebook-Profile pauschal als geschönte, gesteuerte und "baukastenhafte" Konstruktionen aburteilt.TwitterZur neuen Architektur des massengerechten Mitwirkens auf einer globalen politischen Ebene gehört vor allem die Plattform Twitter. Das Twitter-System ist nicht auf Interaktion angelegt, sondern auf eine massenhafte Verbreitung von Information, die zum Gegenstand globaler Kommunikation werden soll. Seine quantitative Vermehrung und enorme geographische Ausweitung gehen auf Kosten der individuellen Ausgestaltung der Botschaften. Man hat nur Platz für 140 Zeichen, ist also ebenso beschränkt wie in der SMS-Telefon-Kommunikation. Bei Twitter ist diese Kommunikation nach Themen sortiert und durch 'Gefolgschaften' strukturiert. Sie ist news- und event-orientiert, sie popularisiert Themen, sie prägt und verbreitet in Rekordzeit Schlagworte (wie beispielsweise 'Stasi 2.0' oder 'Zensursula'Diese Schlagworte richteten sich gegen Äußerungen von Wolfgang Schäuble und Ursula von der Leyen, die eine Indizierung und Sperrung von bestimmten Internetseiten vorgeschlagen hatten. Vgl. dazu: Constanze Kurz, "Farce 2.0", in: FAZ vom 19.3.2010, S. 33 über die Debatten um Internetsperren.). Die besprochenen Themen sind mit einem besonderen Zeichen (#hashtag) versehen. Themen, die besonders viele Kommentare/Gefolgschaften/Zuschriften erhalten, rutschen automatisch an die Spitze der globalen Aufmerksamkeitshierarchie. Der überwältigende globale Erfolg dieses Formats beruht auf der Schnittstelle von Mobil-Telefonen und Internet; durch den kommerziellen Erfolg dieses mobilen handlichen Interface vervielfältigte sich der Zugang zu diesen Kommunikationsforen und Mitgliedschaften um eine weitere Potenz. Wie im Falle der iranischen Revolte nach den Wahlen im Juni 2009 geschehen, kann diese Plattform als ein informelles Nachrichtensystem einspringen, wo staatliche Zensur die Kommunikationskanäle blockiert.Vgl. dazu Aleida Assmann und Corinna Assmann, "Neda -- the creation of a global image", in: Aleida Assmann und Sebastian Conrad (Hrsg.), Memory in a Global Age, New York 2010, S. 225-242. Auch für neue kreative Formen kollektiver Aktionen werden soziale Netzwerke verstärkt eingesetzt. "Bei einem Flashmob verabredet sich eine Anzahl von Leuten mittels sozialer Medien oder per E-Mail an einem öffentlichen Ort, um dort eine kurze, oft surreal anmutende Aktion durchzuführen." Die Hoffnung, 'digitale Dissidenten' hätten die unblutige Waffe einer schleichenden Gegenrevolution in der Hand, wurde allerdings bald enttäuscht: "ihre Netzwerke wurden von einer hoffnungslos überlegenen Staatsmacht infiltriert und verbreiteten nun öffentliche Angst".Evgeny Morozov, "Vorsicht, Freund hört mit!", in: FAZ vom 18.3.2010, S. 29. Sein Buch über Demokratie und Internet The Net Delusion: The Dark Side of Internet Freedom ist im Januar 2011 erschienen. Auch wenn die aktive Teilnahme am Twittern für viele Absender zu einem Sicherheitsproblem führen kann, haben wir hier ein neues Medium der Demokratisierung vor uns, das die Möglichkeit eines öffentlichen Mitredens bietet. Wer sich einloggt, hat eine Stimme, wenn auch in einer unübersehbaren Menge anderer Zwischenrufe aus aller Welt. Anders als in Facebook geht es in Twitter eher um Quantität als um Qualität. Präsident Obama ist wohl der erste konsequente Internet-Politiker, der systematisch von allen Kommunikationsplattformen (Myspace, Facebook, Twitter) Gebrauch macht. Wer sich auf Obamas Twitter-Seite in dessen Fanclub einreiht oder seine