Hubert Markl
Hubert Markl/Merkur
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Merkur
Merkur 4/2007
2007-04-10
Menschenleben heißt Sterbenlernen
Für jedes Lebewesen ist nichts so sicher wie der Tod -- buchstäblich todsicher. Aber der Mensch ist das einzige Lebewesen, von dem wir sicher sind, daß er es weiß, so ungewiß auch der Zeitpunkt des Dahinscheidens sein mag: "mors certa, hora incerta". Unter dieser geradezu definitorischen Bedingung steht alles Leben. Man muß nicht Benjamin Franklin sein, um einzusehen, daß zumindest für uns Menschen Steuern und der Tod unausweichlich sind. Wir wissen freilich auch, daß wir die Gabe besitzen, an ein individuelles Leben nach dem Tode zu glauben (wie an eines vor der Geburt, aber dies beschäftigt uns meist weniger, es sei denn, wir glaubten an Wiedergeburt) -- eine Glaubenshoffnung, die vielen die Gewißheit des Todes erträglicher machen kann, sie aber nicht beseitigt. Diese Hoffnung mag den Ausgleich irdischer Drangsal herbeisehnen und zugleich den Zweifel daran nähren, ob sie nicht doch eine Illusion ist. Die Last der Erkenntnis unserer irdischen Endlichkeit kann sie aber nicht von uns nehmen. Allerdings sollten sich manche bewußt sein: Wer ewiges Leben verheißt, kann auch Selbstmordattentäter ermutigen!
Seit der Mensch ein Gehirn entwickelt hat, das sich einen Begriff von Leben machen kann, muß er auch das Unfaßliche denken: dessen Negation. Nicht erst, wenn es unmittelbar bevorsteht, denn es kann sich immer ereignen. Unsterblichkeit ist wie Unendlichkeit: eine der Kantschen Aporien eines Geistes, der zwar im Diesseits denken kann, was nur im Jenseits möglich wäre, der dies aber nicht in die diesseitige Wirklichkeit hereinholen kann. Alle Religionen versprechen dies zwar auf die eine oder andere Weise und versuchen -- oftmals mit Drohungen oder mit der Aussicht auf Belohnungen aller möglichen Art -- zu überzeugen, und scheitern doch am Zweifel der Menschen. Für die Biologie, als die Wissenschaft vom Lebendigen, ist der Tod die Grenze ihres Forschens, jenseits deren sie nichts zu suchen hat. Dort beginnt das Reich des Vermutens oder Glaubens, eben der Phantasie.
Die derzeitige Debatte über unsere demographische Wirklichkeit dringt unaufhaltsam aus Forschungsinstituten und Hörsälen in die Medien und erobert die Köpfe derer, die doch längst zugleich Verursacher und Opfer dieser Entwicklung sind. Viele meinen, sich nur um Altersversorgung, Rentensicherheit und Pflegenotstand ängstigen zu müssen. Andere flüchten vor der Wirklichkeit in Nachwuchssehnsüchte oder Schönrederei des Alterns. Aber wer die Menschheit auf längere Sicht überleben lassen will, kann nicht deren weiteres unbegrenztes Wachstum erträumen; und er weiß auch, daß der demographische Übergang in den bevorstehenden Generationen eine Sterbewelle an Alten zur Folge haben wird, die der -- zumeist infektionskrankheitsbedingten -- Sterbewelle der Jüngsten in früheren Jahrhunderten nicht nachsteht und dennoch nur scheinbar gleicht.
Denn wo diese grausam, aber schnell für die unvermeidliche Populationsbegrenzung durch den frühen Tod von Kindern sorgte, die kaum ins Bewußtsein einer Gemeinschaft getreten waren, bringt es der medizinische Fortschritt im Verein mit humanitärer Gesinnung mit sich, daß das Sterben der vertrauten und mitten im Leben der Gesellschaft stehenden Alten viel grausamer hinausgezögert und bis zur Unerträglichkeit verlängert wird. Verbunden wird dies mit dem Todesbekämpfungswahn eines gewichtigen ökonomischen, aber karitativ einherkommenden Sektors, der sich auch an notwendiger Pflege, Betreuung und Behandlung geschickt zu bereichern weiß, während er dabei immer nur von Gottesfurcht und Menschenliebe redet und manchmal geradezu von erhabener Moral trieft (aber oft auch tatsächlich von ihr überzeugt ist).
