Burkhard Müller
Burkhard Müller/Merkur
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Merkur
Merkur 2/2007
2007-01-31
Das Konzept Gott -- warum wir es nicht brauchen
Vor etlichen Jahren habe ich das Buch Schlußstrich -- Kritik des Christentums verfaßt, das darauf beharrte, das Christentum sei nicht etwa in seiner historischen Praxis, sondern von Grund auf, als Idee, falsch. Und ich hatte es unternommen, dieses Falsche als Widerspruch aus ihm selbst hervorzutreiben. Von dem, was ich damals gesagt habe, will ich auch nichts zurücknehmen. Doch in zwei Punkten würde ich heute über das damals Gesagte hinausgehen.
Zum einen möchte ich nicht mehr den angriffslustigen Ton von damals anschlagen. Das Buch entstand Anfang der neunziger Jahre, als ich noch in Würzburg wohnte, einer Hochburg des katholischen Christentums, das, wohlhabend und machtbewußt, durchaus zum Zorn reizen konnte. Seit nunmehr dreizehn Jahren lebe ich im neuen Osten Deutschlands, wo rund 80 Prozent der Bevölkerung das Christentum nicht einmal mehr als Gerücht kennen, wo es als Ausnahme und nicht als herrschende Regel auftritt und wo man Gelegenheit hat, die Wahrheit des alten Sprichworts zu bedenken: Es kommt nichts Besseres nach.
Zum anderen scheint mir das institutionell und dogmatisch gebundene Christentum, wie es seinen Ausdruck im Wortlaut der Heiligen Schrift und, bündiger noch, im Credo findet, an Boden zu verlieren -- nicht nur vor einem tumben und potentiell gewalttätigen Fundamentalismus, wie er sich im Islam und in der religiösen Rechten Amerikas abzeichnet; sondern hierzulande besonders vor einem gedanklich oft recht verwaschenen, gefühlhaften Eklektizismus. Ich setze mich daher hier nicht mit einem theologischen Lehrgebäude auseinander. Statt dessen will ich dem religiösen Bedürfnis, auch und gerade in seiner diffusen Gestalt, auf den Zahn fühlen und an die Wurzel gehen, was bedeuten muß: das Konzept Gottes daraufhin befragen, ob es praktisch das leistet, was von ihm erwartet wird.
Denn an Gott glaubt man nicht, weil er einem bewiesen worden wäre. Alle Gottesbeweise, die von Philosophen und Theologen die Jahrtausende hindurch geführt worden sind, haben das Mißliche an sich, daß ein Beweis sich nur auf das Verhältnis bestehender Dinge beziehen kann, Gott aber als das, was allen Verhältnissen vorausgeht, außerhalb, diesseits des Beweisbaren steht. Die Beweise tragen denn auch sämtlich den Charakter des Nachträglichen, sie wirken wie dünnes Furnier auf einem sehr dicken Stück Holz. Der Glaube an Gott, wo er nicht nur dem unbefragten Herkommen entspringt, erfordert einen spontanen Akt seitens der Gläubigen, den diese selbst als einen solchen des Vertrauens, ihre Widersacher als einen der Willkür zu bezeichnen pflegen; der aber in jedem Fall einem Bedürfnis entspringt. Gott wird geglaubt, weil sich mit diesem Glauben die Erwartung verbindet, einen bestimmten Wunsch erfüllt, ein bestimmtes Problem gelöst zu bekommen. Was sind das für Bedürfnisse, und wie vermag Gott ihnen zu entsprechen?
Zunächst einmal müßten wir uns natürlich darüber verständigen, wer oder was dieser Gott überhaupt wäre -- nicht im Sinn einer Definition oder theologischen Zuspitzung, sondern nur damit wir nicht aneinander vorbeireden. Ich würde sagen: der personale Urgrund der Welt. Im Christentum wird das meist so ausgedrückt, daß Gott der Schöpfer sei. Darin sind seine zwei wichtigsten Bestimmungen enthalten: Erstens daß er von der Welt substantiell getrennt ist -- im Gegensatz zu pantheistischen Vorstellungen, die ihn wie ein feines Fluidum überall darin ausgegossen finden und die doch, wie Goethe zu Recht bemerkt hat, nichts anderes darstellen als eine höfliche Form des Atheismus. Zweitens daß die Welt trotz dieser Trennung vollständig auf ihn bezogen bleibt; damit scheiden die Götter des Epikur, die in den zwickelförmigen Zwischenräumen der kugelrunden Welten hausen und sich um nichts bekümmern, hier ebenso aus wie das Konzept des Theismus, das Gott als den Uhrmacher sieht, welcher die Welt einmal gebaut und aufgezogen hat und seither sich selbst überläßt. Fraglich wäre auch, inwiefern der "Deus absconditus", der verborgene Gott, der seine Beliebtheit über den Greueln der Moderne erworben hat und sich paradoxerweise gerade durch seine Abwesenheit beglaubigen soll, in dieser Betrachtung noch seinen Platz fände oder ob man ihn, ebenso wie den Gott der Theisten, am besten als eine Art Rentner des Kosmos beiseite schiebt. Bleiben wir bei dem, was das klassische Christentum ebenso wie der dogmatisch unbelastete Zeitgenosse meint, wenn sie "Gott" sagen.
