Osteuropa
Osteuropa
2009-03-20
Heftbeschreibung Osteuropa 2-3/2009
Freiheit im Blick
1989 und der Aufbruch in Europa
Adam Michnik
Verteidigung der Freiheit
Reflexionen über 1989
Das Jahr 1989 brachte eine Revolution ohne Revolution. Der Kampf gegen den Kommunismus offenbarte den Glauben an den Sinn menschlicher Freiheit. Doch diese Freiheit brachte Paradoxien mit sich. Die Arbeiter, die in Polen die Freiheit erstreikt hatten, waren die ersten Opfer der Transformation. Hochburgen der Solidarnosc gingen Bankrott. Aber im gesamten Raum mit Ausnahme des Balkans und Russlands hat es nie bessere 20 Jahre gegeben als die zurückliegenden. Heute allerdings steht Europa vor einer Bewährungsprobe. Zynismus, der jedes Wertesystem unterminiert, und autoritäre Versuchungen bedrohen die Freiheit. Es geht um die Verteidigung der Republik.
György Konrád
Ohne Prügel und Waffengetöse
Notizen aus der Wende: Dezember '88 -- Januar '89
Was bleibt vom Sozialismus? Wir. Die Lektionen und Spuren, der Stil, die Moral und Logik vierzig Jahre lassen sich nicht einfach in die Mülltonne werfen. Hier wird ein Experiment durchgeführt: Wie kann man mit geistigen Mitteln den Weg für die Demokratie bereiten, wie können wir unsere menschliche Würde entfalten, den Mut und die Ruhe der Freiheit erlernen? Zeit der Beschleunigung, fast schon Revolution. Revolution der Normalität. Statt des Moskauer Weges der Integration haben wir uns für die Brüsseler Konzeption entschieden. Dazu bedurfte es keines einzigen belgischen Panzers.
Petr Pithart
Geburtsmale
Wie die "Samtene Revolution" zum "Umbruch" verkam
Der Prager Frühling ging nicht im August 1968 zu Ende. Erst die innere Okkupation durch die bewaffnete tschechoslowakische Staatsmacht ein Jahr später brach den Widerstand. Was folgte, war ein Niedergang der Gesellschaft, der Rückzug der Menschen ins Private. Die Zerstörung des Vertrauens zwischen den Menschen in den zwanzig langen Jahren der "Normalisierung" hat Folgen weit über das Jahr 1989 hinaus. Der Raubtierkapitalismus hat die Regellosigkeit der Schattenwirtschaft zum Gesetz gemacht. Was bleibt, ist die "Solidarität der Erschütterten", die bereits die Charta 77 als pluralistische Gemeinschaft ohne Ideologie zusammenhielt.
Tomas Venclova
Die in der Kälte wohnten
Litauische Dissidenz 1953 -- 1980
Litauen ist nicht Ungarn. Was banal klingt, war grausame Realität. Die UdSSR unterdrückte in den baltischen Sowjetrepubliken den Freiheitswillen noch gewaltsamer als in den ostmitteleuropäischen Satellitenstaaten. Daher erachteten viele national gesinnte Litauer nach der Niederschlagung des Partisanenkampfs gegen die Okkupation offenen Widerstand für sinnlos. Sie verhielten sich scheinbar systemkonform, um mit "organischer Arbeit" die Grenzen des Erlaubten zu erweitern. Erst in den 1960er Jahren entstanden wieder nennenswerte Untergrundgruppen. Ein Jahr nach der KSZE-Schlussakte von 1975 wagten dann einige Dissidenten, mit der litauischen Helsinki-Gruppe die erste nichtkonspirative Vereinigung Andersdenkender zu gründen. Diese kämpfte -- anders als die meisten litauischen Dissidentengruppen -- nicht nur für die nationale Unabhängigkeit, sondern auch für die Freiheit des Individuums. Damit legte sie den Grundstein für das moderne Litauen.