Es sind drei Notwendigkeiten, die es nötig machen, diese demographische Wirklichkeit in Gegenwart und Zukunft um der Menschen willen nüchtern ins Auge zu fassen: erstens die Notwendigkeit des Sterbenlernens, einer neuen Art der Ars moriendi, sehr verschieden von jener, von der aus dem Mittelalter berichtet wird; zweitens die Notwendigkeit, die Würde der Individuen auch am Lebensende gegen ihre Enteignung durch Agenten der Gesellschaft zu schützen: Sterbebegleitung als Sicherung des Anspruchs darauf, in Frieden gehen gelassen zu werden, wenn der Betreffende die Zeit für gekommen hält; drittens die Notwendigkeit des Gleichmuts, der den Tod als eine Selbstverständlichkeit jedes biologischen Lebens begreift und dadurch die Kostbarkeit des Lebens erst wirklich erschließen kann. -- Drei Sentenzen des französischen Moralisten Nicolas Chamfort (1741-1794) mögen diese Überlegungen begleiten.
Sterbenlernen
"Warum nur die Wendung: 'Sterben lernen'?
Ich finde, man trifft es schon sehr gut beim ersten Mal."
Sterben kann doch jeder, was gibt es da zu lernen? Sterben kann man gar nicht lernen, denn wer es gelernt hat, ist tot. Sterben und Tod genauso wie Geburt: Das erschließt sich uns nur durch soziale Beobachtung, durch Mitteilung, durch Miterleben und Einfühlen in unsere Gemeinschaft. Darum ist der verborgene, verleugnete, in Krankenhäuser und andere Einrichtungen abgeschobene Tod in unseren ohnehin geschrumpften Familien ganz besonders verheerend für unser Bewußtsein, denn wir erfahren die Wirklichkeit des Todes von Mitmenschen ganz überwiegend nur durch Beschreibung in Geschichten und Fernsehfilmen, das heißt absichtsgerecht aufbereitet, geschönt und zensiert, eben nicht unmittelbar. Der erste und wichtigste Akt des Sterbenlernens ist jedoch die eigene Erfahrung der Todeswirklichkeit bei Menschen, wenn es uns denn schon verwehrt ist, aus eigenem Sterben zu lernen.
Unaufhörlich wird uns das unbarmherzige Hinschlachten von Hekatomben von Menschen in Phantasie oder Wirklichkeit aus allen Teilen der Welt durch peinlich-peinigende Aufdringlichkeit aller Medien aufgezwungen, bis wir völlig abgebrüht den Tod selbst negieren, und selten wird es für viele von uns, wirkliches Sterben und Abschiednehmen zu erfahren, genauer gesagt: zu erleiden, also aus tiefstem Herzen zu empfinden. Niemals sonst wäre jedoch das Lernen aus gemeinschaftlicher Erfahrung, zwar nicht als ein Klügerwerden für ein anderes Mal -- wie Jacob Burckhardt es einst über Geschichte sagte --, aber als Weiserwerden für immer vonnöten. Während uns die globale Sofortinformation aller Morde, Unglücksfälle, Katastrophen und schlächterischen Kriege buchstäblich bis zum Erbrechen (oder zum Wegsehen und Weghören) mit Leichen überschüttet, sind wir die aus Eigenerfahrung dem Tode entwöhnteste, entfremdetste Generation, die je lebte -- und deshalb auch entsprechend unvorbereitet sterben wird.
Wenn allerdings mittelalterlich-christliche Belehrung über die letzten Stunden des Menschen wirken soll, die wie eine "ars bene moriendi" diese erleichtern kann, Vgl. Arthur Imhofs Essay Ars moriendi im Mannheimer Forum 98/99, 1999. so ist dies auf Furcht und Hoffnung eines Heilsgeschehens gegründet, das gar nicht von christlichem Glaubensgut getrennt gedacht werden kann. Wie sollte eine solche Botschaft den aufgeklärten, säkularisierten, glaubensfernen Menschen, wie sollte sie gar die vielfachen Arten von Nichtchristen erreichen, wie ihnen verständlich sein?