Auftritte und Entscheidungen kommentiert, tut das zwar einzeln, aber in der Regel zusammen mit 21 000 anderen. Ähnliches gilt für Fernsehstars, denen, wie zum Beispiel Harald Schmidt, zehn Millionen 'folgen'. Diese Masse ist nicht amorph und anonym, denn sie besteht aus individuellen persönlichen Kommunikationsakten, auch wenn diese Atome aufgrund ihrer schieren Anzahl unübersehbar sind.Direkte Rückmeldungen und vertiefter Austausch sind auf Twitter nicht möglich, man kommuniziert munter nebeneinanderher. Es ist offen sichtlich wichtiger, sich artikuliert zu haben, als eine Antwort zu bekommen. Es handelt sich vordringlich um verbale Partizipation ohne direkte Interaktion, um die Chance, sich einzumischen und mitzumischen.ChatrouletteAls extremes Gegenstück zu Twitter soll hier noch kurz auf eine spezielle Kommunikationsplattform hingewiesen werden, die von einem jungen Russen erfunden wurde. An dem von ihm entwickelten Spiel nehmen inzwischen Millionen Menschen aus aller Welt teil. Beim Chatroulette wählt man sich in eine Plattform ein, die einen augenblicklich mittels eines Zufallsgenerators mit einer anderen Person auf der Welt verknüpft, die sich gerade auch in dieses Spiel eingeklinkt hat. Das so verkoppelte Paar kann nun miteinander schwatzen, als säßen sich die beiden in der U-Bahn gegenüber. Was jedoch in der U-Bahn, wo man daran gewöhnt ist, schweigend unter Fremden zu sitzen, niemandem in den Sinn käme, nämlich mit Unbekannten in ein zwangloses Gespräch einzutreten, wird in der digitalen Welt zum Hype.Cyber-Psychologen haben dieses Phänomen seit einiger Zeit beobachtet und als "online disinhibition effect", d.h. als digitale Enthemmung beschrieben. J. Suler, "The online disinhibition effect", in: Cyberpsychology and behavior: the impact of the Internet, multimedia and virtual reality on behavior and society, 7/3 (2004), S. 321-326. Auf Partys ist dieses Spiel zu einem Renner geworden; die Partygäste, die unter Anwesenheitsbedingungen kommunizieren, erweitern so den Kreis der Eingeladenen um unbekannte Personen rund um den Globus. Wenn man seines Gegenübers beim Chatten müde wird, hat man die Freiheit, es wegzuklicken -- ein Privileg, für das es im wirklichen Leben bisher noch keine effektive Entsprechung gibt.2. Universalität des FreundschaftsprinzipsDigital gestütztes Kommunizieren hat sich inzwischen weltweit etabliert. Es ist ein Lebensbedürfnis, eine Lebenserfüllung, ein Freizeit vergnügen, ein Gag, ein Hype, ein Rausch. Internetkommunikation vollzieht sich dabei vornehmlich im Sammeln von Freunden.Über Myspace kommuniziert man mit an die 5 000 Freunden, die man nie zu sehen bekommt, im Facebook sind es zwischen 50 bis 500 Freunden, darunter ein kleiner Kreis, mit dem man sich fast täglich trifft. Angesichts dieser Zahlen stellt sich das Problem der Qualität in der Quantität. Man ist versucht, hier ein anderes berühmtes Einsamkeitsgedicht der klassischen Moderne zu variieren:Sein Blick ist vom Vorübergehn der messages
So müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Freunde gäbe
