Hubert Markl
Hubert Markl / Merkur
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Merkur
Merkur 6/2010
2010-06-14
Durch den menschlichen Geist sieht die Natur sich selbst an
Charles Darwins Einsichten in die Evolution von Natur und Kultur
Charles Darwin konnte nur recht schlecht Deutsch, was unter anderem zur Folge hatte, dass er Gregor Mendels fundamentales Werk über die Pflanzenhybriden zwar besaß, aber kaum lesen konnte, weshalb er genetische Irrwege ging; vor allem aber, dass er die rasche Übersetzung des Heidelberger Paläontologen Heinrich Georg Bronn seines Hauptwerkes über die Entstehung der Arten nicht selbst kontrollieren konnte, so dass sich gravierende Fehleinschätzungen einschlichen, die vor allem durch Ernst Haeckel und viele andere bis zur Nazizeit, ja sogar bis heute, weite Verbreitung fanden: "Kampf ums Dasein" zum Beispiel, statt "struggle for life", also "Ringen ums Leben", wohlgemerkt nicht des Individuums, sondern seiner ganzen Abstammungslinie; oder "vervollkommnete Rassen" statt "favoured races", womit "begünstigte Sorten", nicht Rassen im Sinne der Rassenlehre gemeint waren. Vor allem "Rassen": Kaum einer war wohl weniger "Rassist" als Charles Darwin, den wir heute einen konservativen "Edelgrünen" nennen würden. Natürlich teilte er aber auch manche Vorurteile seiner Zeit und seiner Klasse.
Ernst Haeckel wird heute oft zu Unrecht schlechtgemacht. Vor allem Stephen Jay Gould tat sich damit groß, obwohl er dem großen Biologen Haeckel das Wasser als Wissenschaftler nicht reichen konnte. Natürlich hatte und machte Haeckel auch Fehler -- aber er erkannte das Genie Darwins und die Gültigkeit seiner Evolutionsvorstellungen. Heute wird ihm oft hochnäsig das "biogenetische Grundgesetz" vorgehalten, das er in der Embryonalentwicklung aller Organismen zu erkennen glaubte, die seiner Ansicht nach eine kurze und unvollständige Rekapitulation ihrer Phylogenese darstelle. Das stimmt so nicht -- aber alle Naturforscher, auch Darwin, suchten damals nach "Naturgesetzen", wie in Newtons Physik. Heute, nach Einsteins Relativitätstheorie und Plancks und Heisenbergs Quantenphysik, verwendet selbst die Physik diesen Begriff ganz anders, aber der "physics envy", um Ernst Mayrs Wort zu verwenden, ist bei manchen Biologen so groß, dass sie Ernst Haeckel und Charles Darwin den Glauben an "newtonische Naturgesetze" der Entwicklung der Lebewesen heute noch höhnisch vorhalten, anstatt anzuerkennen, dass diese damit den Zusammenhang von Evolution und Entwicklung erkannt und den Weg dazu geebnet hatten.
Ich erwähne Ernst Haeckel noch aus einem anderen Grund: Haeckel war leider -- wie die ganze deutsche Biologie des 19. Jahrhunderts -- stark von der Philosophie des Deutschen Idealismus und bildungsbürgerlichem Goetheanismus geprägt; es fehlte an der realistischen Nüchternheit und dem "Popu lationsdenken" (Ernst Mayr) angelsächsischer Naturforschung. Schlimmer noch, Haeckel vermengte -- nicht als Einziger und nicht als Erster oder Letzter -- Wissenschaft und Religion, ja er versuchte gar einen Monismus zu lehren, der sich als evolutionäre Religion ausgab und auf Darwin berief, ohne freilich auf dessen Zustimmung rechnen zu können.