Eine neue Art der Kunst, Sterben und Tod nicht als die absolute, mit allen Mitteln hinauszuzögernde Katastrophe zu verstehen und sich auf den Ernstfall aller Fälle endgültiger Trennung vorzubereiten, kann sich weder auf Mythen noch Wahrsagungen verlassen, sie muß ihren Grund in der letztlich nur stoisch zu begreifenden Wirklichkeit des Lebens haben. Alles Auflehnen, Wegleugnen, Schönreden des Unausweichlichen verleiht ihm erst die schaudererregende Wucht des gänzlich Unhinnehmbaren, Verzweiflungsvollen, Vernichtenden. Erlernen des Lebens, Erziehung zum Leben kann daher immer nur zugleich bedeuten, das sichere Ende mitzudenken, zu bejahen und ins Leben einzubeziehen.
Die unausweichliche Trauer, die jeden befällt, den Sterben und Tod von geliebten Mitmenschen bedrücken und dem das eigene Abschiednehmen bevorsteht, ist Teil jedes ganz gelebten Lebens, nicht aber die Ableugnung oder gar Aufforderung zur Abschaffung der Todeswirklichkeit, in der wir existieren. Nicht-sterben-Wollen und Nicht-sterben-lassen-Wollen sind nur das Verschließen beider Augen vor dem Unabwendbaren und berauben uns der Fähigkeit, ihm mit Fassung zu begegnen. Selbst das groteske Einbalsamieren von Leichen zu fröhlich dreinblickenden, lebensfrisch erscheinenden Puppenfiguren unserer abstrusen Todesverleugnungssucht ist nur ein letzter, vergeblicher, lächerlicher und jedes Trostes ermangelnder Versuch, dem Toten über sein Sterben hinaus den Tod zu verweigern, statt ihn demütig hinzunehmen.
Sterbenlernen ist nichts, was sich auf irgendwann einmal verschieben läßt -- dann, wenn einen sonst nichts mehr ans Leben fesselt, wenn man alt und hinfällig ist. Der Tod ist nicht das, was sich wie eine Katastrophe ereignet, wenn alle Hilfe versagt oder zu spät kommt. Er ist ein ständiger Begleiter des lebendigen Menschen, ein Leben lang. Denn so, wie er in unseren Gedanken stets da ist -- man ist fast versucht zu sagen: wie er in uns und mit uns lebt von Anbeginn an --, so kann unser lebendiger, selbst- und zukunftsbewußter Geist gar nicht anders, als ihm immer erneut zu begegnen, um ihn vorauszudenken, wenn er nicht, ins Unbewußte verdrängt, seine quälende Verunsicherungswirkung entfalten soll. Todesbewußtsein und Vorbereitung auf die Sterbenswahrheit heißt, dem Tode furchtlos ins Auge zu schauen, auch um die Begegnung mit ihm zu meiden, solange einem dies möglich, vernünftig und tunlich erscheint. Das Gegenteil von Todessehnsucht und makabrer Todesvergötzung ist die nüchterne Einschätzung der Todeswahrscheinlichkeit bis zur eintretenden Wirklichkeit, die sich dann eben wirklich nicht vermeiden läßt.
Todeswahrhaftigkeit ist keine Sehnsucht nach dem Ende, sondern Klugheit im Umgang mit ihm. Sterbenlernen nimmt nichts von der Sterbenslast und Todesfurcht, schon gar nicht verhilft sie zu Sterbenslust und Todesbejahung. Sterbenlernen heißt zuallererst, bewußt leben zu lernen und des Lebens Wert hochzuschätzen. Sterbenlernen faßt nicht nur den Tag ins Auge, als könnte er ewig währen; es kennt das Faktum der Nacht und anerkennt seine Unausweichlichkeit: Deshalb lehrt es uns, den Tag bewußter mit Leben zu füllen, da es nicht nur den Aufstieg des Lebensbogens der Jugendlichkeit anstarrt, als könne der ewig dauern, sondern auch den Abstieg zu Alter und Ende, der ein erfülltes Leben gestattet, auch in der Ungewißheit darüber, wann es zu Ende sein wird. Wenn jedoch jemand, diesen Bogen aus freier Entscheidung zu Ende denkend, selbst den Augenblick bestimmen will, an dem dieser Weg vollendet ist, so verdient er Respekt und Mitgefühl, nicht Ablehnung, Herabsetzung, Entwürdigung oder gar Entmündigung.