Karl Schlögel
Die Ameisenhändler vom Bahnhof Zoo
Über Geschichte im Abseits und vergessene Europäer
Es gibt keine geschichtliche Sekunde Null. Die Rede, dass der Umbruch 1989 "aus heiterem Himmel" gekommen sei, sagt nur etwas über die begrenzten Horizonte von Zeitgenossen aus. 1989 wurde auch nicht von "Großen Männern" gemacht. Dem Fall der Mauer ging eine lange Phase der Zermürbung voraus. Sie ist verbunden mit den Bewegungen des Ost-West-Expresses und der Ameisenhändler aus Europas Osten, deren Umschlagplatz Berlin wurde. Diese Menschen sind die Helden des Umbruchs. Sie und die Brückeningenieure, Billigflieger und Busunternehmen haben das neue Europa geschaffen. Deshalb: den Karlspreis für Eurolines!
Wolfgang Eichwede
Don Quichottes Sieg
Die Bürgerrechtler und die Revolutionen von 1989
Die Bürgerrechtler haben die Revolutionen von 1989 nicht gemacht. Doch mit ihren Schlüsselbegriffen des Rechts, der Gewaltfreiheit, des Dialogs und dessen Institutionalisierung am Runden Tisch gaben sie dem Umbruch ein Profil. Die Geburt der Menschenrechtsbewegung war am 5. Dezember 1965 in Moskau. Seitdem versuchten Bürgerrechtler in der UdSSR, in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR Einfluss auf die Gesellschaft und die Machthaber auszuüben. Die Macht der Ohnmächtigen war stärker als die Gewalt der repressiven Regime.
Oldrich Tuma
Der verschwundene Schatten
Der tschechoslowakische Regimekollaps im Vergleich
Der Kollaps des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei kam spät, aber rasch. Als der Schatten des Jahres 1968 verschwunden und die Angst gebannt war, reagierte die Gesellschaft spontan, und der Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft beschleunigte sich rasant. Obwohl die KPC viel länger unbeweglich blieb als das polnische und das ungarische Regime, gab es auch viele Gemeinsamkeiten. Die zusammenbrechenden Regimes hatten sich auf die gleiche Ideologie und die gleichen Methoden gestützt. So traten ihnen auch dieselben Kräfte mit derselben Taktik entgegen. Vor allem aber beeinflussten sich die Entwicklungen gegenseitig. Besonders die Wechselwirkung zwischen den Ereignissen in der DDR und in der Tschechoslowakei war intensiv. Entscheidend für die bedingungslose Kapitulation ohne Gegenwehr war, dass die Sowjetunion den Regimes jegliche Unterstützung entzogen hatte.
Andrzej Paczkowski
Polnischer Bürgerkrieg
Der unaufhaltsame Abstieg des Kommunismus
Die Überwindung des Kommunismus in Polen setzte Ende der 1970er Jahre ein. Die prekäre wirtschaftliche Lage führte zu Streiks. Arbeiter schlossen sich zur Solidarnosc zusammen. Mit der katholischen Kirche trat die Gewerkschaft für Gewaltfreiheit und Reformen ein. Das Regime reagierte mit Repressionen und verhängte das Kriegsrecht. Damit begann ein Jahrzehnt des Bürgerkriegs mit anderen Mitteln. Das Regime verlor jegliche Legitimität im Inneren. Außenpolitisch führte Gorbacevs Perestrojka zum Verlust der bündnispolitischen Rückversicherung. Polens Regime sah sich gezwungen, die Opposition einzubinden, um Auswege aus der Krise zu finden. Der "Runde Tisch" wurde zum Forum des Dialogs, die partiell demokratischen Wahlen wurden zum Plebiszit gegen die kommunistische Herrschaft.
Gerhard Simon
List der Geschichte
Die Perestrojka, der Mauerfall und das Ende der UdSSR
In Deutschland gilt Michail Gorbacev als Architekt der Vereinigung, in Russland als Zerstörer der Sowjetunion. Beide Prozesse bilden eine zusammenhängende Ereigniskette. Der Machtverlust der kommunistischen Parteien in Ostmitteleuropa und das Ende der KPdSU waren Folge der Perestrojka in der UdSSR. Ohne die KPdSU aber fehlte der Kitt, der die Sowjetunion zusammenhielt. Die antisowjetische Mobilisierung profitierte vom Aufbruch in Ostmitteleuropa. 1991 war sie so weit fortgeschritten, dass die Mehrzahl der Menschen, einschließlich der KP-Funktionäre, das Ende der Sowjetunion für unvermeidlich hielt.