Heute tritt Richard Dawkins so auf, der selbst schon wieder einen ganzen Rattenschwanz von Bewunderern und Gegnern lärmend hinter sich herzieht. Ich selbst bin nicht religiös, achte aber die religiösen Gefühle anderer Menschen, und ich finde diesen Weg von Dawkins daher sehr bedauerlich. Dawkins ist ein manchmal sehr scharfsinniger, oft auch scharfzüngiger Apologet der darwinischen Evolutionsbiologie. Es scheint mir nur, dass er und manche seiner Anhänger erstens Religion, deren Aussagen man kritisieren mag, und Religiosität, also das Bedürfnis nach Lebenssinn, Wertgefühl und Metaphysik, beharrlich verwechseln, und dass er zweitens die Wissenschaft von der Evolution der Organismen selbst zu einer Religion erklärt, was Unsinn ist und bleibt. Deshalb scheint mir ein Buchtitel wie Gott oder Darwin (2008) -- willkürlich aus unendlich vielen Beiträgen herausgegriffen -- auch wenig hilfreich; welche Kategorienverwechslung ist das doch! Religion geht es um das Individuum Mensch -- Darwins Evolutionstheorie aber um die Entstehung der Spezies Homo sapiens. Gewiss kann Religion irren, zum Beispiel wenn sie in heiligen Schriften nach der Entstehung der Ameisen oder des Kosmos fahndet -- aber ist dies denn immer noch unbekannt? Und sucht noch jemand Gott auf anderen Planeten? Meinen Studenten, die an der Evolution zweifelten, habe ich oft gesagt: Sie müssen nicht daran glauben, nur wissen, was für sie spricht und warum sie "plausibel", das heißt zustimmungsfähig!, ist.
Wer allerdings mit "Intelligent Design" daherkommt, widerlegt sich sehr schnell selbst: Offenbar haben jene, die "Intelligent Design" bewundern, noch nie einer Menschengeburt beigewohnt, geschweige denn sie durchgestanden, oder einen Bandscheibenvorfall erlebt oder an Weisheitszahndurchbruch gelitten -- gar nicht zu reden von einem außer Rand und Band geratenen Immunsystem in einer Autoimmunkrankheit; welcher Optiker würde wohl ausgerechnet einen blinden Fleck in die Augen gebaut haben? Es gibt so viele Konstruktionen von Lebewesen, die sich nur mit Darwin evolutionär erklären lassen -- oder durch Schöpferwillkür, aber dann durch alles andere als durch "intelligenten Entwurf". Der Nobelpreisträger Sir Peter Medawar hat einmal gesagt: "The alternative to thinking in evolutionary terms is not to think at all!"Vgl. J. Scott Turner, The Tinkerer's Accomplice. Cambridge (Mass.): Harvard University Press 2007; Michael Ruse, Darwinism and Its Discontents. Cambridge: Cambridge University Press 2006; Philip Kitcher, Living with Darwin. Oxford: Oxford University Press 2007.
Alexander von Humboldt wird der Satz zugeschrieben: "Am gefährlichsten ist die Weltanschauung der Leute, die die Welt gar nicht angeschaut haben". Darwin hat das Gleiche noch einfacher gesagt: "Theories will go. Facts will stand!" Die Evolution ist eine Tatsache, so sicher wie die Erddrehung (trotz der für jeden sichtbaren Sonnenauf- und Sonnenuntergänge) oder wie die Tatsache, dass die Welt aus den Atomen und Molekülen von 92 natürlichen Elementen des Periodensystems der Elemente und deren Isotopen besteht. Über das, was Evolutionstheorien behaupten, mag es dagegen noch lange Streit geben!
Was macht "Darwin's dangerous idea" (Daniel C. Dennett), seine (nur scheinbar) verführerisch einfache Idee zur Erklärung der Evolution aus? Es steht in jedem Biologiebuch: "Nothing in biology makes sense except in the light of evolution", wie Theodosius Dobzhansky 1964 bemerkte -- das Ehepaar Peter and Rosemary Grant fügte 2008 an: "Nothing in evolutionary biology makes sense except in the light of ecology."
Erstens Erblichkeit: Nachkommen gleichen ihren biologischen Eltern mehr als dem Durchschnitt der Bevölkerung, weil sie die Erbanlagen von ihnen haben, die bei sexueller Fortpflanzung in ihnen von Vater und Mutter gemischt werden. Die Genetik hat die beteiligten Vorgänge, beginnend mit den Pflanzenhybriden Gregor Mendels bis zur modernen Molekularbiologie der Gene aufgeklärt (und dafür viele Nobelpreise erhalten). Sie ist ein empirisch bewiesenes Faktum, und jede Mutter und jeder Vater weiß das; zugleich lehrt sie uns eine Grundtatsache der Natur und von Darwins Theorie: Anders als in der Physik erweist sich Natur (und Darwins Theorie) stets als vielfältig bei aller Einfachheit. Es gibt vielerlei Arten von Organismen; es gibt vielerlei Weisen der Vermehrung, darunter die Sexualität (aus molekularen Gründen, die wir heute zu verstehen meinen), und es gibt schließlich auch mancherlei verschiedenartige "Sexualitäten" ("Normalos", Zwitter, Hermaphroditen, Homosexuelle usw.), auch den Verzicht darauf (asexuelle Vermehrung). Also Vorsicht, der Natur ausgerechnet im Namen Darwins eine "Norm" verschreiben zu wollen!