In Würde gehen lassen: wider die Enteignung des Individuums
"Zu jemandem, dessen Ende nahe war, kam ein Beichtvater
und sagte: 'Ich ermahne Sie zu sterben'. 'Und ich', antwortete
der andere, 'ermahne Sie, mich sterben zu lassen.'"
Die demographische Welle der sterbenselenden, todesnahen Alten und der Fortschritt von Wissenschaft und Lebensführung, der ihr Leben unaufhaltsam zu verlängern scheint -- alle paar Jahre wird ein weiteres Überlebensjahr hinzugefügt, ans Ende darangehängt --, wird die Frage, unter welchen Bedingungen man sie buchstäblich "ableben" läßt, in den nächsten Jahrzehnten ständig drängender machen. Viele werden sich mitleidens- oder moralgeschwellt dazu zu äußern und tatkräftig darauf Einfluß zu nehmen wissen: ob "ex cathedra" oder "de lege ferente".
Als Biologe bin ich naturgemäß vom biomedizinischen Fortschritt überzeugt: Warum verlangt wohl alle Welt sehnsüchtig nach einem Impfstoff gegen Malaria oder HIV -- etwa aus Zweifel an den Errungenschaften von Schulmedizin und Forschung? Ist da die sonst so lautstarke Erwartung auf alternative Mittel der Medizin nicht schnell am Ende? Vertreibt man, bis Abhilfe kommt, nicht doch lieber die Mücken oder empfiehlt Kondome -- sehr konventionelle schulmedizinische Methoden, so möchte man meinen! Die Millionen, denen Pocken oder Kinderlähmung, Lungenentzündung oder Schwindsucht erspart geblieben sind, von übergewichtigen, bewegungsträgen Diabetikern oder bypasserlösten Arteriosklerotikern gar nicht zu reden: Sie alle sprechen eine sehr deutlich schulmedizinische Sprache, die nur alternativer Verstand leugnen kann. Wer wirklich schwer erkrankt, dem geht es zumeist mit seinem Vertrauen zu alternativen Methoden der Medizin wie manchen Christian Scientists mit Blinddarmentzündung: Wem der Ofen ausgeht, der verlangt selten zuerst nach alternativer Energie!
Aber wie schon Johann Nestroy klarsichtig bemerkte, hat der Fortschritt überhaupt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist -- aus der Nähe betrachtet, ist er deutlich kleiner. Man muß nämlich klar unterscheiden zwischen der unbestreitbaren Minderung des Sterberisikos vor allem unzähliger jungen Menschen, die durch Impfungen oder Antibiotika gerettet werden können (wobei es eben gar keine Rolle spielt, daß wir immer noch kein Allheilmittel gegen alle Gefährdungen besitzen, wie es nur besonders uneinsichtige Leute ständig einfordern können); und dem zwar auch lebensverlängernden Fortschritt in den medizinischen Bemühungen gegen chronisch gewordene Spätleiden von Alterskrebs bis Neurodegeneration, der ganz andere Folgen für die Menschen hat. Zumal wir diese Spätleiden kaum kennen würden, wenn nicht der medizinische Fortschritt zuerst bewirkt hätte, daß wir solange leben dürfen, bis sie uns endlich doch noch einholen. Es gehört nämlich schon eine erstaunlich therapiesüchtige Dickfelligkeit dazu -- oftmals zugleich von Patienten und ihren Ärzten --, darin immer sofort einen Fortschritt zu erkennen, daß sterbenskrank dahinsiechende Hochbetagte ihre Todeserwartung eben noch ein paar Monate oder gar Jahre länger erdulden müssen.
Zwei Aspekte sind es, die dabei im eigenen Überlegen wie in der öffentlichen Diskussion besondere Beachtung verdienen. Der eine dreht sich -- zumal nach den erschreckenden Erfahrungen deutscher Geschichte und den verstörenden Meldungen aus manchen anderen Ländern -- um den Komplex von Sterbehilfe beziehungsweise Euthanasie, von behutsam palliativer Sterbebegleitung bis zu passiv oder gar aktiv ausgeführter, aufgedrängter oder gar verordneter Todesbeschleunigung. Die Fragen, die sich hier stellen, sind zwar sicherlich nicht durch ernsten oder gar scheinheiligen Verweis auf die Exzesse des Nationalsozialismus und auch nicht durch schweigende Hinnahme vatikanischer Weisungen zu beantworten, jedenfalls nicht für jene, die ohnehin nicht daran glauben, daß von dort nichts als die lautere Weisheit kommt. Dies soll uns aber deshalb nicht weiter beschäftigen, als es darüber vielfältige und tiefgründige Erörterungen gibt, denen hier schwerlich etwas an Argumenten hinzugefügt werden könnte. Vgl. Walter Jens / Hans Küng, Menschenwürdig Sterben. München: Piper 1995; Hanfried Helmchen u. a., Ethik in der Altersmedizin. Stuttgart: Kohlhammer 2006; Oliver Tolmein, Keiner stirbt für sich allein. München: Bertelsmann 2006. Philosophische Extrempositionen vertreten Robert Spaemann / Thomas Fuchs, Töten oder sterben lassen? (Freiburg: Herder 1997) und Peter Singer, Leben und Tod. Erlangen: Harald Fischer Verlag 1998.
