Wolfgang KerstingWolfgang Kersting / MerkurEurozineMerkurMerkur 736/737 (2010) (German version)2010-09-14Gefährdungen der FreiheitÜber die Notwendigkeit des Liberalismus
Anfangs, so heißt es in der Kantischen Erzählung vom Muthmaßlichen Anfang der Menschengeschichte, leitete der natürliche Instinkt, "diese Stimme Gottes", den Menschen, und alles war gut. "Allein die Vernunft fing bald an sich zu regen", und der Mensch "entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen und nicht gleich anderen Thieren an eine einzige gebunden zu sein". Diese neugewonnene Freiheit war aber mehr Last als Lust, denn Maßlosigkeit birgt in sich die Gefahr der Selbstzerstörung. Um diese abzuwenden, muss die neugeborene Vernunft das Erhaltungspensum, das bislang durch die Natur erbracht worden ist, selbst auf sich nehmen. Die emanzipierte Vernunft muss zu einer kompensatorischen Vernunft werden. Sie muss Ersatz schaffen für das mit der Geburt der Freiheit weggefallene Naturregiment. Sie muss die in Unordnung geratene Begehrlichkeit durch eine Ordnung des Begehrens besänftigen, der Freiheit ohne natürliches Maß durch eine Verfassung des Handelns Gestalt geben.
Man kann Kants menschheitsgeschichtlichen Anfang als liberale Urszene deuten. Sie entwickelt in äußerster Prägnanz die Grammatik liberalen Ordnungsdenkens unter den Gegebenheiten von Freiheit und Knappheit. Drei fundamentale Grundsätze lassen sich ausmachen: Erstens ist Ordnung eine anthropologische Unerlässlichkeit. Zweitens muss diese Ordnung als Ordnung der Freiheit verstanden und entwickelt werden, als Regelwerk der Handlungskoordination, als Rahmenwerk der Konkurrenz, die ein spannungsvolles und produktives Zugleich von Wettbewerb und Kooperation ermöglicht. Drittens ist eine Ordnung nur dann eine Ordnung der Freiheit, wenn sie nicht nur Freiheit ordnet, sondern auch selbst Ausdruck der Freiheit ist: wenn sie sich der Selbstgesetzgebung der ihr unterworfenen Individuen verdankt.
Erst der Staat lässt uns leben, gibt uns Zukunft. Politik ist die dauerhafte Beendigung von Ausnahmezustand und Grenzsituation. Daher kann der Wechsel vom Naturzustand zum Staat auch als Übergang von der Notwendigkeit der Überlebenssicherung zur Möglichkeit der Lebensführung charakterisiert werden. Die politische Ordnung setzt die Herrschaft der Normalität durch; und Normalität herrscht dann, wenn durch die staatlichen Sicherheitsleistungen und die Festigkeit der Institutionen die elementaren Voraussetzungen für menschliches Glück und Handlungserfolg, für existentielle Selbstentwicklung und ethische Selbstverwirklichung zur unauffälligen Selbstverständlichkeit geworden sind, wenn Gewalt aus dem zwischenmenschlichen Raum verbannt ist, Zukunftsvertrauen besteht, Erwartungen handlungsleitende Stabilität gewinnen und wechselseitige Verlässlichkeit herrscht.
Aber nur dann findet diese staatliche Ordnung allseitige Zustimmung, wenn sie nicht der Durchsetzung besonderer moralischer, ethischer oder religiöser Vorstellungen dient, sondern ausschließlich eine Ordnung der Handlungsfreiheit ist, die jedem einen gleich großen Freiheitsraum zuteilt, in dem er in völliger ethischer und religiöser Unabhängigkeit sein Leben gestalten kann. Und dann ist diese Gesetzesordnung eine Ordnung der Freiheit, wenn die Gesetze ihre Legitimität von der Zustimmung der Bürger abhängig machen, also wenn sie demokratischer Natur ist.