Und hinter tausend Freunden keine Welt.Um in diesem unbefriedigenden Einerlei die Spreu vom Weizen zu trennen, sind besondere Tricks entwickelt worden. Der eine nimmt zum Beispiel das eigene Geburtsdatum aus dem Profil heraus, damit die Glückwünsche zum Termin von Herzen, sprich aus dem Gedächtnis kommen. Ein anderer hat auf seine Facebook-Seite das Geburtsdatum 1.1.1905 gestellt und wirft alle 'Freunde' aus seiner Liste heraus, die ihm zu diesem Datum gratulieren. Auch so lassen sich in die halböffentliche Kommunikation wieder unsichtbare Grenzen einziehen. Es gibt auch das Ärgernis der 'professionellen Freunde und Freundinnen', die anderen durch ihre Zudringlichkeit und ihren Eifer auf die Nerven gehen. Doch existieren noch andere gute Gründe, seine 'Freundschaften' zu begrenzen.Man wird den Chef am Arbeitsplatz nicht befreunden und auf die eigene Facebook-Seite einladen; berufliche Hierarchien stören dieses Feld der freien Kommunikation unter Vertrauten, das von strategischem Verhalten, sozialer Kontrolle und der Gefahr des Ausspionierens so frei wie möglich gehalten wird.Die Internetkommunikation schafft eine Welt von Freunden. Feindschaften werden offenbar anderswo ausgetragen. Man bekommt jede Menge von 'Freundschaftsanfragen', die aus Gründen der 'Netikette' kaum verneint, höchstens durch Nichtbeantwortung ignoriert werden können. Während die Welt des Politischen nach Carl Schmitt durch die Grenze Freund/Feind strukturiert wird, ist der Raum der Internetkommunikation ein Paradies universaler Freundschaft. Im Internet wird die Assoziation ohne Dissoziation gepflegt, man lebt in einer Welt der Freunde und ohne Feinde.Dieses harmonische Bild wird leider durch eine alarmierende Ausnahme gestört. Es geht um eine Praxis, die neuerdings an deutschen Schulen epidemisch ist, seit sich dort die Facebook- Variante Schüler-VZ etabliert hat. Der Fachausdruck dafür heißt Cyber-Mobbing (oder Cyber-Bullying) und bezieht sich auf Strategien, mit denen Schülergruppen diese Kommunikationsplattform nutzen, um einen Mitschüler oder eine Mitschülerin aus dem Klassenverband auszuschließen. Der Grund der Ausgrenzung ist meist völlig oberflächlich: schon ein falsches Paar Schuhe kann genügen, um den vorprogrammierten Mechanismus auszulösen. Zur Stigmatisierung des ausgewählten 'Opfers' gehört unter anderem ein mit niederträchtigen Mitteln gefälschtes Personenprofil, verbunden mit herabwürdigenden Fotos und einer Flut verhöhnender Botschaften. In diesem Ausnahmefall ist das Freundschaftsmittel der digitalen Verknüpfung auf das Ziel der Entehrung gerichtet und führt zur Demontage einer Identität. Bei diesen Spielen, die auf immer jüngere Klassen übergreifen, werden latente Machthierarchien ausagiert und mit einer Hasskommunikation orchestriert, die die Jugendlichen aus den Medien und dem Gangsterrap kennen. Dem offenbar typisch deutschen Thema Cyber-Mobbing war eine Sendung des Deutschlandfunks am 29.5.2010, 14-15.00 Uhr, gewidmet, bei der Lehrer, Eltern und eine Psychologin, Frau Dr. Katharina Katzer aus Köln, zur Sprache kamen. Während an deutschen Schulen dieses Phänomen eher als Problem des Opfers behandelt zu werden scheint, das meist die Schule wechseln muss, gilt an amerikanischen Schulen das Umgekehrte: (wiederholtes) 'bull ying' ist ein Kapitaldelikt, das meist den Verweis des betreffenden Schülers von der Schule zur Folge hat. Das strukturelle Äquivalent der Freundschaft ist die Vernetzung, das Andocken, der Link: Auf dieser einen monotonen Operation basiert das ganze Web 2.0.Haben wir damit die operationale Grundlage der neuen Weltgesellschaft vor uns, von der futuristische Soziologen gesprochen haben? Facebook unterstützt und vermittelt Freundschaften nicht gleich in der Weltgesellschaft, sondern zunächst einmal in der Erlebnis- und Spaßgesellschaft. Der Stoff, der dieses global expandierende Kommunikationssystem so zuverlässig in Gang hält, sind grundmenschliche