Wolfgang Kemp
Wolfgang Kemp / Merkur
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Merkur
Merkur 11/2009
2009-11-17
Gruppentexte
Ein kritischer Blick auf Sammelband und Forschergruppe
Die Kunsthistorikerin Kristin Marek veröffentlichte vor und nach ihrer Promotion acht Aufsätze, davon einen Beitrag zu einem Ausstellungskatalog, sechs zu Sammelbänden. Sie hatte sich an meinem Institut beworben, wir hätten sie auch gerne genommen, sie ging aber an eine andere Universität. Ich erwähne das Letztere, um anzudeuten, dass ich von einer Erfolgsgeschichte spreche. Ich selbst habe, 1967 anfangend und in demselben Zeitraum wie Frau Marek, ein Frühwerk vorgelegt, das aus einer gleichen Zahl von Aufsätzen besteht, die alle in Zeitschriften und Jahrbüchern mit Peer Review erschienen sind. Ein lupenreines Sample also, das sich von dem meiner Altersgenossen und dem der vorausgehenden zwei bis drei Generationen von Wissenschaftlern in nichts unterscheidet.
Mit anderen Worten: Was die "Publikationskultur" anbelangt, so ist zwischen 1967 ff. und 2001 ff. ein grundlegender Wandel eingetreten, und die Umweltbedingungen haben sich für alle Wissenschaftler/innen, auch und vor allem für die jungen, dramatisch geändert. Der sogenannte Impact Factor, der Reputationseffekt von Sammelband- und Katalogpublikationen, hat mit dem von Zeitschriftenaufsätzen gleichgezogen, wie wir an dem einen Beispiel schon sehen. Der Sammelband ist der große Attraktor des geistes- und sozialwissenschaftlichen Schaffens; er ist wie der Ausstellungskatalog in Sammelbandformat eine Neuschöpfung des Zeitraums nach 1968. Was man zuvor an kollektiven Veröffentlichungen kannte, die Festschrift, den Reader, die Anthologie, sie sind anders strukturiert und hatten ihre Zeit.
Mit der Urform Festschrift und mit dem Katalog hat der Sammelband gemein, dass er anders als das Buch und der Zeitschriftenaufsatz durch einen Anlass motiviert ist, fast möchte ich sagen: war. Die meisten Sammelbände der letzten dreißig bis vierzig Jahre gehen auf Tagungen zurück, aber das wird, angesichts des Erfolgs des Formats, zunehmend seltener. Der Konnex TagungPublikation ergab sich meist aus dem Sponsoring einer großen Stiftung; längst sind aber Verlage dazu übergegangen, Sammelbände auch selbst zu finanzieren oder ohne Tagungsanlass für sie Drittmittel einzuwerben.
Das Format Sammelband kann mittlerweile von sich selbst leben. Nehmen wir ein klassisches Thema der Sammelbandära und dazu den Band Das Fremde und das Eigene, herausgegeben von Alois Wierlacher. Dieser schickt eine hundertseitige Einleitung voran, einen Literaturbericht, in dem an selbständigen Veröffentlichungen (Büchern) 322, an Zeitschriftenaufsätzen 119 und an Beiträgen zu Sammelbänden 185 Texte aufgerufen werden. Das war 1985, eine Zeit des Durchbruchs für diese Literaturgattung: Heute kommen Sammelbände mit sich selbst und ihresgleichen aus, die eine oder andere klassische Monographie wie eine kostbare Reliquie zitierend.
Wie kam es dazu? Die späten sechziger Jahre greifen die einsame Position des Autors fundamental an. Das war das Bestreben des französischen Strukturalismus. Roland Barthes, wir erinnern uns, hatte 1968 den "Tod des Autors" erklärt, und Michel Foucault war ihm 1969 gefolgt. Sie hatten einen Machtwechsel im Sinne, der zunächst einmal mit unserem Thema nur wenig zu tun hat. Es ging um die Ersetzung des Verfasser-Individuums durch die Leser-Funktion und nicht etwa durch ein Verfasser-Kollektiv. Die beiden Franzosen hätten das Letztere weder befürwortet noch in ihrer eigenen Praxis beherzigt. Für uns ist interessant, dass als eine Restfunktion des Autors, des geschriebenen und nicht des schreibenden Autors, die Aufgabe bleibt, den Fundus der Literatur auszuschöpfen. Er wirkt als eine Art Dispatcher oder Anthologist, wenn er die multiplen Ströme und Stränge der Kollektive Sprache und Literatur koordiniert, das heißt der große Vortäuscher des Monolithischen und Ursprünglichen ist auch allein agierend ein Agent des Gruppentextes.
