Wespennest
2008-08-20
Editorial
Gesellschaftskritische Grundtöne durchziehen diese Zeitschrift seit ihrer Gründung, und bei einer Diskussion über "1968 und die Folgen" hat Robert Schindel kürzlich das Wespennest als unorthodoxe linke Plattform für unverzichtbare ästhetische und politische Debatten bezeichnet. Des Dichters Worte noch am Revers vernahmen wir neulich die Totenrede eines gescheiterten SPD-Kandidaten für das Amt des Hamburger Bürgermeisters, der als Mitherausgeber des Kursbuches mit dessen Einstellung gleich auch das Ende eines "linksliberalen, kapitalismuskritischen Diskurses" annoncierte. Ist andererseits aber nicht gerade der gesamte Kursbuch-Jahrgang 1968 bei Suhrkamp neu aufgelegt worden? Trüben da nicht doch eher die Krokodilstränen eines ausgedienten Verlagsmanagers dessen intellektuelles Urteilsvermögen?
Evident ist, dass der Kapitalismus mit den akuten gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit nicht zu Rande kommt. Im Gegenteil: die soziale Ungleichheit wächst und die ökologische Zerstörung unserer Umwelt schreitet voran. Der Schwerpunkt dieses Heftes ist ein Widerspruch zum immer noch zu gerne nachgebeteten Axiom, dass mit dem "Sieg des Kapitalismus" die Geschichte insgesamt ihre höchstmögliche Entwicklungsstufe erreicht hätte. Die Argumente reichen dabei von der radikalen Zivilisationskritik eines John Zerzan bis zur systemrationalen Beweisführung bezüglich eines unausweichlichen Verschwindens des Kapitalismus bei Georgi Konstantinow. Christine Resch und Heinz Steinert wiederum beschreiben in ihrem Beitrag die Entwicklung des Kapitalismus seit 1848 und diagnostizieren seine neoliberale Aufhebung als regressive Mischung von Elementen realsozialistischer Planwirtschaften und frühkapitalistischer Feudalismen. Peter Möschl analysiert die Metaphorik des Kapitalismus. Sprachzensur, so eines seiner Argumente, verhindere politische Argumentation, und auch die populäre Wirkung der sozialkritischen Theorie Bourdieus habe durchaus paradoxe Auswirkungen in Bezug auf systemstabilisierende Metaphernpolitik. Heide Hammers Essay diskutiert Möglichkeiten widersetzlichen Agierens in Alltagszusammenhängen im Hingriff auf Theoriebausätze aus der Multitude-Debatte, Peter Rosei votiert voll Skepsis in seinem Essay weiterhin für ein eher sozialdemokratisches Gesellschaftsmodell.
Typisch für globalisierte Medienwelten ist die Missachtung der Peripherie. Das Genre der literarischen Reportage bietet eine Möglichkeit, die komplexen Umwälzungen unserer Zeit zu dokumentieren und den Blick auf marginalisierte Welten zu schärfen. Vielleicht kommt sie deswegen in den großen Medien nur mehr in Ausnahmefällen vor. Ein Grund mehr, der literarischen Reportage ab diesem Heft entsprechenden Raum zu bieten. Der junge kenianische Schriftsteller Binyavanga Wainaina begleitete ein Ärzteteam durch den Südsudan. Seine eindringlichen Sprachbilder beleuchten die Lebensumstände, die Kolonialismus und ausbeuterische Profitinteressen einem Kontinent, dem immer noch das pejorative Adjektiv "dunkel" angeheftet wird, aufgezwungen haben.
Acht Monate nach der Ermordung Martin Luther Kings bereiste der Filmdokumentarist Alfred Jungraithmayr die USA und besuchte dabei seinen in Washington "an einer Negeruniversität" (Zitat OÖ-Nachrichten) lehrenden Bruder. Philipp Mosetter kommentiert eine Auswahl der bei diesem Besuch entstandenen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die in Wespennest nun erstmals veröffentlicht werden. Die Thematik von Widerstand und Revolte und der daraus ableitbaren gesellschaftlichen Konsequenzen durchzieht Jungraithmayrs gesamtes dokumentarisches Schaffen. Hingewiesen sei hier vor allem auf seinen Film über das Frankenburger Würfelspiel, in dem er sich mit der problematischen historischen Erinnerung an die oberösterreichischen Bauernkriege beschäftigt.
Wäre es nicht im Konkurs: Ende des Kapitalismus hätte durchaus auch ein Kursbuch-Titel sein können -- in seiner eigensinnigeren und autonomeren Rowohlt-Zeit noch eher denn zuletzt als Zeit-Hybrid. Wie immer, wenn die Diskursoffiziere in den großen Verlagshäusern eine ehemals kritische Zeitschrift nach mehreren Abtakelungsphasen zur Versenkung freigeben, begründen sie das mit dem Verschwinden von kritischen Leserschaften. Nicht nur die prosperierende Existenz zahlreicher etablierter autonomer Zeitschriften, auch die Vielzahl interessanter Neugründungen der letzten Jahre entlarven solches Gerede als billige Geschäftslüge.
Walter Famler und Ilija Trojanow