Deshalb gleich an zweiter Stelle: Es gibt empirisch beobachtete Variabilität -- der Gene, der Individuen, der Arten, der höheren taxonomischen Kategorien, des Zusammenlebens in Symbiosen, Biozönosen, Ökosystem --, wer hätte das wohl besser verstanden als Charles Darwin? Und es gibt nicht nur erbliche Variabilität -- meist durch Gene vermittelt --, es gibt auch vielfältigste Formen entwicklungs- und umweltabhängiger Modifikationen, unter anderem genetisch oder umweltbedingte Sexualität, wer möchte da noch einmal behaupten, Biologen beachteten nur Gene und deren Wirkungen (etwa in der Soziobiologie): Der kann wohl noch nie davon gehört haben, dass es ausgerechnet Biologen waren, die entdeckten, dass das Geschlecht der Reptilien temperaturabhängig ist! Wer die Wurzeln der Variabilität, also etwa des Verhaltens, in dessen darwinischer Entwicklung sucht, der möge nicht nur bei Darwin selbst nachlesen.Vgl. Mary Jane West-Eberhard, Developmental Plasticity and Evolution. Oxford: Oxford University Press 2003; Eva Jablonka / Marion J. Lamb, Evolution in Four Dimensions. Cambridge (Mass.): MIT Press 2005; Bert Hölldobler / E. O. Wilson, The Superorganism. New York: Norton 2009.
Kommt drittens -- und wieder empirisch überprüfbar -- eine Idee hinzu, die Charles Darwin von Thomas Malthus übernommen hatte: Jedes Organismenpaar kann potentiell viel mehr, manchmal das Vieltausendfache, an Nachkommen hervorbringen, sich also übervermehren. Wir sprechen zwar heute vor allem in Deutschland gerne von vermehrungsunwilligen Leuten und von einer schrumpfenden Bevölkerung; aber Fakt ist, dass es, als ich geboren wurde, etwa zwei Milliarden Menschen auf dieser immer gleichen Biosphäre gab, von der wir alle leben müssen; als mein Großvater geboren wurde, knapp über eine Milliarde; 1975 vier Milliarden; 2009 fast sieben Milliarden; da rede noch jemand davon, dass es keine Überproduktion von Homo sapiens gebe!
Da viertens als Grundtatsache des Lebens alle Lebewesen auf dieser Erde ihre Sterblichkeit (Mortalität), die zu Erblichkeit (Heritabilität) und Überproduktion zwingend gehört, erleiden müssen, folgt aus den empirischen Tatsachen, dass jene Individuen am besten überleben und sich vermehren, die mit ihren Lebensumständen am besten -- angepasstesten -- zurechtkommen. Den Vorgang nannte Darwin "natural selection", "natürliche Zuchtwahl", und die unter bestehenden Wettbewerbsbedingungen um knappe Güter bestangepassten Individuen "the most fit".
Wir verdanken William D. Hamilton und Lee Alan Dugatkin die Einsicht, dass es dabei auf ihre Gesamtfitness ("inclusive fitness") in allen Individuen ankommt, in die ihre Gene "identical by descent" geraten sind und sich in einem "extended phenotype" (Dawkins) auswirken.William D. Hamilton, Narrow Roads of Gene Land. 3 Bde. New York: Freeman 1996 ff.; siehe auch Richard McElreath / Robert Boyd, Mathematical Models of Social Evolution. Chicago: University of Chicago Press 2007. Dies betrifft vor allem soziales Verhalten und die Evolution der Kultur. Angepasst und auf seine "fitness" bewertet wird der (möglicherweise erweiterte) Phänotyp des Individuums in der Umwelt seiner Entwicklung, Existenz und Vermehrung ("nurture"), aber abgerechnet wird am Ende des Tages eben genetisch ("nature"), weshalb auch populationsgenetische, mathematische Modelle viele Seiten der Evolution zutreffend erfassen -- wobei leider oft so getan wird, als ob "nurture" (also die Umwelt) nicht zu "nature", also den biologischen Anlagen eines Lebewesens, gehörte. Diese Unterscheidung (vor allem der Ethologen) war zeitweise, als der Organismus von den Behavioristen als Tabula rasa missverstanden wurde, sicherlich vonnöten, ist aber im Zeitalter des besseren Verständnisses der Wirkung von Genen auf die Entwicklung eines Organismus eher hinderlich.
