Merkur
2008-12-31
Heftbeschreibung Merkur 01/2009
Schluss mit Gier und Völlerei, nieder mit dem Werteverfall -- das neue Jahr wollen wir tugendhaft beginnen! Im Januarheft (Nr. 716) beschäftigt sich Clifford Orwin mit der triumphalen Karriere des Mitleids, das einmal als nettes Gefühl galt, nun aber zur zentralen Tugend geworden ist; Ute Frevert geht der trickreichen Dialektik der Forderung "Vertrau mir" nach (die Bankenkrise lässt grüßen); Mark Lilla erklärt, warum Paulus zum Lieblingsapostel der Linken geworden ist und von den jetzigen Kuschel-Lenins und Mao-Apologeten verehrt wird; Hans-Peter Müller will wissen, was von der "neuen Bürgerlichkeit", über die viel geredet wird, zu halten ist (wenig).
Wissenschaft ist ein weiterer Schwerpunkt des Heftes: Peter Uwe Hohendahl referiert die amerikanische Kritik an der neoliberalen Universitätsreform; Hubert Markl zeigt, warum Wissenschaftsvermischelung -- ein Physiker, ein Theologe und ein Neurologe diskutieren miteinander (und daraus machen sie dann ein hübsches Büchlein) -- in der Regel nicht funktioniert und ins Esoterikregal gehört; Eduard Kaeser knöpft sich die "Pop Science" vor, die aufs Event schielt und es zur Strafe bestenfalls zum Edutainment bringt.
In seiner Ästhetikkolumne führt Wolfgang Ullrich ein in die Geheimnisse der Internetwelt: Willkommen bei YouTube! Uwe Jean Heuser gibt dem Homo oeconomicus, mit dem die Wirtschaftswissenschaft sich gerade wieder so schrecklich blamiert hat, den Abschied: Nicht Gier, sondern Fairness treibt in Wirklichkeit den Homo reciprocans an! Dirk Baecker blickt über den Tellerrand der Ökonomie und erklärt den ganzen Schlamassel kulturtheoretisch.
In seiner Rezension geht Stephan Schlak mit Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte" ins Gericht, Thomas Sparr lobt die "Geschichte der Sexualwissenschaft" von Volkmar Sigusch über den grünen Klee. Und schließlich, Wissen und Tugend zart vereinend, die Humboldts in einem sympathetischen Porträt von Hazel Rosenstrauch (wobei nicht verschwiegen werden soll, dass Wilhelm ein Radikalliberaler und heftiger Gegner des intervenierenden Staates war und Caroline, noch schlimmer, ihr Leben lang einem wütenden Antisemitismus oblag).
Ute Frevert
Wer um Vertrauen wirbt, weckt Misstrauen.
Politische Semantik zwischen Herausforderung und Besänftigung
"Vertrauen" und "Misstrauen" sind hoch emotionale Begriffe -- Begriffe, die auf persönliche Nahbeziehungen verweisen. Doch auch im öffentlichen Leben, in Politik und Wirtschaft, kommt man nicht ohne diese Kategorien aus: Wenn das Vertrauen in das Finanzsystem zusammenbricht, wie wir es gerade erleben, gehen dessen Agenten, die Banken, pleite. Also müssen Banker und auch Politiker um Vertrauen werben. Aber wer das tut, erzeugt erst einmal Misstrauen... Merke: Vertrauen kann entstehen durch Reden und Handeln, doch wer sich erkennbar darum bemüht, weckt eher Misstrauen.