Freiheit benötigt neben Rechtssicherheit auch eine -- wie Wilhelm von Humboldt es formuliert hat -- "Mannigfaltigkeit der Situationen". Gemeint ist damit: Sie benötigt einen uniformitätsfreien, teleokratisch offenen gesellschaftlichen Raum. Sie muss daher jeden Staatsinterventionismus zurückweisen, der durch Machtinstrumente den gesellschaftlichen Handlungsfeldern zurichtend und abrichtend die Kontingenz austreibt. Liberale Gesellschaften sind kontingenzoffene Gesellschaften, Möglichkeiten suchende und Chancen eröffnende Gesellschaften. Sie folgen keinem Plan, dienen keinem irdischen Ziel und keinem religiösen Sinn. Der Himmel über ihnen ist leer, und ihr geschichtlicher Weg ist nicht vorhersehbar. Sie sind zur Modernität verdammt, entschieden antimetaphysisch und müssen auf alle Instanzen traditioneller Kohärenzsicherung verzichten. Ihre Patrone sind die Reflexionsikonen Odysseus und Münchhausen: Odysseus, weil dieser sich zur Verbesserung seiner Nutzenposition selbst gebunden hat; und Münchhausen, weil dieser, jeder Fremderhaltung unbedürftig, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen hat. Liberale Ordnungen vermögen es, aus sich selbst heraus eine spontane Ordnung zu entwickeln, sich selbst zu organisieren.
Betrachtet man diese liberale Ordnung aus der Perspektive der von ihr abgelösten Vergangenheit, dann erscheint sie als eine Ordnung des Negativen. Sie ist eine Ordnung des negativen Friedens, der negativen Freiheit, der negativen Gerechtigkeit. Negativen Frieden stiftet sie, da sie die Gewalt aus der Gesellschaft vertreibt; negative Freiheit ermöglicht sie, da sie alle Bindungen unter das Legitimationsmerkmal der Freiwilligkeit stellt; und negative Gerechtigkeit herrscht in ihr, da rechtsstaatlich garantiert wird, dass die Individuen in ihrer Willkür ausschließlich durch formale und allgemeine Verbotsregeln eingeschränkt werden.
Eine Ordnung des Negativen ist die liberale Ordnung also, weil sie eine Kollektivordnung der Abwesenheiten ist, der Abwesenheit von Gewalt, Zwang, herrschaftsrechtlicher Abhängigkeit und paternalistischer Bevormundung. Dass diese Negativität immer noch negativ beurteilt wird, als Makel und Mangel angesehen wird, beweist, dass der Liberalismus argumentationspolitisch und mentalitätspolitisch versagt hat: argumentationspolitisch, weil es ihm nicht gelungen ist, die Legende von der legitimationstheoretischen Konkurrenz negativer und positiver Freiheit zu zerstören und den Mythos von der positiven Freiheit als der legitimationstheoretisch überlegenen normativen Orientierung semantisch zu entlarven; mentalitätspolitisch, weil er es nicht geschafft hat, das Unbehagen an der Moderne umzudrehen und den Bürgern klarzumachen, welche Ausweitung an Lebensführungschancen sich hinter den modernitätsspezifischen Zumutungen der Individualisierung und Pluralisierung verbergen.
Die liberale Offenheit eigener Lebensgestaltung in einem Raum gewaltfreien Wettbewerbs behagt vielen nicht. Sie wollen nicht negativen Frieden und negative Gerechtigkeit; sie sind zumeist von einer pubertär-moralischen Sehnsucht nach ethischen Vollkommenheitsszenarien und religiösen Heilszuständen erfüllt. Und in einem Leben auf solche utopischen Horizonte hin soll dann die Existenz den begehrten Sinn, die Freiheit die wertvollere positive Färbung bekommen. Paradoxerweise wird damit Freiheitszerstörung als überlegene Freiheit ausgegeben; erst dann erweist sich der Mensch diesem Verständnis zufolge als eigentlich frei, wenn er sich den Imperativen erfüllten Menschseins unterwirft, die wohlgemerkt nicht in der Boutique der Postmoderne einschlägig Sinnbedürftigen ein harmloses existentielles Angebot machen, sondern sich als absolute Wahrheit verstehen, die sich nicht scheut, zu ihrer Durchsetzung auch auf Feuer und Schwert zurückzugreifen.
Für Wilhelm von Humboldt, Kant und den klassischen Liberalismus war mit der Errichtung einer rechtsstaatlich organisierten und demokratisch regierten Marktgesellschaft das Ziel der Politik erreicht. Allen Forderungen der Gerechtigkeit war in einer solchen Ordnung Genüge getan. Diejenigen, die mehr Gerechtigkeit wollten, als Rechtsstaat und Marktgesellschaft lieferten, als die Gleichheit vor dem Preis und die Gleichheit vor dem Recht garantieren konnte, durften sich nicht mehr an die Politik wenden; sie mussten zur Religion ihre Zuflucht nehmen und auf die Kompensationsleistungen postmortaler Sanktions- und Gratifikationssysteme hoffen.