Fedor Luk'janov
Blick zurück nach vorn
Russland zwischen Geschichte und Globalisierung
Ohne die Perestrojka und das Neue Denken in der Sowjetunion wäre weder der Ost-West-Konflikt beendet worden, noch hätten die Ostmitteleuropäer ihre Freiheit erreicht. 20 Jahre nach 1989 sucht Russland noch immer seine politische Identität und seinen Platz in der Welt. Russlands politische Eliten haben den Zerfall der Sowjetunion nicht verwunden. Die Sehnsucht nach dem Imperium und das wiedergewonnene Großmachtbewusstsein stehen im Widerspruch zu den wirtschaftlichen und demographischen Möglichkeiten. Innenpolitisch bleibt Russlands Weg ein anderer als der, den die postkommunistischen Staaten in Ostmitteleuropa eingeschlagen haben. Außenpolitisch steht die Neujustierung der Beziehungen zur EU auf der Tagesordnung.
Jerzy Holzer
Abschied von einer Illusion
Die Solidarnosc und die Idee einer konfliktfreien Gesellschaft
Eines hatten die Solidarnosc und die Kommunisten gemeinsam: den Traum von einer konfliktfreien Gesellschaft. Doch ebenso wenig, wie es den Kommunisten gelungen war, die Bürger von ihrem Gesellschaftsmodell zu überzeugen, schaffte es die Solidarnosc. In den 1980er Jahren wurde sie durch Kriegsrecht und interne Konflikte geschwächt. Die Masse der Bevölkerung kehrte ihr den Rücken und zog sich ins Private zurück. Nach 1989 setzten sich die Flügelkämpfe im Post-Solidarnosc-Lager fort. Der Streit um den richtigen Umgang mit der Vergangenheit und um die Geschwindigkeit der Transformation spaltete die Gesellschaft. Die politischen Gräben verlaufen bis heute quer durch das Lager der ehemaligen Solidarnosc.
Jirina Siklová
Freiheit ist nicht maskulin
Die tschechische Frauenbewegung vor und nach 1989
Der Sozialismus behauptete, die Geschlechterfrage gelöst zu haben. Doch die verordnete Gleichstellung bedeutete für Frauen vor allem eine Doppelbelastung in Beruf und Familie. Zugang zu den entscheidenden Machtpositionen hatten sie sowieso nicht. Schlimmer jedoch war die Verletzung der elementaren Bürger- und Menschenrechte. Während die tschechische Frauenbewegung verstaatlicht wurde, kämpften eigensinnige Tschechinnen vor und nach 1968 für die Freiheit aller Mitglieder der Gesellschaft. Manchen westlichen Feministinnen mag es bis heute nicht einleuchten, aber die Voraussetzungen, sich um Frauenfragen zu kümmern, haben sich die Ostmitteleuropäerinnen erst 1989 erkämpft. Seitdem haben sich eine lebendige Zivilgesellschaft und eine akademische Genderforschung entwickelt.
Edmund Wnuk-Lipinski
Der große Wandel
Polen auf dem Weg zum "Runden Tisch"
Der Umbruch von 1989 begann in Polen mindestens zehn Jahre zuvor. Die friedliche Demontage des Kommunismus war das Ergebnis eines innergesellschaftlichen Wandels. Der Papstbesuch 1979 überwand die Atomisierung der Gesellschaft. Die Wirtschaftskrise beförderte die Entstehung einer Massenbewegung um die Solidarnosc. Durch das Kriegsrecht verlor das Regime zwar den Rest seiner Legitimation, doch die Opposition war zur Machtübernahme nicht in der Lage. Der "Runde Tisch" löste dieses Patt zugunsten der Opposition auf und leitete die politische Wende im sozialistischen Lager ein.
