Osteuropa
Osteuropa
2009-02-05
Heftbeschreibung Osteuropa 1/2009
Roland Götz
Pipeline-Popanz
Irrtümer der europäischen Energiedebatte
In der europäischen Energiedebatte wird immer häufiger eine angeblich gefährliche Importabhängigkeit von Russland beschworen und bisweilen einer Militarisierung der Energiepolitik das Wort geredet. Stichwort Energie-NATO. Doch das Bedrohungsszenario ist verfehlt. Russland ist vom Export fossiler Energieträger mindestens ebenso abhängig wie Europa von deren Import. Inadäquat sind auch die Mittel, die zur Erhöhung der Energiesicherheit gefordert werden. Alle anderen Lieferstaaten und Lieferwege außerhalb Europas sind viel problematischer als Russland. Die EU sollte daher, statt alternative Pipelines zu fordern, alternative Energien fördern. Dies trägt ebenso wie die Erhöhung der Energieeffizienz in den östlichen EU-Staaten und in Russland nicht nur zur Versorgungssicherheit, sondern auch zur Klimasicherheit bei.
Jeronim Perovic
Farce ums Gas
Russland, die Ukraine und die EU-Energiepolitik
Der Gaskonflikt zwischen Russland und der Ukraine im Januar 2009 führte dazu, dass fast 20 europäische Staaten zwei Wochen kein Erdgas aus dem Osten erhielten. Russland setzte seinen Ruf als sicherer Energieversorger, die Ukraine ihren als zuverlässiges Transitland aufs Spiel. Für einseitige Schuldzuweisungen ist es zu früh. Die Ursachen des Gaskonflikts sind komplex. Vordergründig ging es um Gaspreise, Transitgebühren und Zwischenhändlerprofite. Doch dahinter verbirgt sich mehr. Der Konflikt war Teil der Auseinandersetzung um den Zugang zu den großen Energiereserven des Kaspi-Raums sowie um die Kontrolle über das ukrainische Pipelinenetz.
Arsenij Roginskij
Fragmentierte Erinnerung
Stalin und der Stalinismus im heutigen Russland
Die Stalinzeit ist in Russland heute sehr präsent, allerdings meist in idealisierter Weise. Dort, wo sie mit dem Krieg gleichgesetzt wird, steht Stalin für den Sieg; wo man des Terrors gedenkt, stehen die Opfer im Vordergrund. Die Verbrechen und die Täter werden nicht thematisiert. Das hat mit den fehlenden rechtlichen Grundlagen ebenso zu tun wie damit, dass die Unterscheidung von Tätern und Opfern schwer fällt. Dazu kommt eine offizielle Geschichtspolitik, die den Terror als Charakteristikum des Stalinismus marginalisiert und bagatellisiert.
Oleg Chlevnjuk
Die stalinistische Diktatur
Politik, Institutionen, Methoden
Neue Quellen haben das Wissen über die stalinistische Diktatur bereichert. Sie etablierte sich im Kampf der Partei gegen einen Großteil der Bevölkerung. Das war die Fortsetzung des Bürgerkriegs mit anderen Mitteln. Repression und Terror waren Pfeiler der zentralisierten Herrschaft. Sie wurden auf Befehl aus Moskau begonnen und beendet. Grundlage der politischen und administrativen Praxis waren die Kampagnen. Sie kompensierten die Schwäche der traditionellen Entwicklungsstimuli, hielten den Apparat unter Anspannung und garantierten eine starke Zentralisierung. Heutige Versuche, den kriminellen Charakter der stalinistischen Diktatur zu nivellieren, indem man sie auf die Modernisierung des Landes und den Sieg im Krieg reduziert, sind inakzeptabel.
Jörg Baberowski
Leben im Ausnahmezustand
Karl Schlögel: Terror und Traum im Jahr 1937
Die Vergegenwärtigung des Lebens im Ausnahmezustand ist eine Aufgabe, die den Historiker vor schwierige Kompositionsprobleme stellt. Denn er muss, wenn er die Vielfalt des gleichzeitigen Geschehens im Raum zur Sprache bringen will, seine Quellen so zum Sprechen bringen, dass die Vielstimmigkeit der Erfahrungen spürbar und erzählbar wird. Karl Schlögel hat mit Terror und Traum diesen Versuch unternommen, das Leben im Moskau 1937 zu vergegenwärtigen. Dieses anspruchsvolle Experiment ist nicht zum Abschluss gekommen. Aber es zeigt, wie eine Geschichte aussehen muss, die mehr sein will als eine Chronologie der Ereignisse.