Jedoch bei dieser Arbeitsteilung zwischen irdischer Freiheitsordnung und jenseitiger Heilserfüllung ist es nicht geblieben. Der Anspruch an die institutionellen Rahmenbedingungen individueller Lebensplanung ist in der individualistischen Moderne unaufhörlich gestiegen. Der Bereich der politischen Verantwortlichkeit weitete sich stetig. Der Rechts- und Verfassungsstaat wandelte sich zum Sozialstaat, der tief in die wirtschaftlichen Abläufe und gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen eingriff. Die Verantwortlichkeiten der Bürger wurden ausgedünnt, die Zuständigkeiten des Staates hingegen wuchsen weiterhin. Kämpfte er ursprünglich an den Grenzen der Normalität gegen den eindringenden Naturzustand, so wurde er im Gewand des Sozialstaats, unter den Bedingungen demokratischer Herrschaft, allgegenwärtig, aufdringlich. Eine stetig wachsende Bürokratie der Beobachtung, Betreuung und vorauseilenden Sorge entstand.
Anfänglich ging es nur um die Domestikation des Leviathans, um den Schutz der Bürger vor dem Golem, den sie selbst geschaffen hatten, um sich voreinander zu schützen. Durch institutionelle Fesseln unterschiedlichster Art wurde seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Seine wilde Natur wurde durch die Moral der Menschenrechte besänftigt; und sein entschlossen zupackendes, entscheidungsschnelles Wesen durch die mühselige Konsensfindungsmaschinerie der demokratischen Organisationen gelähmt. Doch mit Einrichtung und Ausbau des Sozialstaats endete dieser Prozess der Selbstermächtigung der Bürger. Es kam zu einer Erneuerung des leviathanischen Tauschgeschäfts. Jetzt jedoch wurde nicht Lebensschutz gegen Rechtsgehorsam getauscht, sondern Loyalität mit der Sicherung dynamisierter Lebensqualität vergolten. So wurde es zur bürgerlichen Gewohnheit, den Staat für alle Lebensumstände verantwortlich zu machen, ihn, wie früher die Götter, als Schutz gegen alle Widrigkeiten des Schicksals anzurufen. Und er hat, anders als die Unsterblichen, den Gläubigen stets Gehör geschenkt.
Liberale Ordnungspolitik wird so den machtpolitischen Verheißungen einer benevolenten massendemokratischen Wählerbewirtschaftung geopfert. Die zur dürftigen moralischen Tarnung gern aufgegriffene Totalverantwortlichkeitsunterstellung stützt sich auf ein begrifflich diffuses und normativ vages sozialstaatliches Legitimationskonzept, das Maßlosigkeit begünstigt und allen Begehrlichkeiten der organisierten Interessengruppen moralische Rückendeckung verspricht. Sozialstaatliche Staatszweckbestimmung schwankt zwischen den Zielen der Daseinsfürsorge und der Verteilungsgerechtigkeit, zwischen kompensatorischer Ungleichheitsminderung und Chancengleichheitsgewährleistung, zwischen bedürfnisorientierter Grundversorgung, exklusionsverhindernder bürgerlicher Solidarität, flächendeckender Diskriminierungsabwehr und kulturellem Identitätsschutz.
Und so unübersichtlich der Begriff, so unübersichtlich auch die bürokratische Wirklichkeit. Die Ordnungen der Sicherheit und Freiheit drohen unter dem Druck überbordender Verantwortlichkeit und Zuständigkeit zu zerbrechen. Im Gestrüpp der wuchernden leistungsstaatlichen Bürokratie blüht Misswirtschaft, greifen Zerfall und Korruption um sich. An der Komplexität der Institutionen der sozialstaatlichen Eingriffsverwaltung verschleißt sich die Gestaltungskraft der politischen Intelligenz. Jede Problemlösung erzeugt aufgrund der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse und der kognitiv undurchdringlichen Regulationsdichte der rechtlichen Regelungen nicht vorhersehbare neue Probleme. Die sozialstaatliche Politik wird unordentlich, das Gemeinwesen wird unregierbar.