Stefan Samerski
Teufel und Weihwasser
Der Papst und die Erosion des Kommunismus
Johannes Paul II. trug zur Erosion der kommunistischen Parteiherrschaft in Osteuropa bei. Schon als Erzbischof von Krakau hatte er Religionsfreiheit und Menschenrechte eingeklagt. Nach seiner Wahl zum Papst 1978 setzte er diese Strategie fort. Durch Reisen und Ansprachen rief er zum Dialog mit dem Regime auf, verteidigte die Unabhängigkeit der Solidarnosc und förderte den Umbruch. Der Papst vermied es, sich politisch instrumentalisieren zu lassen. Aus der christlichen Botschaft leitete er eine Äquidistanz gegenüber jedem politischen und wirtschaftlichen System ab, sobald er die Würde des Menschen verletzt sah.
Jáchym Topol
Von der Irrenanstalt nach Europa
Über die Obsession der Geschichte und den unwiderstehlichen Drang, die Kontrolleure zu provozieren
Der tschechische Schriftsteller Jáchym Topol hält wenig von der Heroisierung der Dissidenten -- zu denen er als einer der jüngsten gehörte. Vehement wehrt er sich aber gegen die Verunglimpfung der Freiheit. Um zu verstehen, was Ostmitteleuropa in den vergangenen zwanzig Jahren erreicht hat, genügt eine Reise nach Belarus.
Katharina Raabe
Der erlesene Raum
Literatur im östlichen Mitteleuropa seit 1989
Eduard Goldstückers Prognose, der geschichtsmächtige Roman der Gegenwart werde aus Ostmitteleuropa kommen, erfüllte sich prompt in Péter Nádas' Buch der Erinnerung. Die Werke von Aleksandar Tisma und Imre Kertész erschütterten die Leser. Die Literatur zeigte sich gewachsen, vom Zivilisationsbruch Auschwitz und dem Grauen der Kriege, von der Kontamination jedes Quadratmeters mitteleuropäischen Bodens durch Schuld und Verbrechen zu erzählen. Jüngere Autoren machen historische Metropolen, Landschaften und Räume wieder sichtbar, die im Schatten des Eisernen Vorhangs gelegen hatten und über die sich der Nebel des Vergessens gesenkt hatte. Und wie schon einmal auf den Trümmern des Habsburgerreichs zeigt sich: Melancholie und Groteske durchziehen die große mitteleuropäische Literatur.
Ales Steger
Erbarmen! Erbarmen!
Herr Professor, verstehen Sie das Leben?
Der Zerfall Jugoslawiens ist ein Menetekel. Er begann mit dem Versuch, Bildungspolitik und Kultur zu zentralisieren und zu vereinheitlichen. Dies scheiterte. Daraus sollte Europa lernen. Die Tendenz der EU, durch eine spezifische Förderpolitik Kultur zu uniformieren und zu zentralisieren, ist unübersehbar. Der Preis ist hoch. An die Stelle von Vielfalt rückt Gleichförmigkeit, an die Stelle des politischen Diskurses in und über Europa PR und Propaganda. Europa droht so zu einer hohlen Floskel zu degenerieren und die Freiheit der Kultur zur Farce.
Gemma Pörzgen
Dynamik und Verharren
Europäische Öffentlichkeit und ihre Grenzen
Immer häufiger erklingt der Ruf nach einer europäischen Öffentlichkeit. Dabei gibt es sie längst: als vielstimmigen Chor nationaler Medien, der die bunte Vielfalt Europas widerspiegelt und sich kaum steuern lässt. Aber in der EU-Kommission ist der Wunsch groß, in dieser Sphäre an Einfluss zu gewinnen und eine EU-Öffentlichkeit zu formen. Doch die zahlreichen Medienprojekte entbehren nicht einer gewissen Künstlichkeit. Nur wenige werden den hohen Ansprüchen gerecht. Zwar bietet das Internet viele Chancen für einen grenzüberschreitenden Diskurs, aber als globalisiertes Medium lässt es sich kaum auf die EU-Grenzen einschränken. Auch fehlt es an Persönlichkeiten, die zu Identifikationsfiguren für Europa werden könnten.
