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Transit 40 (2010)
2010-11-26
Editorial -- Transit 40 (2010)
Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums ließ das herrschende Narrativ des 20. Jahrhunderts, insbesondere das Bild des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit, über Nacht überholt erscheinen. 1991 traf sich in Wien am Institut für die Wissenschaften vom Menschen eine Gruppe von Historikern aus dem Westen und aus Osteuropa, um über eine europäische Geschichtsschreibung nach dem Ende der Teilung Europas nachzudenken. Daraus erwuchs das Forschungsprojekt Rethinking Post-War Europe, das von 1993 - 1998 unter der Leitung des Historikers Tony Judt am IWM verfolgt wurde. Es markiert einen Paradigmenwechsel in der Historiographie des 20. Jahrhunderts.
Wie Judt damals schrieb, geht es seit 1989 darum, "nicht nur die Folgen der Teilung Europas und der Spaltung der Vergangenheit in eine Vor- und eine Nachkriegsgeschichte zu überwinden, sondern auch eine viel gefährlichere Kluft: die wechselseitige Ignoranz der nationalen Geschichtsschreibungen. Denn sie verhindert die Herausbildung eines für die Zukunft notwendigen neuen Geschichtsverständnisses und -bewusstseins, das sich unserer gemeinsamen europäischen Vergangenheit stellt. Wie diese neue Geschichte aussehen wird, wissen wir noch nicht."Tony Judt, "Europas Nachkriegsgeschichte neu denken", in: Transit 15 (1998) Vom Neuschreiben der Geschichte. Erinnerungspolitik nach 1945 und 1989, S. 3-11. www.iwm.at/transit_online.htm Mit seinem 2005 erschienen Buch Postwar: A History of Europe since 1945, schon heute ein Klassiker, hat diese Geschichte Gestalt angenommen, und eine neue Generation von Historikern arbeitet weiter an ihr.Zu ihnen zählt Timothy Snyder, der am IWM den Forschungsschwerpunkt Vereintes Europa -- Geteilte Geschichte leitet. Vgl. das 2009 unter demselben Titel erschienene Heft 38 von Transit und sein Buch Bloodlands: Europe between Hitler and Stalin, New York 2010.
Tony Judt starb am 6. August 2010. Dieses Heft ist seinem Gedächtnis gewidmet. Timothy Snyders Essay würdigt Leben und Werk des britischen Historikers und dient zugleich als Einleitung zu einem Text, den die beiden gemeinsam verfasst haben. Es handelt sich um das sechste, der Begegnung mit Osteuropa gewidmete Kapitel aus Judts Erinnerungen an die Stationen seines Lebens, denen sich jeweils ein Gespräch anschließt, das persönliche Erfahrungen mit der Tiefenstruktur des 20. Jahrhunderts verknüpft. Dieses Werk, halb Autobiographie, halb zeitgeschichtliche Reflexion, konnte im Sommer 2010 abgeschlossen werden und wird im nächsten Jahr unter dem Titel Thinking the Twentieth Century erscheinen.
Tony Judt war nicht nur ein gelehrter Historiker, sondern auch ein eminent politischer Kopf. In seinen letzten Jahren plädierte er leidenschaftlich für die Erneuerung der Sozialdemokratie. In seinem viel beachteten New Yorker Vortrag vom Oktober 2009 sagte er, dass die Aufgabe "radikaler Dissidenten heute" darin bestehe, an die sozialen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zu erinnern. In unserem "neuen Zeitalter der Ungewissheit" habe die politische Linke etwas zu bewahren. "Die Anstrengungen eines ganzen Jahrhunderts aufzugeben, ist Verrat nicht nur an denen, die vor uns da waren, sondern auch an künftigen Generationen.""Was ist lebendig und was tot an der sozialen Demokratie?", in: Berliner Republik, 2 (2010), www.b-republik.de. Der ausgearbeitete Vortrag erschien 2010 unter dem Titel Ill Fares the land. A treatise on our present discontents bei Penguin.