Emotionen: Man ist neugierig, will etwas hören, sehen und erleben, will dazugehören, will Aufmerksamkeit, möchte sich austauschen und Interessantes miteinander teilen. All das ist, näher besehen, aber nicht nur ein Freizeitvergnügen, sondern durchaus lebenswichtig. Aus dieser Welt herauszufallen würde für viele den sozialen Tod bedeuten. Der Erfinder von Facebook, Marc Zuckerberg, hat wiederholt diese Grundfunktion der Sozialität betont. Er möchte "die Welt offener machen und Verbindungen herstellen"; insbesondere durch Freundschaften zwischen verfeindeten politischen Gruppen hofft er einen Beitrag zum Weltfrieden zu leisten: "Es ist schwerer auf jemanden zu schießen, wenn man mit der Person persönlich verbunden ist; es ist schwerer, jemanden zu hassen, wenn man Bilder von dessen Kindern gesehen hat."Dan Fletcher, "Friends without Borders", in: Time, May 31, 2010, S. 18-25; hier S. 22.Ob Facebook tatsächlich einen Beitrag zum Weltfrieden leisten kann, wird sich noch herausstellen. Dass es einen entscheidenden Beitrag zur Steigerung von Konsum und Umsatz leistet, ist heute schon klar. Der Wert des Unternehmens wird inzwischen auf 50 Milliarden Dollar beziffert. Eine amerikanische Bank hat zu Jahresbeginn 2011 500 Millionen in Facebook investiert. Damit hat der Gründer Zuckerberg sein Vermögen über Nacht verdoppelt, aber auch Handlungsfreiheit an die Wirtschaft abgegeben. Die Schattenlinie von dem primär sozialen zum offenen kommerziellen Unternehmen wurde bereits 2008 überschritten, als Facebook mit dem gesamten Internet verlinkt wurde.Ebd., sowie Friederike Haupt, "Bringe alle deine Freunde zu uns", FAZ vom 27.4.2010, S. 33. Dabei kam es zu einer folgenschweren Metamorphose: Aus Freunden wurden Kunden. Durch 'Like'-Buttons, das sind Klicks, mit denen man im Internet seinem Gefallen an Produkten aller Art Ausdruck verleihen kann, werden die Facebook-Profile automatisch in solche von potenziellen Käufern umgewandelt, die sich gegenseitig Waren empfehlen und dann umso besser mit den für sie einschlägigen Anzeigen bombardiert werden können. Ob die vielen Freunde das nun wollen oder nicht und ob sie es merken oder nicht: Durch seine neue Verlinkung mit dem Internet ist Facebook nahtlos in die Weltkonsumgesellschaft eingebettet. Tatsächlich hat Zuckerbergs vorschnelles Urteil, das Zeitalter der Privatsphäre sei vorüber, das Erfolgsrezept Facebook in eine schwere Krise gestürzt. Dieses beruht nämlich weder auf einem unbedingten Willen zum Exhibitionismus noch zum Konsum, sondern auf einem cleveren Kalkül gestufter Intimitäten. Die Sicherheitslücken und Übergriffe auf Profile der Facebook-Nutzer gefährden diese fragile Struktur, indem sie soziale Kommunikation in strategische Information für Außenstehende verwandeln.Das hier ausgesparte Problem des Personen- und Datenschutzes steht zur Zeit im Zentrum der Debatten um Facebook. Vgl. dazu Friederike Haupt, "Facebook weiß alles über uns", FAZ vom 9.2.2010, S. 33 und dies., "Sag mir, wo du stehst und wohin du gehst", in: FAZ vom 20.3.2010, S. 42. Bei dieser Diskussion geht es darum, was das Internet hinter unserem Rücken mit uns macht, während wir etwas mit ihm machen. Wenn die Nutzer sich stärker für diese wichtigen Rahmenbedingungen interessieren, könnten jene reüssieren, die seit längerem an Sicherheitsfiltern für private und gestuft öffentliche Kommunikation im Internet arbeiten. Dazu gehört das dezentrale Netzwerk Safebook, das von Thorsten Strufe entwickelt wird. Näheres dazu Friederike