Das waren Essays von Einzelnen. In der Musik waren die sechziger Jahre und die beiden folgenden Jahrzehnte das Zeitalter der Band. Der Solist, das Duo und das Orchester traten zugunsten von vier- bis sechsköpfigen Formationen völlig in den Hintergrund. Am 1. Juni 1967 wurde Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band herausgebracht, das Album einer Band, die eine Band aus Kunstfiguren für sich aufspielen ließ. Der Popgeschichte gilt das Opus magnum der Beatles als das erste Konzeptalbum -- und als das erste Konzeptalbum, das Konzeptalben zur Verpflichtung machte.
Es hatte solche Themenplatten bereits früher gegeben, aber nach 1967 war alles anders. Zum Gesamtkunstwerkcharakter trug selbstverständlich auch das graphische Erscheinungsbild bei: Peter Blake hatte die berühmte Albumcollage gestaltet und sicher nicht ohne Rücksprache mit seinen Auftraggebern das Thema Gruppe, Band, Kollektiv zu einer Art Übergruppe ausgeweitet, zu einem Gruppenbild der "people we like", auf dem sich außer der phantastisch ausstaffierten Band des Sergeant Pepper und den Beatles in Gestalt ihrer Wachsfigurensimiles sechzig Berühmtheiten einstellen, darunter Marlene Dietrich, Marilyn Monroe, Mae West, Albert Einstein, C. G. Jung, Bob Dylan, Karlheinz Stockhausen, Karl Marx, Edgar Allan Poe. Auch Adolf Hitler sollte auf Verlangen von John Lennon dazugehören, wurde aber in der letzten Fassung wieder ausgeschieden. Diese Selbst- und Fremdhommage repräsentiert für die Ära der Stars und der Celebritykultur, was Gustave Courbets großes Gemälde Atelier von 1855 darstellt -- in einer zu Peter Blakes Cover deutlich verschobenen Konstellation: Hier steht das einsame Genie in der Mitte und seine Unterstützer und Anreger bilden den Rand.
Wie so oft bei Pop ist Überaffirmation im Spiel. Im Falle des Beatles-Albums auch die Hybris des letzten Mals. Man kann das Bild als eine Beerdigung Erster Klasse ansehen: Im Vordergrund liegt die geschmückte Grabstätte der Beatles, die sich auch in anderer Hinsicht entziehen, indem sie nur als Surrogate (die Wachsfiguren) und als Substitute (die Band des Sergeant Pepper) figurieren. Die Stilisierung der Gruppe und des Albums bei gleichzeitiger Hinterfragung, wie man damals gesagt hätte, gehören offenbar zusammen. Die Beatles nahmen als Gruppe ihren Abschied, nachdem sie alles erreicht hatten. Was nun aber wirklich die Sgt. Pepper's-Platte zu einem Konzeptalbum macht, ist in Fankreisen ebenso fraglos unumstritten wie dem genauer Zufassenden fragwürdig. George Martin, der Produzent der Beatles, schrieb einmal: "Was aber hatte dieses Album schließlich zu bedeuten? Niemand konnte es sagen. Und dies war eine seiner größten Stärken."
Das Durchbruchsdatum in der Geschichte des wissenschaftlichen Sammel- und Konzeptalbums wurde das Jahr 1968. Es wurde durch die bundesdeutsche "Forschungsgruppe" "Poetik und Hermeneutik" gesetzt. Diese Gruppe hatte sich schon einige Jahre vorher konstituiert. Nach den weniger auffälligen Tagungs- und Bandthemen Nachahmung und Illusion (1964) und Immanente Ästhetik -- Ästhetische Reflexion (1966) bedeutete der Tagungsband Die nicht mehr schönen Künste mit 735 Seiten und zwanzig Beiträgen den materiellen und thematischen Durchbruch. Ein solches Format hatte es zuvor nie gegeben, und die Gruppe selbst übersprang diese Latte nur mit dem Band Individuum und seinen 765 Seiten.