Um unser "Zeitalter der Ungewissheit" und die Tragfähigkeit der sozialen Solidarität geht es auch im Schwerpunkt des vorliegenden Heftes.Ein Teil der Beiträge geht zurück auf die Konferenz On solidarity V: Social solidarity and the crisis of economic capitalism, die das IWM am 16. und 17. Oktober 2009 im Rahmen seines Forschungsschwerpunkts Ursachen von Ungleichheit / Soziale Solidarität organisiert hat. Wie können wir auf die gegenwärtige Krise des Kapitalismus antworten? Das Versagen der Märkte und die wachsende Ungleichheit stellen eine Herausforderung für Demokratie und Sozialstaat dar, die sich vielleicht am deutlichsten im gegenwärtigen Aufstieg des Populismus auf beiden Seiten des Atlantiks zeigt.
Der einleitende Essay von Cornelia Klinger legt die Voraussetzungen des modernen, in sich spannungsvollen Begriffs der Gerechtigkeit frei, der sich aus den drei Parolen der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ableiten lässt. Claus Offe untersucht das Konzept der "shared social responsibility" als Leitprinzip für eine europäische soziale Ordnung. Ulrich K. Preuß diagnostiziert die gegenwärtige Situation als Krise eher des durch die Globalisierung geschwächten Staates denn als eine des Kapitalismus, dessen Zähmung dem Staat nicht mehr gelingen will.Zum ersten Mal publiziert Transit hier Beiträge in englischer Sprache. Sie werden auch in Zukunft die Ausnahme bleiben. Während Jacques Rupnik die Schwierigkeiten der postkommunistischen Länder untersucht, das mittlerweile selbst in Turbulenzen gekommene westliche Modell zu adaptieren, versuchen Robert Kuttner und Katherine Newman zu erklären, warum die demokratische Linke in den USA (und anderswo) von der gegenwärtigen Krise in die Defensive getrieben wurde, statt von ihr zu profitieren. Frydman und Goldberg machen die herrschende Markttheorie für den Kollaps des Finanzmarkts verantwortlich: Ihre Anhänger haben, so die Autoren, in ihrem Glauben an die Rationalität der Märkte die Fehler der Planwirtschafts-Ideologen wiederholt, mit ähnlich fatalen Folgen. Eine derartige "Anmaßung von Wissen" hätte auch Friedrich von Hayek verdammt. Jan-Werner Müller zeigt in seiner abschließenden Würdigung, warum dieser Denker des Liberalismus keineswegs überholt ist.
Der diesjährige Nobelpreis ging an den peruanischen Romancier und öffentlichen Intellektuellen Mario Vargas Llosa. Wir nehmen dies zum Anlass, seine Jan Patocka-Gedächtnisvorlesung wiederabzudrucken, die er 1993 in Wien gehalten hat. Llosas radikale Kritik des Nationalismus hat vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklungen nichts an Aktualität eingebüßt.
Den photographischen Essay dieses Heftes hat der deutsche Künstler Tobias Zielony gestaltet. Er gehört zu einer neuen Generation von Photographen, die eine Erneuerung der klassisch dokumentarischen Photographie anstreben. Zielony porträtiert Jugendliche in den Vorstädten von Marseille, in Halle-Neustadt, Bristol oder Neapel. Mit seinen Bildern von Ausgegrenzten hat er eine Metapher für jene Orte gefunden, an denen der Sozialstaat nicht mehr greift. Dabei steht weniger die Dokumentation der realen Verhältnisse im Zentrum, als vielmehr die Selbstinszenierung der Protagonisten, die eine dichte Atmosphäre entstehen lässt. Den Hintergrund der Serie in diesem Heft bildet Trona, eine Kleinstadt am Rande des Death Valley, die einst ein urbanes Vorzeigeprojekt war. Seit der Schließung einer großen Chemiefabrik ist sie durch Arbeitslosigkeit gezeichnet und zu einem ein Ort der Tristesse geworden, der sich selbst überlassen ist.
Wien, im Oktober 2010