Und nach wie vor wird diese horizontlose Flickschusterei begleitet von einem vollmundigen Moralismus, von einem Sekuritäts- und Gerechtigkeitspopulismus, der weder die ökonomischen noch die moralischen Folgen seines partei- und verbandspolitischen Egoismus bedenkt. Dem Ziel der "Vergerechtlichung" (Bernhard Schlink) aller Lebensverhältnisse verschrieben, ist der Staat immer weniger imstande, seiner fundamentalen Aufgabe der Ordnungsvorsorge gerecht zu werden, stabile Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Lebens zu garantieren, in denen die Bürger ein Leben mit Eigenbeteiligung führen und ein selbstverantwortliches Risikomanagement entwickeln können.
Im öffentlichen Bewusstsein scheint der Sozialstaat -- da sind wir zum Opfer unserer eigenen angestrengten Gerechtigkeitsrhetorik geworden -- so etwas wie ein Moralresiduum, ein Moralrefugium zu sein, das die Auswirkungen der Verbindlichkeitserosion der Moderne erträglich macht. Einen solchen Sozialstaat zu haben macht uns einfach zu besseren Menschen, bezeugt unsere moralische Qualität. Der Neoliberalismus, der der Räson des Marktes den Vorrang einräumt und den Staat der Inkompetenz verdächtigt, muss dann als Moralzerstörer erscheinen. Diese Sichtweise ist natürlich ungemein verkürzend: Diejenigen, die im Sozialstaat eine Höhle erblicken, in der die Moral in der kalten Jahreszeit des Kapitalismus überwintert, irren sich beträchtlich. Der Sozialstaat ist kein Ort ethischer Exzellenz, er erzieht nicht zur Moral. Seine Anreizsysteme begünstigen den Egoismus nicht minder als der Markt: Die Menschen betreiben ihre Versorgungskarrieren im Sozialstaat mit der gleichen egozentrischen Konzentration wie ihre Erfolgskarrieren auf dem Markt.
Mit dem Übergang von der spontanen, lebensweltlichen Solidarität zu einem verrechtlichten, ökonomisierten und staatlich verfassten Wohlfahrtssystem sind nicht nur die ökonomischen Kosten sprunghaft angestiegen, sondern auch die moralischen. Der Sozialstaat der demokratischen Massengesellschaft hat einen strukturellen Entmündigungseffekt: Immer mehr Bürger werden zu Klienten und der Selbständigkeit entwöhnt. Der Wohlfahrtsstaat wird Opfer eines von ihm selbst erzeugten Automatismus der Erwartungssteigerung. Immer mehr und immer besser organisierte Gruppen von Klienten und Anspruchserhebern entstehen, immer neue Wohlfahrtsangebote tauchen auf der Verteilungsagenda der Sozialpolitik auf. Bekräftigt wird dies alles noch durch die interne Logik unserer Schumpeter-Demokratie: Der um Wiederwahlstimmen werbende Politiker lockt mit Angeboten aus dem scheinbar nie versiegenden Füllhorn des kapitalistischen Wohlfahrtsstaats. Die sich in jeder Haushaltsdebatte wiederholenden Selbstverpflichtungen zur Kürzung der Ausgaben, zum Abbau der Subventionen und zur Strukturreform der Sozialversicherungen sind folgenlose Rituale; die Bedingungen demokratischer Machtgewinnung sind für eine Politik der Leistungsminderung, Anspruchsernüchterung und der energischen Ermutigung zur Selbstverantwortung und Selbständigkeit nicht günstig.
Der wachsende Wohlfahrtsstaat erzeugt sein eigenes kulturelles Binnenklima. Er hat die zurückliegenden Dekaden gut genutzt. Er ist den Bürgern unter die Haut gegangen, hat ihr Denken, Handeln und Fühlen geprägt. Er ist ein Seelenbildner, der sich den Menschen nach seinem Bilde erschaffen hat. Vor dem Hintergrund der liberalen Freiheitsethik ist dem expansiven Wohlfahrtsstaat der Gegenwart entschieden der Vorwurf der moralischen Kontraproduktivität zu machen: Er betreibt zügig die Abschaffung der Selbständigkeit, er verhindert Bürgerlichkeit. Während der Markt ein System der wechselseitigen Verstärkung ökonomischer und selbstverantwortungsethischer Anreizstrukturen bietet, eigenverantwortliche Lebensführung und ökonomische Erfolgssuche strukturell harmonisiert, treten verantwortungsethisches und ökonomisches Anreizsystem im Wohlfahrtsstaat in ein polemisches Verhältnis.