Das Thema von Band 3 war -- unter Akademikern -- brisant, die Zusammensetzung der Beiträger war strikt interdisziplinär, der dialogische Charakter der Veranstaltung wurde durch ergänzende Kurzbeiträge und durch das Protokoll der Diskussion am Leben erhalten. Vom Band einmal abgesehen, kostete das Ganze nur ein wenig Reisegelder. Als zu einem sehr späten Zeitpunkt die Getty Foundation die Gruppe "Poetik und Hermeneutik" kaufen wollte, so wie man einen erfolgreichen Mitbewerber aufkauft, scheiterte das unter anderem daran, dass es wirtschaftstechnisch eigentlich nichts zu kaufen gab. "Poetik und Hermeneutik" bestand aus einem kleinen Kreis von Bestimmern in Konstanz und Bielefeld, die luden den Rest der Wissenschaftler ein. Die alten Rekrutierungsverfahren der Kongresse und Fachtagungen, die meist über die Funktionäre der Fachverbände liefen, waren ausgehebelt. Man konnte sich nicht selbst bewerben. Das alles war in den sechziger und siebziger Jahren im Grunde ziemlich anstößig, wurde aber durch die einzigartig hohe Qualität der Ergebnisse sanktioniert. Es gibt den vagen Begriff des "großen Aufsatzes" -- bei den regelmäßigen Teilnehmern von "Poetik und Hermeneutik" hat man den Eindruck, dass sie ihre "großen Aufsätze" den Sammelbänden ihrer Gruppe anvertrauten.
Als eine besondere und wenig bekannte Eigenschaft der Gruppentreffen möchten wir noch erwähnen, dass der einzige Vortrag der Abendvortrag des Kunsthistorikers (lange Jahre Max Imdahl) war, alle anderen Beiträge wurden auf der Basis voll ausgearbeiteter Textvorlagen diskutiert. Das hieß nicht, dass diese schriftliche Fassung die Druckvorlage lieferte, sie dokumentierte "nur eine Arbeitsphase", und es kam vor, dass die Beiträge für den Druck um das Dreifache wuchsen. Die Grundlage der Diskussion war und blieb die Schrift. Sie war der Beweis, nicht die rhetorische Brillanz oder Show des Vortrags. Mit einigen kleinen Änderungen erstreckten sich die Tagungen von "Poetik und Hermeneutik" dreißig Jahre lang. Leider war ihr letzter Band nicht Das Ende (1996), sondern Kontingenz (1998), was unter heutigen Bedingungen aber auch einen sinnvollen Abgang setzte.
Es ist kein Zufall, dass die führenden Kräfte von "Poetik und Hermeneutik" in Reformuniversitäten lehrten. Nun hat die Gruppenuniversität nicht kollektiv Wissenschaft betrieben, und es stiegen auch nicht Assistenten oder Sekretärinnen in die Herausgebergremien der Zeitschrift für Kunstgeschichte oder der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte auf. Und anders als beim damals ebenfalls sehr aktuellen Gruppensex kamen sich die Gruppen nicht so nahe, dass sie effektiv Gruppentext publizierten. Aber ich behaupte gleichwohl, dass die Gruppen und die von ihnen produzierten Texte nach mancher Häutung zum effektiven Träger des Wissenschaftsgeschehens aufstiegen, auch in den Humanities.
Das Ganze hatte einen genuin therapeutischen Einschlag. Kein Buch belegt das besser als Horst-Eberhard Richters epochentypische Schrift Die Gruppe. Sie handelt ganz bestimmt nicht von akademischen Gruppen, lässt sich aber leicht übertragen, soweit es um den Wert der Gruppenarbeit an sich geht. "Das Individuum befindet sich in einer tiefen Krise. Diese Krise bildet sich u. a. in einer Art von seelischem Leiden ab, das nicht Krankheit im üblichen Sinne ist. Sie bildet sich aber auch in der Art der sich wandelnden Heilungserwartungen der seelisch Leidenden ab." Dann wird der älteste Trick der Heiler ausgespielt: Die Veränderung, hier der Übergang von der Einzel- zur Gruppentherapie, will sich selbst. "Die neue Bewegung der Gruppentherapie ist weniger eine Erfindung der Psychotherapeuten als vielmehr deren zwangsläufige Reaktion auf veränderte Therapiebedürfnisse der Menschen. Es kommen immer mehr Menschen zum Psychotherapeuten, die lernen wollen, sich einer Gruppe zu öffnen, in einer Gruppensituation etwas den anderen zu geben und von den anderen etwas zu nehmen."