In Gott also meint man etwas zu finden, was die augenscheinliche Welt schmerzlich vermissen läßt. Das Bedürfnis danach muß sehr alt sein, vielleicht so alt wie die Menschheit; denn Hinweise auf Religiosität finden sich noch in den Spuren der ältesten Kultur. Wer sich als Atheisten versteht, muß sich sagen lassen: Du bist wieder gerade so weit wie die Tiere, bevor in ihren Köpfen etwas zu dämmern begann -- hältst du das wirklich für einen Fortschritt und alle Menschheitsgeschichte bloß für einen verworrenen Umweg, der von der stumpfen reinen Physik nur ausgeht, um schließlich wieder zu ihr zurückzukehren? Es fällt nicht ganz leicht, diese Frage zu bejahen.
Und welche Qualitäten sind es, die Gott zugeschrieben werden, um den großen menschlichen Durst zu stillen? Ein notwendig etwas grober Katalog könnte lauten: Gott liefert die Erklärung für die Welt, wie sie ist, die sonst völlig unerklärlich bliebe; Gott ist der Garant des Guten, im Herzen des Menschen ebenso wie im Weltlauf insgesamt; Gott als der Ewige, nichts und niemand sonst, stellt sich der bestürzenden Nichtigkeit der Zeit entgegen.
Daß es etwas gibt und nicht vielmehr nichts, ist das große Wunder überhaupt. Alle weiteren Merkwürdigkeiten, bis hin zum Dasein der Lebewesen und des Menschen, treten dahinter als dessen bloße Modifikationen zurück. Die Welt schreit nach einer Begründung und Erklärung. Denkt man jedoch darüber nach, wird man feststellen, daß diese Sehnsucht auf eine ganz grundsätzliche Weise unstillbar bleiben muß; denn begründen, erklären heißt ja nichts anderes, als zwei Fakten miteinander in Beziehung zu setzen, das eine als Folge, das andere als dessen Voraussetzung. Aber wo stammt nun wiederum diese Voraussetzung her? Die Erde ruht auf dem Rücken eines Elefanten, sagen die Hindus; deswegen fällt sie nicht ins Bodenlose. Bloß wo steht der Elefant? Na, auf dem Panzer einer noch größeren Schildkröte. Und die Schildkröte? Sie fußt auf den Ringen einer ungeheuren zusammengerollten Schlange. Und die Schlange? Wenn man diesen Punkt erreicht habe, sagt der alte Spötter Bertrand Russell, bekomme man von dem frommen Hindu zu hören: Wechseln wir das Thema!
Russell lächelt darüber, weil die Hindus das Wesen der Schwerkraft nicht erkannt haben, die eben nicht schlechterdings nach unten wirkt, sondern ins Zentrum der anziehenden Masse und darum die freie Schwebe des Erdballs ermöglicht. Aber wo käme denn die Schwerkraft her, und wie übt sie ihre Wirkung aus? Dem ist die moderne Wissenschaft noch keineswegs nähergekommen; ja gerade die Schwerkraft zeigt sich gegenüber allen Reduktionsversuchen ausgesprochen widerständig. Sie tut, was sie immer tat: sich dem Betrachter als ein unbewegliches, unaufhellbares, primäres Faktum zu präsentieren. Bis hierhin geht es und nicht weiter. Oder, wie es im Faust heißt: "Der Philosoph, er weiß es nicht zu fassen, / Da liegt der Fels, man muß ihn liegen lassen", mit dem bitteren Nachsatz: "Zuschanden haben wir uns schon gedacht." Und selbst wenn es weiterginge -- was wäre gewonnen? Alle avancierten wissenschaftlichen Modelle gewähren nichts als eine Atempause, bevor es hinabgeht zur nächsten Schraubenwindung des unendlichen Regresses, zum nächst tieferen Riß in der ewigen Laufmasche, die nirgends stoppen kann. Alles was ist, will erklärt werden, und jede Erklärung dreht sich auf dem Absatz um und bietet sich als neues Rätsel dar.