Christina Links, Katharina Raabe
"Literatur, von der wir geträumt hatten!"
Das Buch, der Aufbruch und die Ambivalenzen von 1989
Der Kalte Krieg und die deutsche Teilung hatten auf die Rezeption von Literatur aus Osteuropa starken Einfluss. In der DDR wirkte der Verlag Volk und Welt als Drehscheibe der Literaturvermittlung. Die Systematik und Kompetenz der Mitarbeiter waren vorbildlich. Ideologische Vorgaben und Zensur setzten ihrem Wirken Grenzen. In der Bundesrepublik gab es eine komplementäre Rezeption. Hier erschien auch, was in der DDR verboten war. Einzelne Enthusiasten wirkten als Vermittler. 1989 war eine Zäsur. Während sich für die Verlage aus dem Westen neue Chancen eröffneten, verloren die im Osten ihre Sonderstellung. Über "Bückware" und "Bestseller", Marktgesetze und Kompetenzverluste, verschiedene Leseerfahrungen sowie das Suchen und Finden guter Literatur sprechen die Lektorinnen Christina Links und Katharina Raabe.
Doris Liebermann
"Ich begreife nur den Menschen, der stürzt"
Osteuropäische Einflüsse in H.-H. Grimmlings Werk
Mit seinen frühen, noch in der DDR entstandenen Mauer-Bildern und einem Selbstportrait war der Maler Hans-Hendrik Grimmling auf der großen Ausstellung Moskau--Berlin vertreten. Doris Liebermann sprach mit ihm über die Ambivalenz der staatlich verordneten Freundschaft zur Sowjetunion, die ernsthafte Auseinandersetzung mit russischer Kunst und Kultur sowie über deren Einfluss auf sein Werk.
Dobrochna Dabert
Der Umbruch
1989 im polnischen Film
Die Überwindung des Kommunismus brachte dem Kino eine nie gekannte künstlerische Freiheit. Doch die Erwartungen, dass der Film die Kunstform sei, die den Umbruch am besten darstellen könnte, blieben unerfüllt. Der evolutionäre Charakter der "Refolution" verhinderte das. Der Runde Tisch 1989 eignet sich nicht als Pendant zum Sturm auf die Bastille 1789 und als Filmstoff. Überträgt man jedoch die anthropologische Perspektive, dass Etappen des menschlichen Lebens durch Übergangsrituale markiert werden, auf die polnische Gesellschaft, so zeigt sich, dass der polnische Film den Erfahrungen des Umbruchs facettenreich und vielschichtig Ausdruck verliehen hat.
Ivaylo Ditchev
Grenzfälle
Eine Gebrauchsanweisung
Die sozialistische Staatsgrenze wurde "verteidigt". Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts lautet das Paradigma "Bewachung". Grenzkontrollen verloren an Bedeutung, Überwachungsprozeduren verlagerten sich ins Landesinnere. Wirtschaftliche, kulturelle und politische Unterschiede sind damit aber nicht aufgehoben. Die Grenze ist heute keine scharfe Trennlinie mehr, sondern eher eine Zone, in der sich nationale Stereotypen überschneiden, Warenströme aufeinandertreffen, Menschen begegnen, ein Kontaktraum für imaginäre und reale Differenzen.
Stefan Auer
Wer hat Angst vor Osteuropa?
Nationalismus und europäische Integration nach 1989
EU-Enthusiasten laufen Gefahr, zum Niedergang der Europäischen Union beizutragen. Ursache sind verzerrte Ansichten über Europas Vergangenheit und unrealistische Erwartungen an seine Zukunft. Weder lässt sich die Integration länger aus den historischen Erfahrungen der Gründerstaaten ableiten, noch haben wir es mit einer "postnationalen Konstellation" zu tun, in der Verfassungspatriotismus den Sinn der Integration stiften kann. Die EU von 27 Staaten ist heterogener als die EWG von sechs. Doch dies ist keine Belastung, die überwunden werden muss. Differenz und Konflikte sind eine Chance und der Kern des Politischen. Auf dem Programm steht die Repolitisierung der EU.