Dazu kommen allerdings noch einige Feststellungen Darwins, die wir nicht vergessen sollten: Er war es, der in Origin of Species am nachdrücklichsten die Einheit allen Lebens begründete: "descent with modification" aller Spezies aus einem und nur einem einzigen Ursprung. Deshalb ist auch die menschliche Spezies -- heute molekulargenetisch bewiesen -- eine Verwandte der Primaten, aller Mammalier, aller Tiere, aller Lebewesen: gleichzeitig ein- zigartig, aber in aller Verschiedenheit mit allen anderen Lebewesen verbunden.
Die Entwicklung der Organismen, aller Lebewesen, erfolgte immer gradualistisch, also in kleinen Schritten, allerdings mit unterschiedlicher Geschwindigkeit -- Darwin hatte keineswegs behauptet, der gradualistische Evolutionsvorgang schreite mit der Zeit absolut gleichmäßig voran. Das wäre erneut ein Verstoß gegen seine Einsicht in die Variabilität, hier der Prozessgeschwindigkeit der Evolution!
Engstens damit im Zusammenhang: Die Evolution geht zwar manchmal sehr schnell -- die Entstehung neuer Arten kann wenige tausend Jahre, manchmal nur wenige hundert erfordern --, aber sie hat dennoch sehr viel Zeit: Vor mehr als vier Milliarden Jahren entstand das Leben auf der Erde, mehr als 4,5 Milliarden Jahre ist die Erde alt, wie Darwin gegen die Fehleinschätzung Lord Kelvins, des Papstes der britischen Physik, durchsetzte. Albert Einstein soll auf die Frage nach der mächtigsten Kraft im Universum geantwortet haben: der Zinseszins! Das eben ist die Auswirkung der langen Zeit, die der Evolution zur Verfügung stand. In dieser langen Zeit ereigneten sich auch gewaltige Umweltveränderungen und Umgestaltungen des Lebensraumes aller Organismen: Plattenverschiebungen der Erde, das Aufbrechen von Pangaea, die Bildung der Kontinente, Meere und Gebirge, Vulkanismus unvorstellbaren Ausmaßes, Klimaveränderungen, Eiszeiten -- dagegen ist die heutige "Klimakatastrophe" geologisch fast nur klimapolitisches Pipifax. Und jede unvorhersagbar neue Umwelt, mit ihren unvorhersagbaren Bewohnern bildete eine neuerliche Herausforderung für die unvorhersagbare Innovationskraft, die Kreativität alles Lebendigen in immer neuen, unvorhersagbaren Arten -- aber vergessen wir die über 99 Prozent nicht, die dabei ausstarben, weil es ihnen eben misslang.
So entstand die Natur, wie wir sie kennen. Aber wie entstand daraus die Kultur, wie entstand daraus der Mensch, der anders ist, viel mehr als alle Natur, aus der er doch entsprang. Der amerikanische Psychologe David Premack soll diesen buchstäblich himmelweiten Unterschied zwischen Tier und Mensch -- ohne auch nur einen Augenblick dessen natürliche Herkunft daraus durch darwinische Abstammung in Frage zu stellen -- einmal scherzhaft so ausgedrückt haben: "Why is it that the biologist E. O. Wilson can spot the difference between two different kinds of ants at a hundred yards, but can't see the difference between an ant and a human?"