Haupt, "Das Private soll wieder privat werden", in: FAZ vom 2.3.2010, S. 35.Kehren wir aber noch einmal zum Thema Freundschaft zurück. Wenn wir genauer wissen wollen, was mit Freundschaft im Netz gemeint ist, brauchen wir uns nur die Definitionen anzuschauen, die in einem der Kompatibilitäts-Testspiele angeboten werden:Erst die letzte von sieben Definitionen führt die Kategorien 'Vertrauen' und 'Stütze in schweren Zeiten' ein. Diese Dimension scheint, soweit ich das aus meinem oberflächlichen Einblick beurteilen kann, in der Facebook-Kommunikation eher unterentwickelt. Wenn es im Leben Probleme gibt, muss man sie offenbar anderswo besprechen und lösen als auf Facebook-Seiten.Der Meinung ist auch Dan Fletcher: "We have chosen not to bring our health issues to the public sphere not because we're embarrassed by them but because some things we already think about enough and would rather think about less, and we don't need the extra prodding of 1 000 Facebook friends thinking alongside us." Ders., "Friends without Borders", Time, May 31, 2010, S. 18-25; hier S. 25. Das Internet dagegen entwickelt sich immer mehr zu einer Quelle, aus der man Rat für wichtige Gesundheitsfragen bezieht. Aus einer Studie von Jacob Lahr über Mentale Gesundheit und das Internet (Wahlfacharbeit WS 2009/2010 an der Universität Freiburg) geht hervor, dass Gesundheitsprobleme durchaus im Internet kommuniziert werden, und zwar vornehmlich über Weblogs und die daraus entstehenden Bloggerfreundschaften und -kreise. Für Themen, die im eigenen Freundeskreis keine Ansprechpartner finden, melden sich im Netz umgehend Menschen mit gleichartigen Erfahrungen. Gerade in Krankheitsfällen zeigt sich, dass das Internet zu einem wichtigen Medium "der schnellen und niederschwelligen Art der Selbsthilfe" werden kann (S. 8). Dank digitaler Vergesellschaftung mit anderen, die gleiche oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben, ist man nicht mehr allein mit seinem Problem.3. Grenzverschiebungen zwischen Geselligkeit und EinsamkeitUnter diesen neuen elektronischen Bedingungen der Kommunikationsgesellschaft kann eigentlich niemand mehr einsam sein. Wer immer sich von seiner Umwelt nicht beachtet oder ausgegrenzt fühlt, kann seinen Ansprechpartner im Internet finden. Damit sind gute Zeiten angebrochen für Sonderlinge, Hagestolze, Freaks, Nerds und wie die notorischen Einzelgänger und Einzelkämpfer immer heißen mögen. Das gilt auch für ausgesuchte Formen der Perversion: Die eine Person auf der Welt, die den Wunsch hat, von einer anderen verspeist zu werden, findet auf diesem Wege ihren Partner. Wenn wir einmal von solchen extremen Fällen absehen, dann lässt sich sagen, dass mit der Internetkommunikation der soziale Konformitätsdruck deutlich abgenommen hat und das Image des Außenseiters im digitalen Zeitalter aufgewertet worden ist. Ich möchte das am Beispiel des 'Nerds' illustrieren, der auf dem besten Wege ist, von einem sozialen Ärgernis zu einer Art von Held zu werden. Mein New Oxford American Dictionary listet für 'nerd' zwei unterschiedliche Bedeutungen mit gegensätzlicher Bewertung auf:- a foolish or contemptible person who lacks social skills or is boringly studious: one of those nerds who never asked a girl to dance.