Hier nun scheint es sich sehr zu empfehlen, daß man festsetzt: Es war Gott, der die Welt erschuf. Damit hebt die Heilige Schrift an. Welche Aufgabe fällt dabei Gott zu? Er soll den unendlichen Regreß der Fragen zum Stillstand bringen. Aber das vermag er letztlich nur dadurch, daß er als das begriffgewordene Frageverbot auftritt. Gott ist, was nicht weiter begründet werden muß und erklärt werden kann, was da ist. An Gott glauben, heißt das so haben wollen; Gott lieben, es als Erleichterung zu empfinden. Nimmt man die Sache aber einmal nicht psychologisch, sondern logisch und ökonomisch, so wird man bemerken, daß man dasselbe Ergebnis bedeutend preiswerter haben könnte: Man sieht Gott nicht, man muß eigens Mut zum Unsichtbaren fassen und ihn glauben. Das kostet Kraft. Bliebe man beim Sichtbaren und wäre man bereit, dessen starre Majestät anzuerkennen und auf sich beruhen zu lassen, so hätte man es ebenfalls mit der Unzugänglichkeit des Urrätsels zu tun, jedoch bei deutlich geringerem Aufwand an Ehrfurcht und Behauptungsenergie.
Wer an Gott glaubt, findet genau genommen nicht nur eine unerklärte Grundtatsache vor, sondern gleich deren drei: zunächst Gott selbst; dann den von ihm ausgehenden Schöpfungsimpuls (denn warum sollte der Erhabene sich zu dieser kleinteiligen Bastelei herablassen?); und schließlich das Mißverhältnis des vollkommenen Urhebers zu einem Produkt, das hängt und klemmt an allen Enden. Platon hat das Problem, daß ein vollkommener Gott die unvollkommene Welt geschaffen haben soll, gespürt und die Zwischeninstanz seines Demiurgen eingeführt, des Handwerkers, dem die Schaffung der Welt von Gott übertragen wurde -- das heißt die Frage hierarchisch, gewissermaßen auf dem Dienstweg, überspielen wollen. Funktionieren kann es nicht.
Um Gott vor solchen Verlegenheiten zu retten, hat man die unsrige die "beste aller möglichen Welten" genannt, was doch schon deshalb eine unhaltbare Behauptung darstellt, weil wir zum Vergleich keine Möglichkeit haben; schlüssiger hat Schopenhauer sie als die schlechteste aller möglichen bezeichnet; denn, so argumentiert er, wäre sie nur ein kleines bißchen schlechter, so wäre sie schon gar nicht mehr möglich. Betrachten wir sie in Ruhe, als solche, ohne jenen unfruchtbaren Drang, den Nietzsche als "Hinterweltlertum" verspottet, nämlich den Wunsch, unbedingt herauszufinden, was denn hinter der Welt steckt, als wäre sie eine flache Kulisse. Dann können wir uns mit ihrem Dasein, so wie sie ist, zufriedengeben. Das Lateinbuch, mit dem ich unterrichte, behauptet: Wer emporblickt zu den Sternen, leugnet nicht, daß es Gott gibt. Aber warum sollten dem Betrachter nicht die Sterne genügen? Ihre Sphären sind über jede Vorstellung hinaus gigantisch, sie überdauern uns, und sie schweigen. Darin gleichen sie dem, was man sich gemeinhin unter Gott vorstellt, vollständig. Sie machen ihn, als bloße Doublette ihrer Majestät, entbehrlich. Erweisen wir uns ihres großen Schweigens als würdig, indem wir ihnen, so gut wir können, mit unserem kleinen Schweigen antworten. Rätselhaft sind sie; aber ein kompaktes Rätsel, ein einziges. Mit noch weniger dürfen wir nicht rechnen.
