Osteuropa
Osteuropa
2008-04-14
Heftbeschreibung für Osteuropa 2/2008
Dmitrij Furman
Russland am Scheideweg
Logik und Ende der "imitierten Demokratie"
Russland hat im Jahr 2008 die Chance, erneut einen demokratischen Pfad einzuschlagen. Seit der Auflösung der Sowjetunion, die dem Volkswillen widersprach, und der verfassungswidrigen Auflösung des Obersten Sowjet 1993 war der Kreml dem ehernen Gesetz der "imitierten Demokratie" gefolgt. Die autokratischen Ursünden zwangen die Machthaber, die Gewaltenteilung abzuschaffen und die Kontrolle über die Gesellschaft zu verschärfen. Aus diesem autokratischen Teufelskreis hat Putin einen Ausweg geschaffen: Mit dem Verzicht auf eine verfassungswidrige Kandidatur für eine weitere Amtszeit hat er einen bedeutenden Schritt zur "Entsakralisierung" und "Entpersonalisierung" der Macht getan.
Offener Brief von Sergej Kovalev
Kurz vor der "Wahl" genannten Akklamation, mit der Dmitrij Medvedev zum neuen Präsidenten Russlands gemacht wurde, meldete sich der Menschenrechtler Sergej Kovalev mit einem offenen Brief zu Wort, in dem er das unter dem scheidenden Präsidenten Putin errichtete Regime harsch kritisiert. Der 1930 geborene Biologe schöpft aus einer reichen Erfahrung: 1956 protestierte er gegen die sowjetische Intervention in Ungarn, 1968 setzte er sich für die Dissidenten ein, die wegen des Protests gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings verhaftet worden waren. 1975 wurde Kovalev wegen antisowjetischer Propaganda zu sieben Jahren Lagerhaft verurteilt. In den Jahren 1990-1993 war er Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses des Obersten Sowjet, 1994-1995 Menschenrechtsbeauftragter der Russländischen Föderation. Von diesem Amt trat er wegen der Kriegsführung Russlands im ersten Tschetschenienkrieg zurück, die er ebenso wie jene während des zweiten Waffengangs im Nordkaukasus scharf kritisierte. Wir dokumentieren den Brief in einer leicht gekürzten und redaktionell annotierten Fassung.
Roland Götz
Wirtschaftsmacht Russland
Das Öl, der Aufschwung und die Stabilität
Russlands Wirtschaft boomt seit einigen Jahren. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte 2008 größer als das Großbritanniens werden. 2016 könnte Russland Deutschland überholt haben und nach den USA, China, Japan und Indien die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt werden. Die schiere Größe des BIP ist jedoch kein ausreichender Indikator für die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft. Russlands Wachstum hängt stark von der Entwicklung des Erdölpreises ab. Der enorme Ressourcenexport führt zu einer Aufwertung des Rubels. Diese wirkt wachstumsdämpfend, weil sie die Exportmöglichkeiten der verarbeitenden Industrie beeinträchtigt. So machen sich Symptome der "holländischen Krankheit" und eines "Ressourcenfluchs" bemerkbar. Ein Stabilisierungsfonds soll Abhilfe schaffen. Ob dies gelingt, ist fraglich.
Mischa Gabowitsch
Wissenssoziologie statt Weihrauchschwenken
Selbstverschuldete Rezeptionshürden der Levada-Schule
Die Soziologen des Moskauer Levada-Zentrums arbeiten an einer Kodifizierung des geistigen Erbes ihres verstorbenen Lehrers. Aus der Isolation kommen Levada, Gudkov & Co. auf diese Weise aber kaum heraus. Denn die "Dialogstörung" ist nicht nur ein Problem internationaler Wissenschaftskommunikation. Sie hat auch mit der Debattierkultur in Russland zu tun. Der Totalitätsanspruch der funktionalistischen Theorie Levadas, der zweifelhafte Status zentraler Begriffe, die Beschränkung auf Russland als Gegenstand der Forschung sowie der explizit erhobene normative Anspruch schaffen zusätzliche Rezeptionshürden.
Iris Kempe
Die baltischen Staaten, Russland und die EU
Regionale Konflikte als europäische Aufgabe
Die Beziehungen zwischen Russland und seinen baltischen Nachbarn sind von Misstrauen geprägt. Grund sind unterschiedliche Interpretationen der Geschichte und die russischsprachigen Minderheiten. Seit dem Beitritt der Balten zur EU sind aus diesen bilateralen Fragen EU-Angelegenheiten geworden. Die baltischen Staaten stehen vor der Herausforderung, ihre exponierte Stellung konstruktiv für eine gemeinsame Russlandpolitik der EU zu nutzen.
Mirjam Sprau
Gold und Zwangsarbeit
Der Lagerkomplex Dal'stroj
Das Gebiet um den Fluss Kolyma ist untrennbar mit Zwangsarbeit verbunden. Im Stalinismus beutete hier der lager-industrielle Komplex Dal'stroj Menschen, Gold und andere Rohstoffen aus. Von 1931 bis 1957 waren 876 043 Menschen in Dal'stroj inhaftiert. Auf seinem Höhepunkt umfasste der Komplex ein Siebtel der Sowjetunion. Administrativ, ökonomisch und politisch genoss der Lagerkomplex einen Sonderstatus. Varlam Salamov und Evgenija Ginzburg legten literarisch Zeugnis über das Elend der Zwangsarbeit ab. Die Geschichte des Gulag ist untrennbar mit Dal'stroj verbunden.
Stefan Auer
Aussichten auf die Revolution
Politisches Denken in West und Ost im 20. Jahrhundert
Zahlreiche westliche Intellektuelle haben sich im 20. Jahrhundert zu Apologeten totalitärer Regime gemacht. Ostmitteleuropäische Philosophen und Denker wie Jan Patochka, Václav Havel und Czeslaw Milosz, die sowohl die nationalsozialistische als auch die kommunistische Schreckensherrschaft kannten, verfügten über eine besondere Immunität gegen solch verführtes Denken. Doch ihr Wissen veranlasste sie nicht, sich resigniert aus der Politik zurückziehen. Vielmehr suchten sie im europäischen philosophischen Erbe nach Anknüpfungspunkten für ein anderes Verständnis des Politischen. Mit ihrer Macht der Ohnmächtigen trugen sie wesentlich zum Sturz der kommunistischen Regime bei.
Laurynas Katkus
Beiderseits des Stromes
Literarische Repräsentationen der Memel
Flüsse sind in der Literatur ein vielschichtiges Motiv: Sie stehen für Natur und Zeit, sind kulturelle und politische Grenzen und schaffen Verbindungen. Als europäischer Fluss ist die Memel ein Topos der deutschen, litauischen, polnischen und belarussischen Literatur. In der deutschen Kultur wurde sie oft als Grenze zwischen west- und osteuropäischer Zivilisation wahrgenommen. Im Werk Johannes Bobrowskis spielt der Fluss als ambivalentes verbindendes und trennendes Element, aber auch als existentieller Erinnerungsort eine zentrale Rolle; für die litauische Literatur symbolisiert die Memel nationale Identität und Geschichte.