- an intelligent, single-minded expert in a particular technical discipline or profession: he single-handedly changed the Zero image of the computer nerd into one of savvy Hero.Diese Beispielsätze sprechen für sich: aus einer nervig grenzwertigen Figur ist ein willkommener, kompetenter Mitmensch geworden.Trotz der überwältigenden Evidenz von Kommunikationsbegehren und Kommunikationspraxis ist das Thema Einsamkeit auch in unserer Zeit dennoch nicht ganz vom Tisch. Das Internet hat einen unbegrenzten Raum neuer Möglichkeiten der Kommunikation und Vergesellschaftung geschaffen, der aber auch -- am Rande -- neue Formen von Einsamkeit hervorgebracht hat. Ein neuer Typ des Einsamen ist der Amokläufer, der im letzten Jahrzehnt die Schulen und Colleges unsicher gemacht hat. In diesem Falle handelt es sich um einen frustrierten Einsamen, der sich gewaltsam gegen die wendet, die ihn ausgeschlossen haben. Seine Verzweiflung und Frustration über die Verweigerung seines Wunsches nach sozialer Integration und Anerkennung in der Peergroup konnten offensichtlich auch die neuen Möglichkeiten eines digitalen Soziallebens nicht kompensieren. Die Kehrseite des Wunsches nach Gruppenzugehörigkeit ist der Ausbruch der Wut und Gewalt, die sich in der Figur des Amokläufers anstaut und katastrophisch entlädt. Sein Skript für solche gewaltförmigen Entladungen entnimmt er ebenfalls der digitalen Bilderwelt; er findet es in der Perspektive des Ego-Shooters in Computerspielen.Wenn wir über neue Formen der Einsamkeit sprechen, müssen wir besonders auf die Altersgruppe derer eingehen, die den größten Anteil der Nutzer dieser Kommunikationsmöglichkeiten stellt. Die Ökonomie dieser Kommunikation ist nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch die Zeit. Bei vielen Nutzern ist das Facebook-Fenster ganztags geöffnet. Was immer man sonst zu tun hat, es bleibt von den Bewegungen unterlegt, die man dort synchron mitverfolgt. Das soll zu einer Anreicherung der Lebenswelt führen, die dadurch interessanter und überraschungsreicher wird. Da jedoch bei Facebook die Grenze zwischen der virtuellen und der realen Welt ständig überschritten wird, führt auch der exzessive Gebrauch dieses Mediums nicht unbedingt zu einer Entfremdung des Weltbezugs.Das sieht im Falle der Rollenspiele und Computerspiele jedoch ganz anders aus. Seit die Welt der Computerspiele mit einer neuen Kommunikationsplattform vernetzt wurde, über die man sich gegenseitig beim Spielen zuschauen und über den Spielverlauf unterhalten kann, haben sich die Verhältnisse für die Spieler noch einmal dramatisch verändert. Es ist insbesondere die Gruppe der 15- bis 35-Jährigen, die in diese neuen Formen von Unterhaltung und Kommunikation investieren und sich verausgaben. Sie sind die mit Abstand Zahlungskräftigsten, was das Budget der Zeit angeht; 5 bis 10% der Internetnutzer verbringen mehr als 38 Stunden pro Woche im Netz, was tief in ihr Leben eingreift.V. Murali und S. George, "Lost online: an overview of internet addiction", in: Advances in Psychiatric Treatment 13/1 (2007), S. 24-30; M. Shaw and D. W. Black, "Internet addiction: definition, assessment, epidemiology and clinical treatment", in: CNS drugs 22/5 (2008), S. 227-235. Mit diesen Konsumenten steht und fällt der lukrative und weltweit expandierende Markt der Spiele. Neben dem Software- Markt der Game-Designer und Hersteller hat sich inzwischen ein Nebenmarkt etabliert, auf dem virtuelle Gegenstände und hochgespielte Avatare auf eBay versteigert werden. Die Zeit, die man hier investiert, kann unter Umständen in harter Währung zurückgezahlt werden, was den Ansporn zum Spielen weiter antreibt, aber auch neue Hierarchien schafft: Man spielt nicht mehr, man lässt spielen.Seither bauen Jugendliche ihren