Übrigens ertragen nicht nur die Gläubigen, sondern auch die Wissenschaftler dieses Schweigen nicht; sie wollen es unbedingt durch einen Urknall ersetzen. Vorher soll nichts gewesen sein, nicht Raum, nicht Zeit, dann entfaltet sich alles in einem expansiven Akt von ungeheurer Tragweite. Und wir sollen darüber hinaus nicht fragen dürfen, wo er herkam: Das vor allem hat die These vom Urknall mit dem alten Gott gemeinsam. Wie gut oder schlecht die Mathematik und die empirischen Daten sind, mit denen hier gearbeitet wird, kann ich nicht untersuchen; es genügt mir zu sehen, ein wie gieriges Bedürfnis der Urknall befriedigt, um überzeugt zu sein, es mit einem reinen theologischen Phantasma zu tun zu haben -- unbesonnener indessen als die eigentliche Theologie, da es nicht weiß, was es tut und daß es zu nichts führt, wenn man die Welt innerhalb der Welt herleiten will.
Gott erklärt nichts; er erklärt weniger als nichts, da seine Annahme größere Probleme mit sich bringt, als wenn man gar nichts annähme. Das Staunen war der Geburtsakt der Philosophie: Warum war diese samt allem, was sich später aus ihr ergab -- der Naturwissenschaft besonders --, so erpicht darauf, es um jeden Preis wiederum zum Verschwinden zu bringen, als wäre es in letzter Instanz ihre spiegelbildliche Pflicht, auch den Sterbeakt des Staunens anzubahnen? Ich schlage vor, das Staunen so stehen zu lassen, wie es in die Welt kam: Befriedigender wird doch kein anderer Affekt ausfallen, der die Erkenntnis begleitet.
Betrachten wir, zweitens, Gott als den Grund des Guten. Das heißt zunächst einmal, daß er der Garant der Ethik wäre. Er habe die Ethik durch den Erlaß entsprechender Gebote gestiftet, er wache über ihre Einhaltung, und er urteile am Ende der Zeiten oder des individuellen Lebens über jeden Einzelnen nach ihrer Maßgabe (wobei allerdings, da die Menschen notwendig hinter diesen rigorosen Forderungen zurückbleiben müssen, auch die göttliche Gnade noch ihre Rolle spielt). Inwieweit Ethik ein spezifisch menschlicher Besitz und eigens von Gott eigens für die Menschen eingesetzt wäre, soll hier nicht näher ausgeführt werden; mir scheint jedenfalls, daß sehr deutliche Ansätze zu ihr bereits unter den sozial lebenden Tieren zu finden sind.
Interesse verdient vor allem ein Punkt: daß die Möglichkeit sittlichen Verhaltens an die Aussicht aufs Gericht gebunden wäre und daß das Richtige keine Chance hätte, auch getan und geachtet zu werden, wenn es nicht von der höheren Instanz als richtig markiert und sanktioniert würde. Eine solche Sittlichkeit unterschiede sich in nichts vom Strafrecht. Die Guten, heißt es, tun das Gute aus Liebe zum Guten, die Bösen aus Angst vor Strafe. Nur die zweite Gruppe wird vom Strafgesetzbuch ins Auge gefaßt, beziehungsweise es werden von ihm alle Menschen prophylaktisch als Bösewichter betrachtet. Das ist soweit in Ordnung, den Guten widerfährt damit kein Unrecht. Auch sie hängen in ihrer Lebensführung zuletzt davon ab, daß man die Bösen an die Kandare nimmt, in der vernünftig-kühlen Form eines Wenn-dann-Konstrukts, das aber am Ernst des "Dann" keinen Zweifel läßt.
Nun stellen die Fälle, von denen das Strafrecht handelt, sicher den harten Kern dessen dar, was jede Ethik regeln muß. Mit der eigentlichen Ethik hat es dennoch nichts zu tun. Die ethisch wertvolle Handlung trägt ihren Lohn in sich selbst, sie hofft nicht auf Belohnung und fürchtet sich nicht vor Strafe. In diesem Sinn begründen die Heiligen Schriften keine Ethik; wer nur deswegen das Verlangte tut und das Verpönte unterläßt, weil er Himmel und Hölle im Auge hat, bleibt ein spekulativer Egoist, nichts weiter. Eine Ethik, die sich durchs Gericht beglaubigt, ist praktikabel, aber als Ethik wertlos. Mit nur geringer Überspitzung ließe sich sagen: Eine Affenmutter, die ein fremdes Affenkind adoptiert (was gar nicht so selten vorkommt), handelt, da sie in ihrem Hirn für das Konzept eines richtenden Gottes keinen Platz hat, ethisch wertvoller als ein Gläubiger, der das Gute Gottes wegen tut. Zugunsten des Gläubigen will ich allerdings annehmen, daß ihm das Gute von Natur aus jedenfalls nicht ferner liegt als einem Affen und daß er sich selbst mißversteht, wenn er glaubt, seine natürliche Güte auf Gott schieben zu müssen.