Das war 1972 und lässt sich für das Gebiet der psychologischen Therapie nicht mehr halten. Die Tendenz zur Gruppe als Organisationsform der Wissenschaft ist dagegen stärker denn je. Woher kommen die Gruppen heute? Anders als in den Anfangszeiten der sechziger und siebziger Jahre ist der Vereinscharakter, den selbst "Poetik und Hermeneutik" noch an sich hatte, völlig geschwunden. Im Grunde sind es heute Initiativgruppen -- das ist ein Achtundsechziger-Begriff, der kaum mehr im Umlauf ist, aber sehr gut den Charakter der neuen Organisationsweise trifft.
Wir reden von Gruppen, die zwar ohne die Lizenz der Autoritäten und organisierten Kollektive, aber nicht unbedingt gegen sie agieren. Wenn diese Gruppen Zuschüsse der großen Wissenschaftsorganisationen erhalten, dann geschieht das oft ohne die Prüfung der Fachvertreter. Die Gruppen fügen sich in Programme, die intern, von den Mitarbeitern der Stiftungen "aufgelegt" werden oder in so hohen Gremien en bloc verabschiedet werden, dass an kompetente Einzelprüfung gar nicht zu denken ist. Die Europäisierung der Forschung, die nun die Förderung von Öl und Wein ablöst, wird diesen Trend zementieren. Heute sind Gruppen nicht nur die bevorzugten Zuwendungsempfänger, wie es im Stiftungsdeutsch heißt, Gruppen sind jetzt wirklich zu sich gekommen -- zwei nicht bestreitbare Fakten sagen mir das.
Erstens: Sie haben mit "Netzwerk" die passende kulturelle Leitmetapher und mit dem Internet, dem Netz der Netze, das zu jeder erfolgreichen sozialen Bewegung gehörige Werkzeug in die Hand bekommen.
Zweitens: Am Ende des langen Marsches durch die Institutionen, den zuerst die Kampfgruppen von 1968 ff. absolviert haben, sitzen heute entspannt die Forschergruppen. Gewissermaßen die Verbeamtung der Gruppe ist heute bestimmende Wirklichkeit: Nachwuchsgruppen, Forschergruppen, Exzellenzcluster, Kollegs, Forum junge Wissenschaft, das alles und mehr sind die Organisationsformen von Wissenschaft der Gegenwart -- und waren 1968 gänzlich unbekannt, ebenso wie der Sammelband. Aber, wie gesagt, es fing damals an. Die Gruppenuniversität wurde sekundiert von der Gruppenwissenschaft. Damit ist natürlich auch gesagt, dass in diesem Prozess die Gruppen sich gewandelt haben. Die Gruppen von einst verfolgten eine Mission, derzeit werden viele in Gruppenarbeit zu erledigende Vorhaben ausgeschrieben. So hat sich dieses System optimiert. Der Sammelband, die Gruppe als Netzwerk, der Computer als Produktions- und Kommunikationsmaschine ergeben zusammen die sich selbst tragende und fütternde neue Formation der Wissenschaft: eine Art von autoszientifischer Apparatur. Das eingangs herangezogene Beispiel der jungen Kollegin Kristin Marek zeigt, dass der Weg von der Beiträgerin zur Herausgeberin ein ganz kurzer ist -- sie zeichnet verantwortlich für den Band Bild und Körper im Mittelalter und dies zusammen mit drei anderen, so dass an der Spitze der Gruppe eine Herausgebergruppe fungiert. Dagegen muss man im Fall der Fachzeitschrift mit Peer Review lange warten und kann sich müde publizieren, bis man Herausgeber eines führenden Organs wird. Verfasser und Peer erscheinen im System Sammelband dagegen als austauschbare Rollen, ja als auf Gegenseitigkeit angelegte Funktionen mit impliziten Kooperationsnormen, wie sie das System der großen Fachorgane nicht kennt, bei denen ja oft auch die Anonymität des Prozesses ein wichtiges Kriterium darstellt. Schreiben und Herausgeben sind im neuen System ganz offensichtlich Geschäfte auf Gegenseitigkeit.