Kai-Olaf Lang
Rebellion der Ungeduldigen
Populismus in Ostmitteleuropa
Populistische Politiker und Parteien haben Erfolg. Sie stellen Prinzipien der liberalen Demokratie wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Pluralismus und Minderheitenschutz offen oder latent in Frage. Der Populismus ist inhaltlich, thematisch und ideologisch facettenreich. Er reicht von der extremen Rechten über antimoderne Agrarparteien und Sozialpopulisten bis zu Linksegalitaristen. Das Gros ist prosozial, national und europaskeptisch. Die Populisten erhalten Unterstützung aus der Peripherie, den Verlierermilieus der Zentren und zunehmend auch von der "verhinderten Mittelklasse", deren Hoffnungen unerfüllt geblieben sind. Der Anpassungskonsens aus der Zeit des Beitritts zur EU, soziale Härten zu akzeptieren, funktioniert nicht länger. Der Erfolg der Populisten ist ein Indikator für anhaltende Funktionsdefizite in Staat und Verwaltung.
Dorothee Bohle, Béla Greskovits
Wirtschaftswunder und Staatsverschuldung
Zur politischen Ökonomie Ostmitteleuropas
20 Jahre Demokratie und Marktwirtschaft in Ostmitteleuropa sind ein großer Erfolg. Dies unterscheidet Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn von fast allen anderen postsozialistischen Staaten. Das Erfolgsmodell hat zwei Komponenten. Zum einen ist es den vier Staaten gelungen, zum Fertigungsstandort transnationaler Konzerne zu werden. Das schafft Arbeitsplätze und bringt Kapital in die Region. Zum anderen haben die Regierungen die sozialen Härten der Transformation wohlfahrtsstaatlich abgefedert. Der Preis ist eine enorme Staatsverschuldung. Seit dem EU-Beitritt muss gegen diese vorgegangen werden. Die Unzufriedenheit wächst, populistische Kräfte finden immer mehr Zulauf.
Vladimír Handl
Vom Sowjetsatelliten zur Westintegration
Zwanzig Jahre tschechische Europapolitik: Eine Bilanz
Der Umgang mit dem Eingeklemmtsein zwischen Deutschland und Russland gilt den ostmitteleuropäischen Staaten als zentrale außenpolitische Aufgabe. Das Jahr 1989 hat eine neue Antwort ermöglicht. "Rückkehr nach Europa" hieß das Schlagwort, mit dem die Westorientierung eingeleitet wurde. Die Bilanz nach 20 Jahren fällt für Tschechien wie für die anderen Staaten der Region positiv aus: Sie sind als Mitglieder der NATO und der EU politisch und ökonomisch fest in den euroatlantischen Raum eingebunden. Dennoch ist seit einigen Jahren die Rede von der heiklen Zwischenlage wieder zu vernehmen.
Aleksander Smolar
Die Mauer in den Köpfen
Die Erinnerungskultur spaltet Europa
Mit der Osterweiterung 2004 begann die erfolgreiche politische und wirtschaftliche Integration Polens und der anderen ostmitteleuropäischen Länder in die Europäische Union. Doch diesem Schritt muss ein weiterer folgen: die Annäherung der westlichen und der östlichen Erinnerungskultur. Denn die unterschiedliche Beurteilung des Zweiten Weltkriegs, des Holocaust, des Ost-West-Konflikts, ja selbst des Umbruchs von 1989 sowie der Beziehungen zu Russland verhindert eine echte geistig-kultu¬relle Integration der EU.
Robert Brier
Große Linien
Zur Historisierung des Wandels um 1989
Die Revolutionen von 1989 haben in Ostmittel- und Osteuropa einen sozialen Wandel ausgelöst, der sich stark an der westlichen Moderne orientiert. Darin kommt jedoch keine historische Determiniertheit zum Ausdruck. Vielmehr speist sich die Form des Wandels aus dem Charakter des Ost-West-Konflikts als ideologische und kulturelle Auseinandersetzung um die Deutung der Moderne.