Hier angelangt, kommt man, fürchte ich, um das alte Thema der Theodizee nicht herum. Der Vollständigkeit halber muß ich auch davon sprechen, obwohl ich auf diesem gut durchgearbeiteten Feld nicht hoffen kann, Neues zu sagen. Albert Camus hat das Problem in den knappen Satz gefaßt: Entweder ist Gott gut, dann ist er nicht allmächtig; oder aber er ist allmächtig, dann ist er nicht gut. Ältere Religionen, das Judentum zum Beispiel, können sich mit einem ambivalenten Gott zufriedengeben, der in sich Raum auch für das Düstere und selbst Böse hat -- man denke an den Engel des Todes, den Jehovah über Ägypten schickt, um alle Erstgeburt zu würgen. Dies ist jedenfalls nicht der Gott, den das Christentum voraussetzt; sein Gott ist die Liebe. Damit stellt sich die Schwierigkeit ein, daß es auf der Welt so unübersehbar viel Haß gibt. Wie konnte Gott Auschwitz zulassen? Darauf wird es keine Antwort geben, bei der Gott als solcher, als Gott, ungeschoren davonkäme. Auf Gottes unerforschlichen Ratschluß sollte man sich da freilich nicht hinausreden; an diesem Ratschluß, wenn es denn der Gottes wäre, mag alles dunkel sein -- kristallklar tritt daran doch die Tatsache hervor, daß Gott, der seinen Geschöpfen solches hat widerfahren lassen, sie nicht geliebt haben kann.
Es wäre besser, für uns und auch für ihn, es gäbe ihn nicht, und es wäre alles bloß einfach passiert, wie wenn sich die Menschheit versehentlich den Finger in der Schublade der Geschichte eingeklemmt hätte. Denn wenn man derartige Geschehnisse in Zusammenhang mit einer vorausgesetzten Ordnung der Welt zu bringen sucht, vermehrt man den physischen Schmerz, der ist, was er ist und schließlich, so oder so, vergeht, um den unstillbaren metaphysischen; man bleibt fassungslos, rettungslos auf das Geschehene bezogen. Schwer bleibt die Last der Welt in jedem Fall -- aber sie würde doch um so vieles leichter, wenn man sie, statt nach einem Sinn in ihr zu suchen, einfach als einen Unfug auffassen dürfte.
Dabei ist der Haß, die Bosheit der Historie noch keineswegs das Schlimmste, worauf man in der mutmaßlichen Gotteswelt stößt. Diese Dinge nämlich kann man sich immer notfalls als Entartung deuten, als Überschuß und Ausnahme, als das traurige, aber nicht naturnotwendige Resultat einer metaphysischen Freiheit, in die Gott den Menschen entlassen hat -- wozu auch die Möglichkeit gehört, sich für das Verkehrte zu entscheiden. Ob ein Schöpfer, der sein Geschöpf so geschaffen hat, daß es sein Heil auch verscherzen kann, nicht in Wahrheit ein grausames Spiel mit ihm treibt, sei hier nicht näher untersucht, obwohl diese Frage die Mühe lohnen würde.
Statt dessen will ich den Blick auf die vor-ethische, vor-menschliche Einrichtung der Welt lenken. Alles animalische Leben erhält sich ausschließlich dadurch, daß es unausgesetzt anderes Leben vernichtet. Daß ein davon verschiedenes Modell auch funktionieren kann, beweisen die Pflanzen, die sich in einem buchstäblichen Sinn von lauter Licht und Luft ernähren. Warum hätte Gott uns und die rund eine Million anderen Tierspezies aber so erschaffen, daß wir, um überhaupt länger als ein paar Tage zu bestehen, unbedingt mindestens Pflanzen töten müssen, oft genug aber andere Tiere? Das bloße Wort "Nahrungskette" läßt erschauern, weil sich in ihm das Fressen und Gefressenwerden, von Glied zu Glied hinauf, als das System der Welt überhaupt ausspricht, vom Einzeller über den Wurm über den Singvogel bis hin zu dem, was wir uns schließlich als Braten munden lassen. Jedes Tier, sagt Nietzsche, ist das wandelnde Grab Tausender anderer.