Gibt es in dieser schnell sich schließenden Organisation der Wissenschaft etwas, was noch nicht integriert ist und sperrig absteht? Ja, es ist der "Einzelforscher", der sich diesen Namen nicht selbst gegeben hat, da er das Wort Forscher für ausreichend hielt. Der Einzelforscher wird in den Reports der Institute und Fachbereiche unter "Ferner" mitgeführt, im Grunde ist er eine unproduktive Kostenstelle. Die Verhältnisse haben sich also grundlegend gewandelt: Die Gruppe ist die bestimmende und vermögende Realität, der Forscher das nicht mehr lange geduldete Relikt.
All das kann als die übliche Schwankung eines Betriebs betrachtet werden. Entscheidend ist aber, ob das Leitmedium Sammelband die Fächer entscheidend vorangebracht hat. Sammelbände können wie Monographien Fachgeschichte machen. Ich denke hier etwa an den 1983 von Eric Hobsbawm und Terence Ranger herausgegebenen Band The Invention of Tradition, der eine ganze Industrie ausgelöst hat (interessanterweise halten viele diese Publikation für eine Einzelleistung Hobsbawms). Die Selbstverständlichkeit des fesselnden und innovativen Sammelbands zugestanden habend, setzen wir tiefer an. Wenn der Sammelband und der Katalog der etablierte Bypass um die Peer Review sind, greift dann die Gesetzmäßigkeit, die Max Goldt einmal so formuliert hat: "Je moderner das Kommunikationsmittel, desto weniger geprüft gehen die Meldungen heraus"?
Es gibt ohne jeden Zweifel langweilige und überflüssige Zeitschriften oder Jahrbücher, aber ich bin noch in keinem einzigen Periodikum der Unterbietung aller editorischen Standards begegnet, wie man sie wieder und wieder in Sammelbänden findet. Hier sei ein englisches Beispiel zitiert, ein Aufsatz des Sammelbandes Sigmar Polke. Back to Postmodernity, "herausgegeben" von David Thistlewood 1996. Man liest dort "Butterfelder Conference" statt Bitterfelder Konferenz, was einen lustig stimmt, aber ärgerlich ist, wenn es weitergeht mit "Kapitalisticher realismus" (zweimal), "Adenhauer" (dreimal), "Deutsche Worchenschau" (dreimal), "Ziegfried Gohr" (dreimal), (lies Siegfried Gohr), "Walter Albrecht" (lies Ulbricht)". Was "Du fruhen Fotodemalde" im Original heißen könnte, sei der Phantasie des Lesers überlassen, Autor und Herausgeber hatten offenbar keine Ahnung. Aber wer gleich in der ersten Zeile seines Beitrags T. S. Eliots Hauptwerk mit dem Titel The Wasteland anspricht, hat vermutlich auch im Englischen und mit der eigenen Kulturgeschichte seine Schwierigkeiten.
Wer aber kein Deutsch kann und es noch nicht einmal richtig abschreibt, sollte sich vielleicht besser keinen deutschen Künstler vornehmen. Das sei auch gesagt, weil dieser Beitrag in großer Manier erklärt, wie es in den sechziger Jahren bei uns so zuging -- in der Politik, der Kultur und der Kunst. Das ist ein Problem ganz vieler Sammelbände und ihrer jungen Autoren: Nicht alles, was man vorher nicht wusste, ist es wert, auch mitgeteilt zu werden. (Es ist mir klar, dass ich mit der Konzentration auf diesen einen negativen Fall all den ungezählten Herausgeber/innen Unrecht tue, die in mühsamster Kleinarbeit aus Rohmaterialien repräsentative Bände zustande gebracht haben.)
Ein Wort noch zur Pflicht gewordenen Interdisziplinarität. Hier gilt oft im Gegensatz zum gerade Gesagten: Nicht alles, was man mit Sicherheit weiß, ist es wert, noch einmal mitgeteilt zu werden. Interdisziplinarität läuft im Wesentlichen auf eine Multidisziplinarität hinaus. Ein Thema wird mit verteilten Rollen behandelt, eine Synthese oder Durchdringung findet selten statt. Und im Namen von Interdisziplinarität werden diejenigen Aufsätze aufgenommen, die vor allem für den schlechten Ruf des Formats sorgen: Das sind meistens Wiederauflagen dessen, was die Autoren an anderen Orten bereits mehrfach abgelegt haben -- man erkennt diese Texte schnell an den häufigen Selbstzitationen.