Ulrich Schmid
Literarisierung der Geschichtswissenschaft
Moskau 1937: Karl Schlögels Meistererzählung
Dass die Geschichtswissenschaft Geschichten erzählt, ist spätestens seit Hayden Whites methodologischen Untersuchungen bekannt. Erst in jüngster Zeit haben die Historiker jedoch Konsequenzen aus dieser Einsicht gezogen: Carsten Goehrke baute in sein Werk Russischer Alltag fiktive Szenen aus der Vormoderne ein. Karl Schlögel geht einen Schritt weiter. Er konstruiert sein neues Buch Terror und Traum als literarisch stilisiertes Großnarrativ mit tragischen Protagonisten, spannenden Handlungssträngen und spektakulären Schauplätzen.
Nawojka Cieslinska-Lobkowicz
Der blinde Fleck
Raubkunst, Restitution und die "Ostjuden"
Die Suche nach Kulturgütern aus jüdischem Besitz, die von den Nationalsozialisten ab 1933 geraubt worden waren, und die Restitution an die rechtmäßigen Erben beschäftigen Politik und Betroffene bis heute. Eine Ausstellung in den Jüdischen Museen Berlin und Frankfurt sowie ein substantieller Begleitband "Raub und Restitution" widmen sich dem Thema. Doch etwas fehlt. Das Schicksal der osteuropäischen Juden kommt nicht vor. Das ist repräsentativ für Mängel der Forschung, für die Fortexistenz von Stereotypen und Unkenntnis. Die mangelnde Bereitschaft einiger Staaten in Ostmitteleuropa, das eigene jüdische Erbe anzunehmen und sich intensiv um Restitution zu kümmern, tut ein Übriges. Die Fälle der Kunstsammler Maksymilian Goldstein und Abe Gutnajer aus Lemberg und Warschau eignen sich als eine symbolische Ergänzung, um die Leerstelle zu schließen.
Nikita Sokolov
Der ewige Karamzin
Geschichtsideologie aus dem Lehrbuch
Geschichtsunterricht spielt eine wichtige Rolle für das politische Bewusstsein jeder Gesellschaft. In Russland entstanden die ersten Geschichtsbücher im 18. Jahrhundert. Schon bald setzte sich das von Nikolaj Karamzin entworfene staatsfixierte Konstrukt der Geschichte Russlands durch. Es ist die Wurzel des Denkens vom Sonderweg, der belagerten Festung, des Zentralismus und der Legitimation autoritärer Herrschaft. Von 1918 bis 1934 und während der Perestrojka dominierten andere Geschichtsbilder. Nun ist eine Restauration zu beobachten. Neue Geschichtslehrbücher verbreiten wieder ideologische Geschichtskonstruktionen in der Tradition Karamzins.
Isabelle de Keghel
Glaube, Schuld und Erlösung
Religion im neuen russischen Kriegsfilm
In den 1990er Jahren war der Zweite Weltkrieg kaum ein Sujet russischer Filme. In neuen Produktionen spielt er wieder eine Rolle. Religiöse Themen und Figuren stehen im Mittelpunkt. Pavel Lungins Ostrov wurde Ende 2006 zu einem Kassenschlager. Kirche und Staat fördern den Erfolg, doch er speist sich primär aus dem Bedürfnis der Gesellschaft nach individueller und spiritueller Auseinandersetzung mit Schuld und Vergebung.
Alexander J. Motyl
Russland: Volk, Staat und Führer
Elemente eines faschistischen Systems
In Russland hat sich ein faschistisches System etabliert. Seine Kennzeichen sind Hypernationalismus, Staatsfetischismus und der Männlichkeitskult um Vladimir Putin, der auch unter Präsident Medvedev der unangefochtene nationale Führer ist. Stabil ist diese Ordnung nicht. Wenn Putins Stern verblasst, werden die Machtkämpfe in der Elite erneut ausbrechen. Die heraufziehende Wirtschaftskrise und die imperiale Überdehnung tun ein übriges. Russland steht eine neue Zeit der Wirren bevor.
Karlheinz Kasper
"Im Paradies kenn ich mich aus"
Russische Literatur in deutschen Übersetzungen 2008
Mit 30 Titeln im Jahr hat sich die Anzahl der Übersetzungen aus dem Russischen ins Deutsche auf einem respektablen Niveau eingependelt. Zehn Titel waren 2008 allerdings den Genres Krimi und Fantasy zuzuordnen. Das spricht für deren Erfolg beim Leser, spiegelt jedoch nicht die Entwicklung der zeitgenössischen russischen Belletristik wider. Dort gibt es eine Tendenz zu antiutopischen Russlandbildern. Die wichtigen Bücher von Vladimir Sorokin und Dmitrij Gluchovskij liegen nun gleichwohl als Übersetzungen vor. Besonders erfreulich ist die Zahl der Entdeckungen von bisher Unbekanntem oder noch nicht ausreichend Erschlossenem, die von Sofja Tolstaja und Ivan Bunin über Anatolij Stejger und Leonid Dobycin bis hin zu Varlam Salamov reichen.