Die belebte Welt ist ein höllisches Wunderwerk. Hyänen fangen schon an, sich die Steaks einzuverleiben, während ihre Beute noch vor ihnen davonrennt. Gottesanbeterinnen reißen ihrem männlichen Partner noch während der Kopulation den Kopf ab und beginnen ihn zu verspeisen. Viele Schlupfwespen lähmen eine Raupe durch gezielten Stich in einen Nervenknoten, legen ihr Ei ab und haben vorgesorgt: Ihre Larve wird den bewegungslosen, doch immer noch lebendigen und auf diese Weise stets frisch gehaltenen Körper nach und nach von innen auffressen -- und wenn sie Pech hat, wird sie dabei das Opfer einer anderen Schlupfwespenart, die ihrerseits ihr eigenes Ei in die Larve legt, so daß, wie bei der Puppe in der Puppe, drei Wesen ineinanderliegen: die ursprüngliche Raupe, gefolgt von Wespenlarve A, gefolgt von Wespenlarve B. Schließlich schlüpft B, zur fertigen Imago herangereift, aus der doppelten Opferhaut, läßt auch die eigene alte Haut zurück und beginnt den Zyklus von neuem. Hyperparasitismus heißt dieses erstaunliche Phänomen. Dies, wie gesagt, ist nicht sadistischer Exzeß, sondern lebensnotwendige Regel kompletter Arten und Gattungen. Ist das Gottes Welt?
Alte Paradiesesvorstellungen malen sich gern aus, wie in der erlösten Welt der Löwe friedlich neben dem Lamm liegen wird. Das mag ein Ideal der Lämmer sein; der Löwe aber muß dabei zugrunde gehen, da er, anders als das Lamm, Grünfutter, das es im Paradies ausschließlich gibt, nicht verträgt. Um Abstand davon zu nehmen, Lämmer zu fressen, müßte er aufhören, ein Löwe zu sein. Löwen sind aufs Grundsätzlichste nicht erlösungsfähig. Sind Menschen es? Unsere anatomische Ausstattung, unser Allesfressergebiß spricht dagegen, noch bevor wir beginnen, uns als ethisch-historische Wesen mit den dazugehörigen phantasievollen Spezialgreueln zu definieren.
So erweist sich das Konzept Gottes als untauglich, die beiden Bedürfnisse nach dem Grund der Welt und nach dem Grund des Guten zu stillen. In beiden Fällen sind wir besser dran, wenn wir auf Gott verzichten. Dies nun läßt sich vom dritten und stärksten Bedürfnis, aus dem die Idee Gottes geboren wurde, nicht sagen; hier Verzicht zu üben, ist nicht ohne großen Schmerz möglich. Gott, der ewige Gott, wird gedacht als das einzige Bollwerk gegen die absolute Nichtigkeit, den Nihilismus der Zeit. Daß ihm Ewigkeit zugeschrieben wird, hat ja nicht etwa zu bedeuten, er sei einfach ohne Anfang und Ende, unsterblich wie die antiken Götter und ungeburtlich noch obendrein; sondern daß er und alles, dem er diese Gnade gewährt, der Zeit überhaupt enthoben ist.
Des Schreckens der Zeit werden wir, auch ohne besondere Neigung zur Philosophie, doch unausweichlich an unserer Sterblichkeit inne. Alle Erfahrung lehrt, daß der Mensch eine Zeitlang lebt, dann einem plötzlichen Unglück oder einem in die Länge gezogenen Alterungsprozeß erliegt, sein abgelebter Körper hierauf verfällt und schließlich nichts mehr von ihm übrig ist. Wozu, um alles in der Welt, war es dann gut, daß er überhaupt gelebt hat? Wie es Goethes Mephisto auf so teuflisch klare Weise sagt:
Vorbei! ein dummes Wort.
Warum vorbei?
Vorbei und reines Nicht, vollkommnes Einerlei!
Was soll uns denn das ew¹ge Schaffen!
Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen!
"Da ist¹s vorbei!" Was ist daran zu lesen?
Es ist so gut, als wär¹ es nicht gewesen . . .
Mit dieser Erklärung bekennt er sich am deutlichsten als der Widersacher Gottes, der er ist. Gibt es keinen Gott, behält er recht. Das Nihilistische an der Zeit geht noch weit über die Erfahrungstatsache der ausnahmslosen Sterblichkeit aller Menschen hinaus; das Menschenleben ist, wie Jean Améry es ausgedrückt hat, das stets vergebliche Projekt, der Bau eines Hauses, das pünktlich zum Richtfest abgerissen wird.