Womit wir bei den größeren Schwierigkeiten sind. Sehr viele Herausgeber versagen auf einer höheren und wichtigeren Ebene: bei der Auswahl der Beiträge und der Ausrichtung der Texte auf ein gemeinsames Ziel oder eine arbeitsteilige Behandlung des Stoffes hin. Um nur einen von ungezählten frustrierten Rezensenten zu zitieren: "Schließlich fehlt eine redaktionelle Abstimmung der Beiträge, so dass widersprüchliche Positionen nicht miteinander ins Gespräch kommen... Man gewöhnt sich ja nolens volens bei Sammelbänden an eine fehlende Redaktion, aber man sollte die regulative Idee nicht aus den Augen verlieren, dass Wissenschaft in einem Diskurs, bei dem man aufeinander eingeht, ihr Zentrum besitzt."
Hier waren offenbar gleich zwei Fehler zu monieren, die für das Genre durchweg typisch sind: mangelnde Abstimmung und fehlende Zuspitzung. Ebenfalls nicht selten dürfte der Fall sein, dass die Herausgeber sich in den Vordergrund spielen und durch ihren Beitrag andere Texte alt aussehen lassen. Auf einen extremen, aber sicher nicht einzigartigen Fall wurde neulich im Kontext einer Publikation der Tate Gallery in London aufmerksam gemacht. Im Katalog zur Ausstellung kamen mehrere Autoren zu Wort, die im Wesentlichen einen älteren Erkenntnisstand fortschrieben, während die Herausgeberin und Hauptautorin in ihrem Beitrag mit Triumph ihre neuesten Ergebnisse zur Biographie und zum Œuvre der Künstlerin ausbreitete, Daten, die im Grunde alle andere Aufsätze überflüssig machten.
Normalerweise legen aber die Veranstalter von Tagungen und die Herausgeber der darauf basierenden Sammelbände die genau entgegengesetzte Haltung vis-à-vis ihrer Beiträger an den Tag: nicht zu viel, sondern zu wenig Macht. Unsicherheit, wenn nicht Angst sind im Spiel. Ich gehe auf Tagungen nur, wenn man mir zusagt, dass ich meinen Vortrag nicht publizieren muss -- ich möchte nicht, dass nach dem wissenschaftlichen Aufsatz auch noch der Vortrag sich dem Diktat des Formats Sammelband unterwirft. (Was Kollegen natürlich nicht hindert, während des Vorlesens Druckfehler in ihrem Beitrag zu korrigieren. Und einmal habe ich erlebt, wie der Vortragende nach getaner Arbeit vom Podium stieg und dem Organisator und Herausgeber des geplanten Sammelbandes sein Manuskript überreichte.) Ich halte mich also meist (nicht immer!) aus dem ganzen Postproduktionsgeschäft heraus, aber ganz oft werde ich gefragt und von Stiftungen um Gutachten gebeten, was ich denn meine, ob alles gedruckt werden könne oder einiges vielleicht nicht -- und zum Schluss wird alles gedruckt, weil die Herausgeber und Herausgeberinnen nicht den Mut haben, sich in den Richterstuhl zu setzen. Das kann man auch sehr gut verstehen: Das Amt des Veranstalters haben sie nicht delegiert bekommen, sie haben es aus eigener Initiative ergriffen und sind ihren Symposiarchen verpflichtet, dass überhaupt etwas zustande kam. Und oft wissen sie nicht so recht, wie sie mit fachfremden Kollegen umgehen sollen.
In der Kunstgeschichte sind viele Sammelbände Ausstellungskataloge. Da geht es so zu: Der Herausgeber ist pro forma und pro honore der Direktor oder die Direktorin, die mit Sicherheit am allerwenigsten mit dem Prozess und dem Ergebnis zu tun hatten. Die Arbeit machen die zuständigen Kuratoren, die aber mit dem anderen Geschäft, der Ausstellung selbst (und mit der nächsten und übernächsten Ausstellung), so viel zu tun haben und die sich ja am letzten möglichen Wochenende selbst noch einen Text abringen müssen, so dass sie zufrieden sind, wenn die von ihnen ausgesuchten Autoren liefern, in time, in Word, und den Rest besorgen junge Kollegen und Kolleginnen, die im Werkvertrag für diese und andere Aufgaben angestellt wurden. Diese lesen dann in der Regel als erste und manchmal als einzige die Textbeiträge, und sie sind oft sehr aufmerksam und leisten gute Dienste, was Fakten und Einrichtung des Textes anbelangt, aber sie werden einen Teufel tun und sich mit den zum Teil angesehenen und einflussreichen Autoren in grundsätzlichen Fragen anlegen. Es wird gedruckt, was von Computer zu Computer gegangen ist. Und das ist eine Menge.
