Merkur
2009-06-02
Heftbeschreibung Merkur 06/2009
Das Juniheft (Nr. 721) erfreut den ästhetisch gebildeten Menschen: Armin Schreiber über das Kunsterlebnis, mit besonderer Berücksichtigung neurobiologischer Forschungsergebnisse; Friedrich Pohlmann über den kreativen Einfall: Wie Kunst entsteht. Abgerundet wird dieser Schwerpunkt durch Wolfgang Ullrichs Ästhetikkolumne, in der Andreas Gursky ordentlich aufs Haupt bekommt, und John Derbyshires Rezension des kuriosen Buches "The Art Instinct".
Vom Buch zum E-Book? Viel interessanter als diese angsterfüllte Feuilletonfrage ist es, nicht nur über Verbreitungsformen, sondern über das Verfassen und die konkrete Lektüre von Literatur nachzudenken, denn tatsächlich, so Michel Chaoulis These, befinden wir uns bereits im postgutenbergischen Zeitalter; Paul A. Cantor erklärt den Gebildeten unter den Verächtern des Fernsehens, was sich, von ihnen unbemerkt, dort in den letzten zwanzig Jahren so getan hat.
Dass die Neurowissenschaften zur Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts werden und dabei auch den Kapitalismus gehörig ummodeln, behaupten Hennric Jokeit und Ewa Hess; Wolfgang Marx nimmt uns mit auf eine weitere Etappe seiner kleinen Reise durch die Bewusstseinspsychologie; die Täuschung als Prinzip der Wirtschaftspolitik ist Thema von Karen Horns Ökonomiekolumne; dass Reinhart Koselleck neben der "Sattelzeit" auch noch die Historik erfunden hat (mit der man womöglich die Zukunft voraussagen kann), erläutert uns Stefan-Ludwig Hoffmann.
Last but not least: Karl Heinz Bohrers Wiederlektüre des "Philosophischen Diskurses der Moderne" -- auch eine Hommage zum achtzigsten Geburtstag von Jürgen Habermas.
Neurokapitalismus
Von Hennric Jokeit und Ewa Hess
Der selbstbewusste Auftritt der Neurowissenschaften lässt ahnen, dass sie zur Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts werden wollen. Grundlage dieses Anspruchs ist die Maxime, dass alles menschliche Verhalten durch die Gesetzmäßigkeiten der Aktivitäten von Nervenzellen und der Art, wie sie im Gehirn organisiert sind, bestimmt ist.
Erleben wir jetzt, wie ein "Neurokapitalismus" den Wohlstandskapitalismus des 20. Jahrhunderts ablöst? Wie die Neurowissenschaften und die pharmazeutische Industrie tatsächlich einen sich selbst optimierenden "neuen Menschen" schaffen?
Während die Beeinflussbarkeit auf der genetischen Ebene noch in weiter Ferne liegt, ist die Möglichkeit einer temporären Einflussnahme auf neurochemischer Ebene in mehreren Lebensbereichen Realität geworden -- und ein großes Geschäft: Allein in den USA beträgt der Umsatz mit Antidepressiva und Neuroleptika 16 Milliarden Dollar!