In demselben Maße, in dem im solidaritätsbegründeten Wohlfahrtsstaat die Berechtigten zu Klienten werden und ökonomisch orientiertes Verhalten an den Tag legen, möglichst große private Ausnutzungsmargen suchen und sich politisch organisieren, um ihre gruppenbezogene Gesamtzuteilung zu erhöhen, verkümmern die verantwortungsethischen Anreize, die Selbstbeanspruchungsbereitschaft und das pure, nach Unabhängigkeit von fremden Erhaltungsleistungen trachtende Selbständigkeitsbedürfnis. Die Bürger haben längst die staatliche Sicht der Dinge unternommen. Ihre existentielle Grammatik ist durch und durch welfaristisch konditioniert. Der Gewährleistungsbereitschaft des Staates korrespondiert eine umfassende bürgerliche Schutzforderung. Diese Selbstklientelisierung des Bürgers löst diesen aus dem Horizontalgeflecht der Gesellschaft, aus ihren Lernprozessen und Anpassungszwängen und stellt ihn in eine obrigkeitliche Vertikale. So wie im Protestantismus jedes Individuum unmittelbar zu Gott steht, so steht der Sozialstaatsklient zum Staat. Dies erklärt vielleicht auch, warum der Protestantismus solche Schwierigkeiten hat, die kapitalistische Wirtschaftsgesellschaft anzuerkennen, und ein so intimes, von keinerlei Bürgerskepsis getrübtes Verhältnis zum Sozialstaat entwickelt hat, wohingegen dem auf das Subsidiaritätsprinzip eingeschworenen Katholizismus diese Einstellung komplementärer Kapitalismusverteufelung und Welfarismusdivinisierung eher fremd ist.
Liberale dürfen sich von der alles umspülenden Gerechtigkeitsrhetorik der Parteien, Verbände, Interessengruppen und Kirchen nicht beeindrucken lassen. Sie müssen den Mut aufbringen, ihrem großen Theoretiker Friedrich August von Hayek zu folgen und sich zu einer öffentlichen Bekämpfung des Gerechtigkeitsbegriffs aufraffen. Als Füllhorn der Verteilungsgerechtigkeit entbehrt der Sozialstaat aller Legitimität. Er ist nur als freiheitsdienliche Veranstaltung grundrechtlich legitimierbar, die für formale Chancengleichheit sorgt, eine Grundversorgung der Selbstversorgungsunfähigen sichert, Marktpflege betreibt und mit effektivem marktwirtschaftlichen Instrumentarium zur Selbständigkeit ermutigt und individuelle Autonomie fördert. Der Sozialstaat muss auf die machtpolitischen Gewinne der Versorgungs- und Betreuungsstrategien verzichten, das Linsengericht-Agreement, in dem Freiheit gegen Versorgung, gegen das "Ideal der komfortablen Stallfütterung" (Wilhelm Röpke) eingetauscht wurde, rückgängig machen und den Bürgern ihr freiheitsrechtliches Erstgeburtsrecht zurückgeben.
Wollen wir die Freiheit aus ihrer wohlfahrtsstaatlichen Gefangenschaft befreien, müssen sich Staat und Bürger gleichermaßen ändern. Die sozialstaatlichen Entlastungen werden zurückgeschraubt werden müssen. Die Individuen werden in weit höherem Maße als bisher sich über den Markt mit risikominimierenden Versicherungen versehen müssen. Mehr als ein residualer Sozialstaat wird der Sozialstaat der Zukunft nicht sein können, mehr als eine gerade einmal die Not wendende Grundversorgung wird er nicht mehr finanzieren können. Notwendig ist ein Abbau der staatlichen Zuständigkeiten, eine Korrektur der Verantwortungsverteilung. Die dem Staat aufgehalsten und nur zu gern von der zustimmungssüchtigen Parteipolitik übernommenen Verantwortlichkeiten müssen von den Bürgern zurückgenommen werden.