Was hat Darwin uns mit seiner Theorie der natürlichen Selektion an Einsicht über die evolutionäre Entstehung der Kultur -- also über Kulturevolution -- zu sagen? Hier stellen sich die ganz offenen der noch zu beantwortenden Fragen der Evolutionsbiologie, aber auch die für uns Menschen wichtigsten. Wie erweist sich vor allem die Vielfalt und Kreativität alles Lebendigen -- welche Widersprüche mögen sich hier noch auftun? Wer sich im Leben, also auch in der Evolution und ihrer Erklärung, niemals widerspräche, bewiese dadurch nur, dass er nichts hinzugelernt hat. Die Natur lernt aber immer hinzu! Und Kultur umso mehr. Denn während die Natur nur durch Vermischung der Gene und ihre zufällige Variation vor allem durch Mutation in den Rechenschritten der Generationen zulernen kann, ist ihr die Kultur dar in weit voraus, indem sie den erreichten Wissensgewinn -- vor allem durch Sprache und Schrift -- bewahren und weitergeben und somit durch Zuwachs- und nicht nur Zufallseffekte lernen kann.
Wenden wir uns also der Evolution in der (Menschen)Kultur zu. Die "Natur" hat oftmals versucht, ihr "Geschäftsmodell" höchst innovativ zu erweitern, um gleichsam aus dem "Genomkapital" mehr "Fitnessrendite" zu erwirtschaften. Man denke nur an die endosymbiotische Innovation, die die Euzyte hervorbrachte und dann in den Eukaryoten vielfältigst erblühte. Oder die Entdeckung der Sexualität zu molekularer Reparatur und Neudurchmischung des Erbgutes, durch arbeitsteiliges Zusammenwirken von Weibchen und Männchen in Fortpflanzung und Brutpflege, die eine erneute soziale Symbiose zur Folge haben kann. Oder an so viele Wirbeltiergruppen -- von den neukaledonischen Krähen bis zu Walen oder Wölfen, bei denen die "Natur" zur "Kultur" vorzustoßen suchte. Bis der Vorstoß in der Gattung Homo endgültig gelang: Unsere Überlegenheit gegenüber der Natur, die wir durch unsere Hybris über Nacht, buchstäblich umnachtet, zu vernichten drohen, zeigt dies bedrückend eindeutig.
Aber was ist eigentlich "Kultur"? Nur zu oft wird sie als Gegensatz zur "Natur" hingestellt und ist doch in Wirklichkeit deren Höherentwicklung. Als seien Kinder ein Gegensatz zu ihren Eltern, mit denen sie zwar manchmal im Widerstreit liegen mögen, aber auf deren Schultern sie doch selbst dabei stehen. Wohlgemerkt, über das Verhältnis von Natur und Kultur gibt es Bibliotheken von Büchern, mehr noch als über Darwins Evolutionsbiologie. Nicht nur von Biologen, sondern auch von Geisteswissenschaftlern: Anthropologen, Soziologen, Historikern, Ethnologen, Psychologen, natürlich Philosophen, die im Nachhinein alles besser zu wissen meinen.Vgl. Alfred C. Kroeber / Clyde Kluckhahn, Culture. New York: Vintage 1952: Adam Kuper, Culture. Cambridge (Mass.), Harvard University Press 1999; John Tyler Bonner, The Evolution of Culture in Animals. Princeton: Princeton University Press 1980; Daniel C. Dennett, Darwins gefährliches Erbe. Hamburg: Hoffmann und Campe 1997; Donald R. Griffin, Animal Minds. Chicago: University of Chicago Press 1992.
Was ist das also: "Kultur"? Anthropologen berufen sich gerne auf E. B. Tyler, der 1871 meinte: "Culture... is the complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society". Diese Definition scheint allerdings dem Biologen allzu sehr auf unsere eigene Art zugeschnitten. In dem wundervollen kleinen Buch von John Tyler Bonner ist zu lesen: "By culture I mean the transfer of information by behavioural means most particularly by the process of teaching and learning" -- erlernte Tradition von Verhalten bei Tier und Mensch, die nicht nur auf Nachkommen übertragen wird, auf sie vor allem, sondern auf Verwandte, ja sogar Fremde.
Die Kultur wurzelt jedenfalls viel tiefer in der Natur der tierischen Lebewesen, als dies meist gedacht wird. Man hat, seit Darwin dazu den Denkanstoß gab, immer mehr nach dem Tier im Menschen gesucht als nach dem Menschen in seinen Tiervorfahren. Nicht ohne dabei fündig zu werden: Man betrachte nur die Erfolge der Humanethologie, aber auch der "Evolutionären Psychologie", wie sich die Human-Soziobiologie heute gerne nennt, um dadurch altem ideologischen Zank aus dem Weg zu gehen: soweit der Körper ohne das Vorderhirn mit allen seinen Funktionen bis hinauf zu den Gefühlsantrieben des Stammhirnes betroffen ist, ist leicht zu erkennen, dass hier die "menschliche" (oft nur allzu menschliche) Natur waltet. Oder man schalte einfach die Nachrichten ein: Der "dritte Schimpanse" (Jared Diamond) erweist sich als ein höchst lebendiger, geiler und oft bösartiger Menschenaffe -- aber auch einer, der bis über alle (biologischen) Grenzen hinweg einfühlsam und gütig sein kann.