Es ist ein anderer Aspekt, der sich hier vor allem aufdrängt. Welchen Argumenten man immer folgen mag, eines sollte doch zunächst unbestritten sein: die unabdingbare Forderung nach Freiwilligkeit und eigener, wohlbedachter Entscheidung derer, um deren Leben es hier geht. Gewiß, nicht jeder wird zum Zeitpunkt, da die Entscheidungen über duldende Schicksalsergebenheit, Bemühung um Lebensverlängerung um jeden Preis oder passive oder gar aktive Lebensbeendigung zu treffen sind, noch in der Lage sein, solche Entscheidungen mit freiem Willen und bei klarem Bewußtsein selbst zu treffen. Dies gilt nicht anders bei einem schwersterkrankten oder hirngeschädigten Kind. Hier muß die Gemeinschaft alles tun, um Leiden zu lindern oder ganz zu verhindern, aber zugleich sehr entschieden mit allen Mitteln davor zurückschrecken zu töten, aus wirklichem oder vorgeblichem Mitleid oder gar um lästigen Aufwand und Kosten zu ersparen. Zumindest bedürfte es sehr großer Einigkeit, wenn die Gemeinschaft dies anders erwägen oder gar zulassen wollte.
Ganz anders steht es freilich dann, wenn erwachsene mündige Bürger lange vor einem solchen Entscheidungszeitpunkt nach reiflichen Überlegungen und gegebenenfalls nach gründlicher medizinischer und juristischer Beratung in frei getroffenem Beschluß durch Patientenverfügung bestimmt haben, wie mit ihnen im kritischen Ernstfall zu verfahren sei, wenn sie denn selbst nicht mehr entscheidungsfähig sein sollten.
Hier droht nun von einer ganzen Heerschar wohlwollender oder auch höchst interessierter Agenten -- denn kaum ein anderer Wirtschaftszweig hat künftig so beständige Zuwachserwartungen wie die Betreuungs-, Behandlungs- und sanfte bis grobe Bevormundungssparte des Sterbebegleitungs- und -hinauszögerungsgewerbes -- der massive Versuch, den Menschen gerade dann, wenn er ganz individuell von den Folgen jedes Handelns und Unterlassens betroffen ist, seiner ureigensten Persönlichkeitsrechte zu berauben und ihn de facto zu entmündigen. Über die hilf- und wehrlose Kreatur beugen sich nämlich mit zelotischem Eifer Verwandte und Ärzte, Juristen und Psychologen, Theologen und Abgeordnete, von den echoverstärkenden Journalisten ganz zu schweigen, und alle reden lautstark auf den siechen Menschen ein, nein: über ihn hinweg, während er nichts so sehr nötig hätte wie die Stille des Abschiednehmens.
Fast erinnert es ja an die rabulistische Argumentationstechnik mancher Psychotherapien, die gerade im Aufbegehren des Widerstrebens gegen psychiatrische Fremdbestimmung das hervorstechende Kennzeichen dringender psychiatrischer Therapiebedürftigkeit sehen wollen. Gegen sie ist daher auch jeder Widerstand zwecklos, wenn mit klerikaler Verstärkung Ärzte und Rechtsgelehrte unisono erklären, eine in voller Geschäftsfähigkeit von einem mündigen Individuum getroffene Festlegung -- zum Beispiel auf Unterlassung aller Wiederbelebungs- und Todesverzögerungsmaßnahmen im Falle eigener bewußtseinszerstörender Hilflosigkeit -- sei gerade deshalb in Zweifel zu ziehen, wenn nicht gar unbeachtlich, weil der betroffene Mensch gerade dann nicht entscheidungsfähig ist, wenn er doch der in weiser Voraussicht vorher getroffenen Verfügung dringend bedürfte, weil sie nämlich genau für diesen Fall gedacht war. Der Sterbenskranke könne nämlich gar nicht vorher gewußt haben, wie es sich sterbenskrank anfühle -- so solche Menschenfreunde und Lebenserhalter!