Der liberale Prozess der Selbstermächtigung der Bürger, der mit der Einrichtung des Sozialstaats zum Erliegen kam, muss wieder aufgenommen und weitergeführt werden. So wie die Bürger aus Sorge um ihre Freiheit den Leviathan des Absolutismus zivilisiert, ihn aus einer furchterregenden Schutzveranstaltung in eine politische Selbstorganisation der Bürgerschaft verwandelt haben, so müssen sie sich jetzt daranmachen -- wiederum aus Sorge um ihre Freiheit, aber vor allem auch aus Sorge um die dem Leviathan des Lebensschutzes abgerungene Ordnung der Freiheit -- , den Sozialstaat zu zivilisieren, ihn auf ein System bedürfnisorientierter Grundversorgung zu reduzieren. Sie müssen lernen, wieder ein Leben mit wachsender Eigenbeteiligung zu führen.
Das aber ist mühsam, denn die liberale Ordnung ist zumutungsreich und unbequem. War die Vorzugswürdigkeit der individuellen Freiheit im Schatten des Eisernen Vorhangs geradezu selbstevident, vergisst man in der Weite des Weltmarktes, warum sie ein schützenswertes Gut sein könnte. Menschen scheuen vor offenen Räumen zurück, sie leiden an einer existentiellen Agoraphobie, haben einen großen Bedarf an Grenzen, an Übersichtlichkeit und Nähe, an Weisung, Orientierung und Sinn, an sozialer und metaphysischer Sicherheit. Wird dieser Bedarf nicht mehr gedeckt, wird die kulturelle Umwelt für sie unbekömmlich. Und das Gespann von Liberalismus und Kapitalismus vermag diesen Bedarf bei weitem nicht zu decken. Denn beide sind die zentralen kulturellen Produktivkräfte der zerstörerischen Moderne.
Ihrer emanzipatorischen Dynamik konnte nichts standhalten. Sie haben Ordnungen aufgelöst, Bindungen gelockert, Autoritäten gestürzt, Gewissheiten abgeschafft. Sie haben individualisiert und pluralisiert. Die Ressourcen kollektiver Sinnstiftung sind versiegt, denn kollektive Sinnstiftung gelingt nur in den geschlossenen Systemen der Religion und der Geschichte. Die Religion wird im Liberalismus zu einer privaten Angelegenheit, und die Geschichte verliert ihre Richtung, ist nur noch richtungslose Linearität. Das moderne Individuum steht unter offenem, leerem Himmel. Kapitalismus und Liberalismus haben das Individuum auf sich selbst zurückgeworfen und mit den Zumutungen der Selbstermächtigung, des eigenverantwortlichen Lebensmanagements alleingelassen.
Diesen Zumutungen sind wir aber offensichtlich kaum gewachsen. Wir sperren uns gegen das uns vom Liberalismus abverlangte Modernitätspensum und pflegen unsere obrigkeitsethische Anhänglichkeit, verstecken uns hinter dem Sozialstaat. Die Entwicklung unseres Seelen- und Gefühlshaushalts, unserer lebensethischen Kapazitäten hat mit der Entwicklung unserer Konsumgewohnheiten nicht Schritt gehalten. Wir haben es bis zum Konsumindividualismus gebracht, zum Verantwortungsindividualismus sind wir aber noch nicht fähig. Wir wollen Gewissheit und Steuerung, sehnen uns nach Sicherheit und Geschlossenheit, betrachten den Sozialstaat als eine Gemeinschaft des Guten und dichten dem Staat die Weisheit an, die Kinder bei Erwachsenen vermuten.
Kant mag recht haben, als er in seiner Friedensschrift schrieb, dass das Problem der Staatserrichtung "selbst für ein Volk von Teufeln" auflösbar sei -- vorausgesetzt: das Teufelsvolk besitzt Verstand. Liberale hingegen brauchen mehr als Verstand, mehr als ausbeutungsimmune Regelsysteme und kluge Anreizstrukturen. Liberale brauchen auch Tugenden. Tugenden sind zweckdienliche Tauglichkeiten und Tüchtigkeiten. Liberale Tugenden wären solche Fertigkeiten, Verhaltensdispositionen und Einstellungsmuster, die sich aufgrund unserer Erfahrung und Menschenkenntnis als nützlich für die Herausbildung, biographische Stabilisierung und politische Artikulation liberaler Bürgerlichkeit erweisen. Dabei ist zu beachten, dass es kein zeitlos gültiges Tugendrepertoire der politischen Existenzform gibt. Der liberale Bürger kann schon darum nicht sonderlich viel vom republikanischen Bürger der aristotelischen Tradition lernen, weil das Leben in der Moderne weitaus riskanter ist als das Leben in einer sozial homogenen, stark wertintegrierten, von den Zerdehnungskräften des Individualismus wie von den Entfremdungswirkungen des Universalismus gleichermaßen verschonten Traditionswelt.