Da reden zwar manche immer noch davon, es gebe eigentlich keine "menschliche Natur": Während doch Menschen gefoltert werden, weil sie von Natur aus sexuelle Neigungen erhalten haben, für die sie nichts können; während immer noch Menschen nur deshalb bevorzugt versklavt werden, weil ihre Hautfarbe angeborenermaßen zu dunkel ist, oder weil in vielen Regionen und Religionen Frauen offenbar immer die Opfer sind, nicht nur, wie manche "Gender Studies" behaupten, weil sie durch Kultur zu Frauen gemacht worden sind, sondern allein deshalb, weil sie vorher, und zwar von Natur aus, als Mädchen geboren worden sind -- also ein X-Chromosom mehr haben als die Buben! Da behaupten immer noch "Gelehrte", es gebe keine menschliche Natur; freilich, wer da versklavt oder totgeschlagen wird und ob er das in einer Gesellschaft wird, das mag ja gerne kulturell bedingt sein. Aber dass diese Mitmenschen zu Opfern werden, ist ein Beweis für unsere Primatennatur.
Als Tier wäre der Mensch vielleicht harmloser, die Kultur erst macht ihn zum Ungeheuer -- guten Gewissens. Schon Thomas Hobbes sagte 1651 im Leviathan: "So liegen also in der menschlichen Natur drei hauptsächliche Konfliktursachen: erstens Konkurrenz, zweitens Misstrauen, drittens Ruhmsucht." Die Humanethologie und die Soziobiologie oder Evolutionäre Psychologie waren also schon sehr nötig, um all den Theoretikern das wahre, nämlich natürlich evoluierte Tier im Menschen nachzuweisen. Aber davon will ich jetzt nicht sprechen: Ich will zeigen, dass sich die "Natur" schon sehr lange und in vielen Versuchen darum bemühte, die Zwangsjacke genetischer Voranpassung, die "genetic constraints", ihrer Lebensgeschichte abzustreifen und die Leistungen des lernfähigen Vorderhirns zur Steigerung seiner Fitness voll zu nutzen -- durch Kultur, wenn auch manchmal in ihr ein biologischer Kern stecken mag, der uns zwar eher an "Unkultur" denken lässt, durch die sich aber die Natur am Ende mit dem forschenden Blick des Menschen selbst prüfend betrachten kann und dabei in ihrer Herkunft und in ihren Grenzen erkennt, die sie aber doch zugleich innovativ wie kreativ zu nützen weiß.
Die Mammalia sind vor mehr als 200 Millionen Jahren vor allem als eine Gruppe nächtlicher, erst unscheinbarer, dann zu gewaltiger Körpergröße heranwachsender Wirbeltiere geworden, die mit der Steigerung ihrer Vorderhirngröße und der damit vergrößerten Lernfähigkeit im Sozialverband immer wieder den Durchbruch zum genetisch nur wenig festgelegten, doch besonders lernbedürftigen, aber auch lernfähigen Vertebraten geschafft haben. Dafür gibt es viele Belege. Auf die Gelegenheit zum Lernen von der Mutter und im Sozialverband der Verwandten und nicht verwandten Artgenossen muss dabei bei Säugetieren besonders hingewiesen werden: Sie schuf die wichtigste Voraussetzung, um Kultur aus Natur hervorgehen zu lassen.
Auf eines kommt es dabei vor allem an: Der am Ende beim Menschen fast 1,5 Kilogramm wiegende Berg von 100 mal 10[TSMn]9[TSM0] Neuronen, die noch ein Vielfaches an synaptischen Verbindungen entwickeln konnten, fand sich im Laufe dieser langen Evolutionszeit eingebettet in einen immer ultrapräziseren Homöostaten, der zwar teuer ist -- zwei Prozent Gehirn kosteten die Menschen am Ende mehr als 20 Prozent des Energieverbrauches und benötigten, um sich überhaupt richtig entfalten zu können, vor allem bei Jungtieren viel Eiweißnahrung, wie sie tierische Beute bietet. Aber dieser Computer arbeitet so gut, dass er das individuell erlernte und das sozial vermittelte Wissen viel besser, als genetische Programme dies je vermochten, an variable Lebensumstände, zumal bei langer Lebensdauer und bei größer werdendem Körper unumgänglich, anpassen konnte. Dazu mussten natürlich das endokrine System, das Immunsystem und der ganze Stoffwechsel die Grundlage liefern.