Die Frage, warum Ausstellungskataloge so umfangreich sind oder wirken, lässt sich mit drei Antworten klären. Erstens: Die großen Museen haben sehr viel Geld. Eine Ausstellung ohne Katalog ist keine Ausstellung, genauso wenig wie eine Tagung ohne Sammelband eine Tagung ist. Zweitens: Wer einen Ausstellungskatalog ediert und unter den oben beschriebenen Vorgaben operiert, vergibt lieber einige Textaufträge mehr -- der eine oder andere Autor könnte ja ausbleiben. Meist kommen aber dann doch alle, denn Museen bezahlen ihre Autoren, oft gar nicht mal schlecht, und die Großzügigkeit in Sachen Bebilderung und Qualität des Drucks ist auch nicht ohne Reiz. Drittens: Umfangreich wirken die Kataloge, weil die Autoren sich nicht absprechen und deswegen oft dieselben Aspekte traktieren (siehe oben). Immer mehr Kataloge sammeln individuelle Stimmen zu ein und derselben Sache.
Nehmen wir jetzt einfach den durchaus realen Fall eines perfekten Sammelbandes: Er hat ein aktuelles Thema, das auch interdisziplinär von Belang ist, die Autoren haben sich abgesprochen, sie haben das Thema aufgeteilt und sind nicht einer Meinung, was sie auch deutlich machen. Die Herausgeberin hat den Band nicht nur angedacht, sondern auch anregend komponiert und für die üblichen Standards gesorgt. Wo ist das Problem? Es besteht darin, dass ich den Band erst einmal finden muss. Hier stoßen wir auf den gravierendsten Mangel unseres Formats, seine Erreichbarkeit. Der Sammelband will ein Wissenschaftssystem bedienen, ja verändern, dessen Retrieval-Systeme aber entweder aus der Zeit vor dem Sammelband stammen oder von den Naturwissenschaften in ihren Auswahlkriterien dominiert werden. Sammelbände spielen in den großen Zitationsindizes wie "Web of Knowledge" oder "Ulrich's Periodical Directory" (300 000 Zeitschriften!) keine Rolle.
Es gibt andere Formen der Auswertung, die zum Beispiel die in Zeitschriftenaufsätzen zitierte Literatur -- also Monographien, Aufsätze in Büchern und in Zeitschriften -- aufnehmen, aber da ist das Merkwürdige, dass der Zeitschriftenaufsatz mit Vorliebe nicht Sammelbände, sondern Monographien auswertet. Es existiert eine merkwürdige Kontaktscheu zwischen den Gattungen. Wenn es aber Bibliographien alten Stils für Fächer noch gibt, dann nehmen sie -- wenn überhaupt -- den Sammelband als Totalität auf und bringen die Beiträge nicht aufgeschlüsselt und in thematischen Zusammenhängen unter. Die Interdisziplinarität ist der inhaltliche Hinderungsgrund: Es gibt keine Bibliographien des interdisziplinären Schrifttums, also bleibt es den Fachbibliographien freigestellt, solche Bände aufzunehmen, was sie in der Regel von der Konzentration auf ihre Spezialität abhängig machen.
Nun könnte man inhaltliche Erschließung für das eigentliche Problem der Zeitschriften halten, die eine unzugängliche Masse zu bilden scheinen, wenn man das ungeliebte und oft unmögliche Geschäft der Benutzung von Bibliographien nicht betreibt. Das Retrieval der über viele ältere Jahrgänge verstreuten und thematisch diversen Aufsätze einer Zeitschrift ist in diesem Moment aber nicht mehr das Problem, da sie digital erschlossen wird -- wie es das JSTOR für viele führende Organe der Geisteswissenschaften tut. Kurz gesagt: Auf den Sammelband, die größte Umstellung auf dem Gebiet des wissenschaftlichen Publizierens nach 1968, sind die bibliographischen Hilfsmittel nicht eingestellt. Und das in Zeiten von Qualitätsmessung und Qualitätsbelohnung. Es könnte also sein, dass der schönste Sammelband erscheint -- und niemand liest ihn: Autoszientifik vom Feinsten. Wenn Herausgeber und Verlag ihn Lesebuch Projekte (509 Seiten!) nennen, kann man diese Gefahr auch ohne Hände greifen: So nennt man eine Sammelmappe zu Hause, die man nach Jahren wiederfindet.