Wenn wir hierüber erschrecken, wie wir es doch müssen, öffnet sich das Tor zu einer noch schlimmeren Erkenntnis. Der Raum hält ja für uns kein eigentliches Rätsel bereit, wenigstens keines, das über die Rätselhaftigkeit der Welt überhaupt hinausginge; er ist ausdehnungsgleich und kategorial grundsolidarisch mit der Materie, die in ihm west. Wozu aber verhielte sich die Zeit in vergleichbarer Weise? Zu -- nichts. Auch sie waltet natürlich über den Stoff; doch über alles, was in sie eintritt, verhängt sie den bösen Zauber der Auflösung. Die scheinbar festesten Gebilde, zum Beispiel unser identisches Ich, geraten in einen Zerstäuber und verwandeln sich in den ungewissen Nebel der Erinnerung und den noch ungewisseren dessen, was wir planen. Die Philosophie spricht von der Zeit als einer apriorischen Kategorie, die klassische Physik erblickt den gleichförmigen Zahlenstrahl am Werk (und was die moderne Physik daraus macht, danach fragen wir hier am besten gar nicht).
Das alles hat mit der Zeit, wie wir sie erleben, wenig zu tun. In bezug auf uns stellt sie sich vielmehr als eine Chimäre dar, als ein Ungeheuer, das sich aus den drei ganz verschiedenen Leibern der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft fügt. Die Vergangenheit ist nicht mehr da, sie steht scheinbar deutlich vor uns, aber in unberührbarer Ferne; die Zukunft noch nicht, sie liegt als ein wesenloser Dunst in der Luft; beide, auf ihre je spezifische Weise dem gestaltenden Zugriff entzogen, sind eben darum irreal. Die Gegenwart aber bildet nur ein infinitesimal kurzes Stück vom linearen Verlauf, kaum da, ist sie schon wieder vorüber, ein bloßer Wendepunkt der beiden anderen Nichtigkeiten; auch ihr läßt sich das Prädikat der Existenz eigentlich nicht zusprechen. Wir existieren nur in der Zeit -- und gerade durch sie existieren wir nicht. Am besten wäre es da vielleicht, wenn wir, wie die Tiere, einfach vergäßen, um wenigstens unsere Gegenwart zu verewigen. Aber auch das geht nicht. Man kann sich das Vergessen nicht vornehmen, denn gerade im Vorsatz nistet die Erinnerung.
Zeit rinnt dahin, sie fließt uns entgegen, passiert uns, fließt davon. Wo aber wären die vielen Tropfen dieses Rinnsals aufgehoben? Denn irgendwo müssen sie ja stecken! Die Zeit, die auch als vergangene noch wirklich wäre: Hier eben kommt Gott ins Spiel als die große Zisterne der Geschichte. Ihn so zu sehen, heißt ihn noch majestätischer zu entwerfen, als er es bloß als Schöpfer der Welt und Hort des Guten wäre; denn es wird ihm hier ein Vermögen zugeschrieben, von dem wir auch nicht den Hauch einer Anschauung haben können.
Am ehesten manifestiert sich dieser ewige Gott als der richtende; denn als solcher muß er unendliches Gedächtnis sein. Daß es ein Gericht gebe "am Ende der Zeiten", soll nicht nur der Idee des Guten Geltung verschaffen, sondern fast mehr noch die Gewißheit spenden, daß keine vergangene Stunde in Wahrheit der Vernichtung zum Opfer gefallen ist; sie bleibt aufgehoben in einem treuen Vorrat. Auferstehung der Toten, Jüngstes Gericht, ewiges Leben: Die sonst ganz sinnlose, durch Sterben und Geburt vermittelte Abfolge der Geschlechter bekommt so ihren Sinn, nämlich den, daß durch solchen Schichtdienst der Menschheit eine unvergleichlich größere Zahl von Seelen des Heils teilhaftig werden können, als wenn Adam und Eva samt ihren Kindern einfach niemals hätten sterben müssen. Die Geschichte, sonst nichts als ein wildes Heer aus jagenden Wolken, gewinnt so den Hintergrund eines Himmels, der ihre unbeständigen Figuren festhält wie eine Fotografie.