Ein wesentlicher Umstand wurde schon am Rande erwähnt: sozial vermitteltes, am Ende gar durch Vorbild und Nachahmung gelerntes, also auf Vorhandenem aufbauendes Wissen -- erst dies machte den Menschen wirklich vollauf kulturfähig! Es machte ihn auch erst in einer Gesellschaft lebensfähig, ja zum auch geistig befähigten das heißt vor allem kommunikationsfähigen Wesen. Wie "primeval kinship" und "baboon metaphysics"Dorothy L. Cheney / Robert M. Seyfarth, Baboon Metaphysics. Chicago: University of Chicago Press 2007; Bernard Chapais, Primeval Kinship. Cambridge (Mass.): Harvard University Press 2008. ausgerechnet den Weg des Primaten zum kulturfähigen Menschen ebneten, eröffnet den Blick auf zwei Fragen: Warum ausgerechnet Primaten, also Affen -- warum nicht Wale oder Ratten oder Elefanten oder die so verständigen Hunde? Wodurch kam der endgültige Durchbruch zur vollen Humanität, der Schritt über den Rubikon zwischen Natur und Kultur?
Mich verwundert an der nicht enden wollenden Suche nach dem "Stein der Weisen" der evolutiven Menschwerdung vor allem eines: Jeder Autor scheint mit Eifer nach eben diesem einen Steinchen zu suchen, das das Puzzle, das Mosaik vollenden soll. Dabei muss doch jedem klar sein, dass es viele zusammengehörige Bestandteile sein werden, die erst das ganze Bild des Menschen ergeben: nicht das Gebiss allein, nicht die Beine und deren aufrechter Gang allein, obwohl es das wichtigste Primatenerbe ist, zusammen mit dem Farbensehen und dem vogelgleichen Leben in den Wipfeln mit griffsicherer Hand, das uns auch die Fähigkeit zur Zeichen-, vielleicht sogar zur Vokalsprache gab. Vielleicht viel eher der begrenzte Sozialverband, in dem das Miteinanderreden die Fellpflege ersetzen musste, auch nicht allein "thumbs, toes and tears", obwohl sie mit anderen Eigenschaften alle dazu gehören.Chip Walter, Thumbs, Toes, and Tears. New York: Walker 2006; Robin Dunbar, The Human Story. London: Faber & Faber 2004.
Gewiss, nur der Mensch kann wirklich sprechen, und es ist seit langem heiß umkämpft, wie er die Gabe dazu erwarb: vielleicht weil er seine Gruppe zum Großwildriss von Löwen oder Hyänen leiten musste, um sie dadurch -- man denke an die Fleischnahrung -- in Besitz nehmen und ausbeuten zu können. Vielleicht leiteten ihn auch Tanz und Musik zur Sprache. Gewiss, nur der Mensch hat moralische Normen -- und so gibt es Tausenderlei, was uns von Natur aus zu Kulturmenschen gemacht hat, wobei die Beherrschung des Feuers zum Kochen der Nahrung keine geringe Bedeutung gehabt haben dürfte.Vgl. Steven Mithen, The Singing Neanderthals. London: Weidenfeld & Nicolson 2005; Richard Wrangham, Catching Fire. Philadelphia: Basic Books 2009.
Aber mir will scheinen, dass -- außer den tiefen Wurzeln aller Menschenkultur in vielen Jahrmillionen dauernder Mammalier- und Primatengeschichte -- zweierlei von überragender Bedeutung ist (natürlich neben der Menschensprache, die aber wohl erst jenseits des kulturellen Rubikons hinzukam): Erstens die von David und Ann Premack so benannte "Theory of Mind", die wir mit wenigen Säugetieren zu teilen scheinen (Menschenaffen und Hunden vielleicht), also die Fähigkeit, uns in die Absichten, Wünsche, Gefühle, Glaubensvorstellungen von Mitgeschöpfen, ja im übertragenen Sinne aller als belebt empfundener Naturerscheinungen oder sogar überirdisch vorgestellter Wesen einzufühlen, sie empathisch mitzuempfinden (wozu uns vielleicht Spiegelneurone verhelfen).Vgl. David Premack / Ann Premack, Original Intelligence. New York: McGraw-Hill 2003; Giacomo Rizzolatti / Corrado Sinigaglia, Empathie und Spiegelneurone. Frankfurt: Suhrkamp 2008.