Lebensmittelpunkt immer öfter in der virtuellen Welt auf. Wer in das Computerspiel FarmVille einsteigt, wo man mit neuen Freunden eine Farm aufbauen und unterhalten kann, geht beachtliche Pflichten und Bindungen ein: Die gesäten Kartoffeln verdorren, wenn sie nicht regelmäßig gegossen und zum richtigen Zeitpunkt geerntet werden. Noch weit ausgeprägter ist das Computerspiel World of Warcraft im wahrsten Sinne des Wortes ein 'Spiel ohne Grenzen'; ohne Grenzen zum einen, was die weltweite Interaktion mit anderen Spielern angeht: Man verbündet sich, tritt man in dieses Spiel ein, mit mittlerweile 11 Millionen Spielern; und zum anderen was die zeitliche Ausdehnung des Spieles selbst angeht. Der Untertitel des Spieles lautet: "Es ist kein Spiel, es ist eine Welt." In diese Welt gibt es einen Einstieg durch Kauf der Software und Unterzeichnung der Spielregeln, zu denen auch ein Anti-cheat-Programm gehört. Es gibt jedoch keinen geregelten Ausstieg wie bei anderen Spielen mit klarem Richtungssinn und eindeutigem Ende, angefangen bei Mensch ärgere Dich nicht bis hin zum Fußballspiel. Das Computerspiel hat deshalb mehr Ähnlichkeit mit einer Religion oder Sekte, die nach dem Schema neuplatonischer Aufstiegsleitern Stufe für Stufe durch einen progressiven Erwerb von Wissenskompetenzen und ein System von Ehrgeiz und sichtbaren Ehrenabzeichen strukturiert ist wie im Falle der Freimaurer-Logen oder der Scientology-Sekte. Das Computerspiel, das an kein 'natürliches' Ende kommt, wird folglich koextensiv mit dem Leben, es wird zum Leben selbst -- permanent online als Lebensform.Es gibt eine wachsende Dunkelziffer von Jugendlichen, die aus ihrem Sozialleben aussteigen, die Schule aufgeben und ihr Studium abbrechen, um ganz in dieser Welt zu versinken. Manche kommen drei Jahre lang nicht mehr aus ihrem Zimmer heraus, einige sterben an Dehydrierung, weil sie nichts mehr trinken. Durch die stetige Entwicklung ihrer fiktiven Persona, den Avatar, in den die Spieler ihre Phantasie, Zeit, Kraft und Geschicklichkeit investiert haben, knüpfen sie ein festes und immer festeres Band mit der anderen Welt, in die sie langsam, aber sicher hinübergravitieren. Das Leben verlagert sich dann immer mehr auf das Abenteuer in der zweiten Welt des Internets. Die Gesellschaft, die sich dort um sie schart, wird zu einer Art von Familie. Es gibt in dieser anderen Welt keinen komplizierten Reflexions- und keinen Entscheidungsbedarf mehr wie im wirklichen Leben, es gibt nur noch den virtuellen Ganzkörpereinsatz an Kraft und Geschicklichkeit für das Gute und gegen das Böse. Gegenüber dieser Quelle der Bestätigung und Anerkennung, aber auch gegenüber der emotionalen Kraft der Spiele und der Gleichgestimmtheit der Mitspieler verblassen realweltliche Beziehungen und Freundschaften; sie atrophieren immer mehr, bis eine Rückkehr in das Hier und Jetzt nicht mehr möglich ist. Das Spiel ist dann kein Spiel mehr, sondern eine Droge für einen nicht mehr freiwillig beendbaren Rausch.ZusammenfassungDurch den Ausbau des Internets hat sich die uns zugängliche Informationsmenge in unvorstellbarem Maße vervielfacht. Wer einen privaten PC besitzt und Zugang zu einem WLAN-Anschluss hat, ist heute an beliebige enzyklopädische Informationen, ganze Bibliotheken und Archive angeschlossen. Gleichzeitig hat sich das Internet immer stärker von einer reinen Informationsquelle in ein Kommunikationsinstrument verwandelt. Nicht weniger stark als der Trieb der Neugier und das Bedürfnis nach Information ist