Der liberale Bürger benötigt modernitätsspezifische Tugenden, reflexive Tugenden, in denen sich die Besonderheit des Lebens in der Moderne ausdrückt, er muss komplexitätsfähig sein und den Toleranzbedarf des Pluralismus mit der Fähigkeit eines selbstbewussten Vertretens liberaler Eigenart verknüpfen, er muss Ungewissheit ertragen und den Verführungen des Einfachen widerstehen können, und er muss in hohem Maße kooperationsfähig und zu einer gemeinsamen Erarbeitung politischer Zielvorstellungen und ethischer Selbstverständigung in der Lage sein; er darf die Bereitschaft, diese komplizierteste Lebensform, die in der Weltgeschichte bislang entwickelt worden ist, zu verteidigen, nicht einem neutralistischen Quietismus opfern.
Tugenden müssen gelernt werden; Bürger fallen nicht vom Himmel, und eine liberale Gesellschaft sollte die Ausbildung liberaler Bürgerlichkeit nicht dem Zufall überlassen. Diese Argumentationslinie hat den Vorzug, die funktionalistische Schieflage zu vermeiden, in die ein Großteil der Liberalismuskritik gerät. Selbst wenn es stimmen sollte, dass die liberale Gesellschaft ihren Integrationsbedarf bislang aus noch sprudelnden ethischen Quellen längst verblichener Traditionswelten gedeckt hat, hilft uns das ja nicht weiter. Traditionen sind wahrheitsdurchwirkt und können daher nicht künstlich wiederbelebt werden; diejenigen, die wieder Religion und Metaphysik wegen ihrer willkommenen integrativen Wirkungen einführen wollen, verachten beides, die Deutungssysteme der Tradition und die liberale Gesellschaft der Gegenwart.
Der Liberalismus ist zweifellos ein überaus fragiles Projekt der politischen Moderne, aber es ist illusionär, es durch manipulativ eingesetzte Traditionsimitate instrumentalistisch stabilisieren zu können. Der Liberalismus ist eine anspruchsvolle Ordnung, die der Loyalität der Bürger, ihrer affektiven Bejahung und aktiven Mitarbeit bedarf. Gehen dem Liberalismus die Bürger aus, wird er unbekömmlich, die politische Welt verödet, die Kultur der Distanz verschwindet, das Recht wird feige und eine Diktatur des Moralismus entsteht. Der Liberalismus muss sich also selbst als ein Gut begreifen und nicht zögern, in ethischer Parteilichkeit und aus politischem Selbstinteresse durch engagierte Vertretung der Belange der Freiheit und durch couragierte politische Erziehung für seinen Fortbestand zu sorgen.
Das ihm eingeschriebene Ideal ist eine Gesellschaft, in der alle gleiche Chancen haben, ein ihren Talenten, Begabungen und frei entwickelten Interessen entsprechendes Leben zu führen. Nun gibt es ethisch-religiöse Lebensentwürfe, die an gesellschaftlicher Teilhabe nicht interessiert sind, die geradezu den Kontakt mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit meiden, weil sie die Einflüsse einer säkularen, individualistischen Gesellschaft fürchten. Muss nicht eine Politik der Chancengleichheit diesen Lebensentwürfen genau dasselbe Recht auf Verwirklichung zubilligen, das sie den Lebensentwürfen einräumt, die aus der Mitte der individualistischen Gesellschaft stammen und deren individualistisches Ethos spiegeln? Schließlich kann eine moderne Gesellschaft ihre Rechts- und Chancenzuteilung nicht an ethisch-religiöse Präferenzen binden.
Aber hier ist an die menschenrechtliche Wurzel des Konzepts der Chancengleichheit zu erinnern. Menschenrechtswidrige Behandlungsweisen erfahren auch dann nicht durch ein Recht auf gleiche Lebenschancen gerechtigkeitsethische Rückendeckung, wenn sie Bestandteil identitätsbildender kultureller Praktiken und religiöser Überzeugungssysteme sind. Zwar gehört Neutralität gegenüber den unterschiedlichen individuellen und kollektiven Konzeptionen eines guten Lebens zu den vornehmsten Grundsätzen der modernen liberalen gesellschaftlichen Ordnung. Da aber dieses Neutralitätsprinzip seinerseits Ausdruck des menschenrechtlichen Egalitarismus, des gleichen Rechts eines jeden ist, sein Leben innerhalb der Gesetze des demokratischen Gemeinwesens selbst zu bestimmen, schließt sittlich-ethische Neutralität keinesfalls eine indifferente Haltung gegenüber menschenrechtswidrigen kulturellen Formationen ein.