Wobei es die besorgten Entmündiger gar nicht stört, daß sie schließlich über einen hilflos Leidenden munter in einer Sache bestimmen wollen, die sie selbst weder erdulden müssen, noch selbst schon einmal erlitten haben können und daher doch nach eigenem Urteil auch gar nicht fähig sein können, an seiner Stelle besser zu wissen, was er will, als er selbst!
Einem Menschen das Urteilsvermögen genau dann abzusprechen und ihn seiner Rechtsfähigkeit zu berauben, wenn eintritt, wofür er bei klarem Verstande in weiser Voraussicht über sich im voraus verfügt hat, kommt einer Leugnung der fundamentalen Tatsache gleich, daß jeder Mensch sein ganzes Leben lang, von Geburt bis zum Tode, ein und dasselbe unteilbare "Individuum" bleibt, das nicht aufgeteilt werden kann in ein vernünftiges Wesen, das über seine eigene Zukunft in extremis aber nicht wirklich geschäftsfähig urteilen können soll, und eine zweite dem Tode nahe Kreatur, die sozusagen in den Besitz des öffentlichen Gemeinwesens übergegangen und seinem Zugriff ausgeliefert ist, das mit ihm nach Belieben, letztendlich oft also nach parteilichen Mehrheitsverhältnissen verfahren kann. Damit geriete er nämlich genau dann unter das Joch der Leibeigenschaft in Abhängigkeit von ideologisierten Gutmenschen, wenn er es am dringendsten geboten empfindet, ihm und ihnen nicht ausgeliefert zu sein.
Die Verfügungsgewalt einer Gesinnungsgemeinschaft oder, wenn ordentlich geregelt, eines Rechtsstaates -- wie sie sich schon in der allgemeinen Wehrpflicht statt einer Freiwilligenarmee abzeichnet -- würde hier zum Lebenszwang durch Staatsgewalt gemacht, die dem Einzelnen genau dann aufgenötigt wird, wenn er außerstande ist, sich dagegen zu wehren. Der mächtige Staat, der sich doch in der Ausübung seiner Gewalt gegenüber Wirtschaftsverbrechern, Mördern, Totschlägern, Vergewaltigern und Terroristen so menschenwürdeempfindsam zartfühlend zeigt, erwiese sich damit genau gegenüber den Allerschwächsten seiner Mitglieder von besonders brutaler Rücksichtslosigkeit -- aus den hehrsten Gründen, versteht sich!
Daß sich solches patriarchalisch fremdbestimmende Verfügen -- natürlich immer kleidsam eingehüllt in Floskeln besorgter Fürsorglichkeit -- schon darin erkennbar macht, wenn die Agenten der Sozialpflichtigkeit aller Bürger deren freien Entschluß zur Lebensbeendigung als (Selbst)Mord diffamieren, ist wenig überraschend. Erlaubt sich der Mensch doch angeblich damit, Gottes Allmacht in den Arm zu fallen, als bedürfe gerade der Allmächtige des Beistandes solcher Amtsanmaßung. Gott allein könne nämlich das Leben nehmen, das er vorher geschenkt hat. Eine seltsame Auffassung von einem Geschenk fürwahr. Wofür ihn sicher auch Abermillionen Hingemetzelter des Holocaust, von Hiroshima, aus Pol Pots Kambodscha oder Ruanda, Armenier, Indianer oder die Opfer hochreligiös motivierter Selbstmordattentate des Irak inständig preisen, während sie in Stücke zerrissen, erschlagen, vergast oder verbrannt werden!