Es gibt ein Lügenmärchen des Barons Münchhausen, worin er erzählt: An einem bitterkalten Wintertag sei er mit der Postkutsche über Land gereist, der Postillion habe ins Horn gestoßen und seine Lieder gespielt -- aber kein Ton davon sei aus dem gefrorenen Horn zu hören gewesen. Oft und oft habe der Postillion es versucht und es endlich, niedergeschlagen, aufgegeben. Schließlich erreichen sie die nächste Poststation und treten ein, um sich aufzuwärmen; das Posthorn wird an einen Nagel nahe beim Ofen gehängt. Und wie es warm wird, beginnt es auf einmal alle jene Lieder zu spielen, die vorher, eingefroren, nicht hatten erklingen wollen; jetzt füllen sie, ganz von allein, die geheizte Stube. Nach dem Vorbild dieses Gleichnisses muß man es sich wohl denken, wenn der Frost der Zeiten auftaut zur Ewigkeit, süß im Unverlorenen und doch ganz anders.
Es wäre wunderbar, wenn das zuträfe, statt daß man halb schon zu Lebzeiten und ganz im Tod ins bodenlose Nichts fiele. Im Unterschied zu den beiden anderen Punkten muß man hier sagen, daß Gott, wenn es ihn gäbe, dieses letzte Bedürfnis tatsächlich befriedigen würde. Doch welches Unterpfand hätten wir dafür, daß es so ist? Denn man hüte sich, von der Stärke des eigenen Wunsches auf eine entsprechende Wahrheit zu schließen. Nicht das kleinste Zeichen haben wir bekommen, daß die so heiß begehrte Wiederbringung und Auferstehung auch wirklich stattfinden wird. Ein paar (aber insgesamt doch erstaunlich wenige) derartige Fälle werden im Neuen Testament gemeldet -- kaum ein unumstößlicher Beweis in den Augen eines Unvoreingenommenen. Und in den Text selbst hat der Argwohn Eingang gefunden, es wären am Ende die Jünger gewesen, die Jesu Leichnam gestohlen haben. Es wäre so schön. Es wäre auch für den Verdurstenden schön, wenn sein Durst die Oase herbeizwänge. Aber ob diese existiert oder nicht, ist leider vom Durst ganz unabhängig. Das Äußerste, was der Durst selbsttätig zu erzeugen vermag, ist die Fata Morgana. Als diese, als Wahngestalt, steht Gott am Horizont der Menschheitsgeschichte.
Im Gegensatz zu den Gläubigen aller Richtungen pflegen die Atheisten kaum organisiert und mit Nachdruck aufzutreten. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen haben sie sich, nach den heroischen Gründerjahren, in ihren Ansichten durch die Fortdauer der Religionen weniger bedroht und beunruhigt gefühlt als umgekehrt die Religionen durch den Atheismus -- sollte doch jeder nach seiner Fasson selig werden. Dann schien lange, in Europa wenigstens, die Zeit für den Atheismus zu arbeiten. Statt sich in nutzlosen Wortgefechten mit Uneinsichtigen zu verzetteln, konnte man ja auch einfach warten, bis deren Position von selbst zerbröselte und verfiel, gleichsam der historischen Schwerkraft folgend.
Diese goldenen Zeiten gehen aber jetzt vielleicht zu Ende; und es werden in Zukunft möglicherweise wieder, wie schon einmal, die Atheisten sein, die der Gesellschaft über ihren Standpunkt Rechenschaft zu geben haben; das heißt, wenn es dann noch Diskussionen geben wird und nicht an deren Stelle abgestufte Zwangsmaßnahmen treten. In jedem Fall kommt es mir inzwischen nicht mehr überflüssig vor, den Atheismus neu zu munitionieren, damit er angesichts einer anwachsenden neuen Religiosität nicht völlig nackt dasteht. Denn eines dürfte klar sein: Wenn es hart auf hart geht, werden die Atheisten diejenigen sein, die ohne höheren Beistand auszukommen haben. Sie haben keinen Gott, keine heiligen Urkunden, es wird ihnen nichts versprochen, wofür es sich lohnte, sich so blind ins Zeug zu legen, wie es ein wahrer Gläubiger vermag -- sie müssen sich schon ganz auf ihre Argumente verlassen. Wer glaubt, muß sich zwar mit mehr Energie ins Zeug legen als sein Widerpart, mit Einsatz der ganzen Person; aber es kommt ihm dabei sein Wille zugute. Wer etwas nicht glaubt, scheint es leichter zu haben, als wer es glaubt; dafür hat, wer etwas nicht will, es weit schwerer als die, die es wollen. Seid wachsam, Atheisten!