Sowie zweitens unsere unbestreitbare Leidenschaft, für jede Erscheinung -- mag sie uns betreffen oder auch nur vorgestellt sein -- eine Ursache zu suchen und notfalls zu (er)finden, zumeist dabei aus der Korrelation eines "praeter hoc" ein "propter hoc" machend, wahre Kausalitätsfindungs- und -erfindungsmaschinen zu sein -- wobei beide Tatsachen unserer Menschenkulturfähigkeit eng zusammenhängen. Ich erwähne dazu das neue Werk Mothers and Others von Sarah Hrdy, in dem sie diese Fähigkeit, sich einzufühlen, in großartiger Weise mit der Gemeinschaftserziehung und der Bildung sozialer Netzwerke in Beziehung setzt und damit tiefer in den Vorgang der Menschwerdung (auch durch soziale Nachahmung, die nur selten bei Säugetieren erreicht und fälschlich als "Nachäffung" herabgesetzt wird) eingedrungen scheint, als dies den meisten bisher gelungen ist.Sarah Blaffer Hrdy, Mütter und andere. Berlin: Berlin 2010. Sie weist nach, dass erst solche Einfühlung sprachliche Kommunikation möglich machte und dass auch erst die Ursachensuche in der sozialen Gemeinschaft zum Gefühl des eigenen Wollens in Willensfreiheit führte. Willensfreiheit bedeutet dann eben nicht den Anspruch auf Akausalität, sondern in erster Linie die Übernahme sozialer Verantwortung des handelnden Menschen, verbunden mit dem Gefühl, Verursacher des Geschehens zu sein.
Diese "Befreiung des Verhaltens" von der Engführung der Gene unter gleichzeitiger Auslieferung an soziale Manipulationen durch Bildung und wohl zugleich der Entstehung menschlichen Geistes aus dem der Tiere eröffnet den natürlichen, den evolutionären, den darwinischen Zugang zu einem Reich der Freiheit, das durch die -- weitgehend philosophische und rechtliche -- Frage nach der Willensfreiheit nur ganz ungenügend ausgeschöpft wird. Sie setzt nämlich die Freiheit der Phantasie frei, die viel wichtiger für menschliche Kreativität ist, nicht nur in der Kunst und in der Wissenschaft, wo sie durch empirische und theoretische, methodische Prinzipien gebändigt wird. Darwin hat dies wohl zuerst erkannt. Viele versuchen ihm seither dorthin in Literatur, Malerei, Bildnerei und Musik nachzufolgen, aber dadurch wird nichts "biologisch (weg)erklärt", was in Wirklichkeit biologisch erst erschlossen, ja eröffnet wird.
So wie der Geist und seine Fähigkeit, sich kraft Sprache auch in die Vorstellungswelt anderer Wesen hineinzuversetzen, erst durch die Evolution des Gehirns der Säugetiere, vor allem der ebenso sehtüchtigen wie handgreiflichen und in den Wipfeln "frei" beweglichen Primaten möglich wurde, so eröffnete der Geist die Welt der Phantasie, die in der Technik ihre ganze Geschicklichkeit und in der Kunst ihren weitesten Ausdruck findet. Die Natur zähmt zwar den freien Flug des Geistes manchmal, der in sich kaum mehr Grenzen kennt, obwohl erst der Geist sie zu erkennen und zur Sprache zu bringen vermag. So ist es gemeint, wenn ich behaupte, dass wir durch Charles Darwin angeleitet besser begreifen können, wie die Natur sich durch Kultur selbst ins Auge blickt -- obwohl wir noch weit davon entfernt sind, dies ganz zu verstehen.Vgl. David Sloan Wilson, Evolution for Everyone. New York: Random House 2007; Lewis Wolpert, Six Impossible Things Before Breakfast. London: Faber & Faber 2006.