der anthropologisch verankerte Kommunikations- und Interaktionstrieb, dem die digitalen sozialen Netzwerke ganz neue Nahrung geben. Menschen sind offenbar äußerst mitteilsame Wesen. Sie möchten ihre Erfahrungen weitergeben und ihre Vorlieben mit anderen teilen; sie leben mit ausgestreckter Hand auf der Suche nach der anderen Hand, die sie schütteln können. Im Internet haben die Nutzer sozialer Netzwerke überall und rund um die Uhr die Möglichkeit, sich mit Seelenverwandten über ihre Gefühle, Gedanken und Erfahrungen auszutauschen. Formen der Einsamkeit, die auf Mangel an Interaktion und Austausch zurückgehen, werden damit weitestgehend abgeschafft. Von diesen Möglichkeiten machen inzwischen immer mehr Menschen Gebrauch. "Die Mitglieder von Online-Netzwerken", so heißt es, "können nicht mehr anders als in Staatengröße gedacht werden. " Mehr als 734 Millionen Menschen machen inzwischen Gebrauch von solchen Netzwerken.Bernd Graff, "Der entblößte Mensch", in: Süddeutsche Zeitung vom 18./19. Juli 2009, S. 4. Im Deutschen hat sich noch kein Parallelbegriff zu 'internet addiction' eingebürgert. Auch von einer klaren Diagnose ist die Psychopathologie noch weit entfernt, weil hier eine Anzahl von 'Komorbiditäten' und soziokulturellen Rahmenbedingungen als Mitverursacher angenommen werden (siehe FN 18, J. Lahr 2009/10, S. 10-12). Was das Internet sehr gut kann, ist die Vernetzung; Vernetzung garantiert jedoch noch keine Vertiefung. Die muss dann über weitere, zusätzlich Kanäle laufen und gepflegt werden. Man greift deshalb immer öfter zu paradoxen Formeln wie 'intime Fremde' oder 'anonyme Freundschaften', um die neuen Gesellungsformen im Internet zu beschreiben.Neben den schriftbetonten Kommunikationsformen wie E-Mails und Blogs spielen nichtverbaler Kontakt und Austausch eine immer größere Rolle. Die neuen Interaktionsformen sind zunehmend spielerisch und dazu bestimmt, Sympathien zu stabilisieren, Gleichgestimmtheit aufzufinden und phatischen Kontakt zu erneuern. Im Zeichen des Web 2.0 zeichnen sich zwei Trends der Kommunikation im Medienzeitalter ab: die informelle Partizipation an globalen Themen und der spielerische Ausbau persönlicher Interaktion als eine neue Ressource nichtkommerzieller Unterhaltung in der Freundschaftsgesellschaft. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass im Rahmen der digitalen Kommunikationswelten auch neue Formen von Einsamkeit entstehen. Vernetzung ist die strukturelle Grundoperation des Internets, die Medien und Menschen miteinander verknüpft im Tausch von Nachrichten, Bildern, Videos und Spielen. Dabei sollten wir ebenfalls nicht vergessen, dass diese Zirkulation von Informationen und Signalen an zwei Ökonomien angeschlossen ist: die des Geldes und die der individuellen Lebenszeit.Das bedeutet: Das Angebot digitaler Zeitlosigkeit und die Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten in der virtuellen Welt sind durch endliche Ressourcen begrenzt.Eine scharfsinnige Analyse der komplexen Durchdringung von Einsamkeit und Freundschaft im Internet habe ich in einem Gedicht der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson gefunden, die zeit ihres Lebens sehr zurückgezogen lebte und ihr Haus und Grundstück in Amherst Massachusetts jahrzehntelang nicht verlassen hat. 150 Jahre vor der Erfindung von Web 2.0 schrieb sie:"I'm nobody! Who are you?Are you nobody, too?Then there's a pair of us!"Emily Dickinson, "I'm nobody", in: Thomas H. Johnson (Hrsg.), Selected Poems, Boston 1960, S. 133.