Persönlich habe ich längst aufgegeben, mir neue Einzelbände zu merken und bestimmten Interessengebieten zuordnen zu wollen. Die Fachzeitschriften haben demgegenüber den nicht unbeträchtlichen Vorteil, dass sie automatisch ins Haus kommen, während im anderen Fall irgend jemand die Sammelbände begutachten, bestellen und bezahlen müsste. Es gibt Verlage, die auf die Veröffentlichungsform Sammelband spezialisiert sind und sich wenig Mühe machen, allein durch den Titel die Attraktivität und Sonderstellung ihrer Bände zu steigern. Bilderfragen, Die Stadt der Bilder, Bilder trotz allem, Blick und Bild, Was ist ein Bild?, Theorie des Bildes, Vom Aufstieg der Bilder, Bild-Zeichen, Kulturen des Bildes, Das selbstbewusste Bild, Ordnungen der Bilder: Wer möchte sich hier noch ein Bild machen? Es kleben die Bände der Monographien und der Sammelbände in der Erinnerung zu einem idealen Gesamtsammelband, zu einem großen Kompilationstitel zusammen.
Der Wissenschaftsrat sieht diese Probleme in seinem sehr lesenswerten Report zur Lage der Geisteswissenschaften nicht anders: "So verläuft etwa die Kommunikation von Forschungsergebnissen in vielen Fällen primär über das Medium von Sammelbänden oder Reihen, in denen die Beiträge interdisziplinär konzipierter Tagungen oder Kolloquien publiziert werden. Diese stellen Fachkommunikation zwar ad hoc und situativ her, werden aber von der breiteren Community der einzelnen Disziplin häufig nur unzureichend wahrgenommen und entbehren damit der Nachhaltigkeit. Ohne intensive Kommunikation und Rückbindung der Forschungsergebnisse an die fachlichen Kontexte der eigenen Disziplinen können diese Formen der Kooperation sogar eher zu einer Verstärkung denn zu der angestrebten Reduzierung der institutionellen und methodischen Zersplitterung beitragen."
Es ist also, nach so vielen Jahren Sammelband, etwas Neues gefordert. Ohne hier schon verallgemeinern zu wollen, sehe ich eine positive Tendenz vom Sammelband zur Anthologie, zu Bänden, die von ihrer Anordnung leben. Die eingangs erwähnte Kristin Marek hat zusammen mit Thomas Macho ein Buch mit dem Titel Die neue Sichtbarkeit des Todes herausgegeben, das als Sammlung und nicht als Sammelband besticht und weder durch den Buchdeckel zusammengehalten wird, noch die Dokumentation einer vorausgegangenen Tagung mit den üblichen Fehlstellen besorgt. Es ist eine Sammlung von Texten zur älteren und aktuellen Kulturgeschichte der Toten, und es bringt viele Bilder und Interviews.
Und weil wir von einem verunglückten Band über den deutschen Künstler Sigmar Polke sprachen, wollen wir auch das gerade erschienene Gegenstück nennen, den Ausstellungskatalog Sigmar Polke: Wir Kleinbürger!, zu dem ich einen kleinen Beitrag geliefert habe, ohne aber im Geringsten auf die Komposition des Ganzen Einfluss zu nehmen. Diese haben Petra Lange-Berndt und Dietmar Rübel ins Werk gesetzt. Werk kann man das neue Ganze wirklich nennen. Eine in sich tragende Sammlung von vielen Fotografien und Reproduktionen sowie alten und neuen Texten kommt der polkeschen Tendenz entgegen, das Bild aus Bildfeldern zusammenzusetzen und als "Multirealität" (Werner Hofmann) zu gestalten. Polkes Serie Wir Kleinbürger! stammt von 1974-75, aus der Hochzeit der Gruppen und Kommunen. Polke, der Maler der Gruppentextur, war ein Künstler, der damals in und mit einer Gruppe lebte und arbeitete -- es ist schön und nicht zu spät, dass das Machen wissenschaftlicher Bücher zu einem Entwicklungsstand von Komplexität aufschließt, der in der Kunst gute dreißig Jahre zurückliegt.