Die integrationspolitischen Herausforderungen an den Liberalismus wachsen, und sie wachsen um so mehr, je moderner die Moderne wird, je mehr die kulturelle Homogenität unter dem Pluralismusdruck verschwindet. In einer multiethnischen Gesellschaft der vielen Kulturen, Religionen und Geschichten fallen alle Instanzen aus, die traditionellerweise die Last der sozialen Kohärenz und der politischen Integration getragen haben. Weder kann man sich auf die Gemeinsamkeit der Nation noch auf die Gemeinsamkeit der Geschichte berufen. Denn die Migrationsgesellschaften der Gegenwart und Zukunft vereinigen Gruppen mit je eigenen Geschichten. Sie haben darum keine gemeinsame Vergangenheit, folglich auch keine geteilte politische Mythologie und Symbolik. Bestenfalls haben Migrationsgesellschaften eine gemeinsame Zukunft. Damit sie diese aber haben können, bedürfen sie eines Gemeinsamkeitsfundaments, das nur aus den Materialien des menschenrechtlichen Universalismus, aus den Elementen des Liberalismus gebaut werden kann. Dieses Gemeinsamkeitsfundament muss verteidigt werden, nach innen wie nach außen. Und dazu gehört eine Politik der liberalen Chancengleichheit, die sich durch identitätspolitische Einreden und Sonderrechtsansprüche kultureller Eigentümlichkeiten nicht beirren lässt.
Grenzenlose Toleranz ist Ausdruck ethischer Charakterlosigkeit und eines überzeugungsleeren Relativismus, ist wie grenzenlose Freiheit ein aporetisches, selbstzerstörerisches Konzept. Das Vernünftige kann nicht das Unvernünftige tolerieren. Der Demokrat kann nicht den Demokratieverächter tolerieren. Der Anhänger des menschenrechtlichen Egalitarismus kann nicht die menschenrechtswidrigen Praktiken fremder Kulturen und Religionen tolerieren. Fundamentalismus ist Menschenfeindschaft. Nicht die Gruppe, sondern das Individuum ist der Protagonist und damit auch der Schutzbefohlene menschenrechtlicher Ordnungen.
Alle weltanschaulichen und religiösen Überzeugungssysteme, die die modernitätstypische laizistische Scheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten nicht kennen, haben ihr liberales Damaskus noch vor sich, und solange sie das fällige Ausdifferenzierungspensum des Sittlich-Religiös-Kompakten in Recht, öffentlich-demokratische Diskursmoral und private Sittlichkeit noch nicht hinter sich gebracht haben, stellen sie innerhalb der modernen Gesellschaft ein Konfliktpotential dar, das diskursiv und argumentativ nicht entschärft werden kann.
Wenn die Konflikte zwischen den vernünftigen Überzeugungen und der fundamentalistischen Unvernunft den Bestand der Bürgerkultur gefährden, die Demokratie zerstören und die politische Gerechtigkeitsordnung umstürzen, dann erlischt die Toleranzpflicht. Wenn unvernünftige Lehren Einfluss auf die Politik nehmen und die staatliche Macht benutzen wollen, um ihre undemokratischen, menschenrechtswidrigen und illiberalen Vorstellungen zu verwirklichen, dann muss die Ordnung des politischen Liberalismus sich verteidigen. Und sie tut dies am besten, indem sie die unvernünftigen Lehren von Anfang an misstrauisch beobachtet und ihren Einfluss eindämmt.
Unvernünftige Lehren muss man, darin ist dem Egalitaristen John Rawls einmal zuzustimmen, behandeln wie "Krankheiten und Kriege". Man muss der epidemischen Ausbreitung der Unvernunft mit geeigneten Maßnahmen begegnen. Verfassungsfeindschaft und Menschenrechtsverachtung lassen sich nicht mit Dialogangeboten, mit pädagogisierenden Strategien entschärfen; Überzeugungsarbeit ist erst dann zu leisten, wenn das zur Selbsterhaltung und ethischen Selbstbehauptung Erforderliche getan worden ist.