Solcher Glaube und alle Folgerungen daraus von Anfang bis zum eigenen Ende sei selbstverständlich denen, die von ihm überzeugt sind, nach wie vor unbenommen, solange sie ihn nur auf sich anwenden. Niemand sollte gegen seinen Willen zu einer vorzeitigen Verkürzung der ihm zugemessenen Lebensspanne -- freilich oft zugeteilt von medizinischem Können -- überredet, genötigt oder gar gezwungen werden. Es muß unter freien Bürgern nur ebenso unverkürzt darauf bestanden werden, all jenen, die diesen Glauben nicht teilen, die Freiheit des mündigen Individuums zu belassen, durch letztgültige Patientenverfügung oder, wenn wirklich gewollt, auch durch Selbsttötung über das eigene Ende zu bestimmen.
Es grenzt schon ans Groteske, wenn Grundgesetz und Staat den eigenen Willen von Bürgern in Vermächtnissen und Stiftungswillensbekundungen bis weit über den individuellen Tod hinaus schützten, die Eigenverfügung über Leib und Leben des Einzelnen selbst jedoch für minder beachtlich fänden -- eine andere Art, Eigentum über Leben zu beanspruchen, selbst wenn der Einzelne dies als lästiges Verhängnis und Übel empfinden sollte. Wer Selbsttötung aus freier Entscheidung wie eine Geisteskrankheit diffamiert, versucht dem Menschen Würde und Freiheit zu rauben, wenn diese sich gerade im Extremfall bewähren müssen.
Gelassenheit
"Ich kann mir selbst genug sein, aber notfalls
kann ich auch ohne mich auskommen."
Jeden mündigen Menschen nach eigenem besten Ermessen -- und sicherlich nach gemeinschaftlicher Erörterung seiner Gründe, denn wer könnte leichtfertig über das eigene Leben verfügen? -- über eigenes Leben oder Sterben entscheiden zu lassen, ist nicht nur das Fundament jedes aufgeklärten Verständnisses von Menschenrechten und Menschenwürde. Es ist auch Ergebnis einer philosophischen Haltung zur Hinfälligkeit des Leibes, die allein dem Geist Kraft und Wirkung verleiht. Beginnend mit Platons Dialogen in Phaidon und Kriton über Senecas stoische Sicht des Todes als Bestandteil jedes Lebens bis zu Michel de Montaignes Einsicht, daß "Philosophieren sterben lernen" heißt, dreht sich abendländisches Denken immer wieder um die Versöhnung mit dem absoluten Skandalon, dem letztendlich unabwendbaren Tod jedes Menschen.
So wie wir von Politikern und anderen führenden Persönlichkeiten (wenn auch manchmal vergeblich) erwarten, daß sie aus freiem Entschluß von ihren Ämtern zurücktreten, daß sie also loslassen können, was ohnehin nicht auf ewig zu halten ist, so muß in diesem Zusammenhang eigentlich für jedermann gelten: Gleichmut und Gelassenheit aus Liebe zum Leben, weil man weiß, daß man es doch einmal früher oder später wird loslassen müssen. Die tief berührenden K-Gedichte des krebskranken Robert Gernhardt sagen mit dem leichten Ton des traurigen Spötters, was uns alle angeht, früher oder später, und was wir zu Unrecht so schwer nehmen, daß wir es nach Leibeskräften leugnen und verdrängen. Wenn Philippe Ariès in den Studien zur Geschichte des Todes im Abendland vom "gezähmten Tod" des mittelalterlichen Menschen spricht, dann ist dies nicht "der verborgene Tod" unserer Zeit, dann ist das -- trotz kaum eines Drittels unserer Lebenserwartung -- ein bewußtes Verständnis des Todes als Teil jedes Lebens, ob christlich oder nicht.
Sigmund Freuds Motto "si vis vitam para mortem" trifft genau diese Aufforderung, Sterben und Tod allein deshalb zu versöhnen und mit Gelassenheit zu begegnen, weil erst auf dieser Grundlage ein gutes Leben gelingen kann. Deshalb bedeutet Lebenlernen immer auch gleichzeitig Sterbenlernen, wenn das gelungene Leben nicht an Illusionen scheitern soll. Sterben soll übrigens auch letztlich ganz leicht sein: Noch jeder hat es geschafft, so wenig erfolgreich er auch im Leben gewesen sein mag. An ihrem Ende herrscht große Gleichheit unter den Menschen, so sehr sie auch ein Leben lang nach Verschiedenheit gestrebt haben mochten. Die Verschiedenartigkeit muß in ihren Leistungen und der Erinnerung an sie fortleben, aber vor dem Tod sind alle Menschen gleich.