Michael Wildt
Michael Wildt/Mittelweg 36
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Mittelweg 36
Mittelweg 36 6/2006
2007-01-25
Biopolitik, ethnische Säuberungen und Volkssouveränität
Eine Skizze
Das 19.Jahrhundert war das Jahrhundert der Nationen - das 20. das des Volkes. Ohne Zweifel liegen beide Begriffe eng beieinander, oftmals scheinen ihre semantischen Felder sogar kongruent zu sein - und doch fallen sie nicht in eins. Mit der Gleichsetzung von Volk und Nation geraten die Differenzen aus dem Blick, die das 20.Jahrhundert in seiner spezifischen Gewalttätigkeit vom 19. unterscheidet.
Im folgenden skizziere ich zunächst einige charakteristische Elemente des Nationalstaats und kontrastiere sie mit der ethnischen Gewaltpolitik am Beispiel der Balkankriege 1912/13 (I), untersuche anschließend anhand von Michel Foucaults Überlegungen zur Bio-Politik die spezifischen Differenzen zwischen Nation und Volk (II), um dann die besondere historische Konstellation aufzuzeigen, auf die das Postulat eines Selbstbestimmungsrechts der Völker am Ende des Ersten Weltkrieges traf (III). Das Konzept der Volkssouveränität, das durch die Friedensverträge von Versailles 1919 zur Grundlage der europäischen Nachkriegsordnung wurde, war nicht notwendigerweise auf die Rechtsordnung einer parlamentarischen Demokratie festgelegt. Es führte stets auch eine Vorstellung von Volksherrschaft mit sich, die auf Identität und Homogenität zielte, wie sie sich im Begriff der "Volksgemeinschaft" verdichtete (IV). Die Gewaltpraktiken, die mit einer solchen biologisierten, rassistisch aufgeladenen Vorstellung von Volk verbunden sind, lassen sich folglich nur schwer mit dem Begriff des Genozids fassen, der in methodologisch problematischer Weise den Gegenstand der Untersuchung a priori schafft, den es doch erst zu analysieren gilt (V).Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag, den ich auf der Konferenz "Zivilisationsbruch und Gesellschaftskontinität. Die Ambivalenz des Menschenmöglichen", veranstaltet vom Deutschen Hygiene-Museum und dem Hamburger Institut für Sozialforschung in Dresden am 27./28. Oktober 2006, gehalten habe. Die schriftliche Fassung habe ich erweitert und überarbeitet; neu hinzugekommen ist der Abschnitt V.
I.
Die Französische Revolution hat mit Emphase das Volk zur Nation und diese zum alleinigen Souverän erklärt: "Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la Nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer d'autorité qui n'en émane expressément", hieß es in der Menschen- und Bürgerrechtserklärung vom 26.August 1789. Vier Jahre später, in der Verfassung vom 24. Juni 1793, trat das Volk an die Stelle der Nation: "La souveraineté réside dans la peuple; elle est une et indivisible, imprescriptible et inaliénable." Ergänzend lautete der Art.7: "Le peuple souverain es l'universalité des citoyens français."Zit. nach Art. "Volk, Nation, Nationalismus, Masse", in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd.7, Stuttgart 1992, S.323. Diese Ambivalenz des Volksbegriffs zwischen totalisierender Universalität und individueller Staatsbürgerschaft hatte Abbé Sieyes in seiner zu Beginn des Jahres 1789 veröffentlichten Revolutionsschrift "Was ist der dritte Stand?" zur prozessualen Seite hin aufzulösen versucht: "Was ist eine Nation? Eine Körperschaft von Gesellschaftern, die unter einem gemeinschaftlichen Gesetz leben und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung repräsentiert werden."Emmanuel Joseph Sieyes, "Was ist der dritte Stand?", in: ders., Politische Schriften 1788-1790, übersetzt und hrsg. von Eberhard Schmitt und Rolf Reichardt, Darmstadt 1975, S.124.
Gesetz und Repräsentation - eine solche Assoziation von Gesellschaftern ist weder an die Gemeinsamkeit von Abstammung, Sprache oder Kultur gebunden noch an einen Staat im Sinne des deutschen Staatsrechts, der klassisch mit Georg Jellinek durch die Trinität von Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt gekennzeichnet wurde.Klassisch zur Staatsnation: Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaats, München 1908; zur deutschen Staatsrechtslehre im 19. Jahrhundert siehe Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Band 1800-1914, München 1992. Anders als Rousseau, für den das Volk sich im allgemeinen Willen, volonté générale, konstitutiert, erscheint das Volk bei Sieyes ähnlich wie bei Kant als Assoziation freier und gleicher Bürger mit gemeinsamer Rechtsordnung. Der Gedanke der Repräsentation der Nation durch das Parlament hatte die englische Debatte bereits im 17. Jahrhundert geprägt und stellte eine liberale Grundüberzeugung im Europa des 19.Jahrhunderts dar. In den süddeutschen Staaten gab es seit Beginn des Jahrhunderts Verfassung und Parlamente, in Preußen und Österreich erst seit 1849. Im Sinne von Sieyes konnten sich Bayern, Württemberg, Sachsen daher durchaus als National-Staaten verstehen - und taten es auch, wie wir aus der neueren Nationenforschung wissen.Vgl. Siegfried Weichlein, Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa, Darmstadt 2006. Im Juli 1818 rief der Historiker und Staatsrechtler Carl von Rotteck zur Feier der neu verkündeten badischen Verfassung stolz aus: "Wir waren Baden-Badener, Durlacher, Breisgauer, Pfälzer, Nellenburger, Fürstenberger, wir waren Freiburger, Konstanzer, Mannheimer: ein Volk von Baden waren wir nicht. Fortan aber sind wir Ein Volk, haben einen Gesamtwillen und ein anerkanntes Gesamtinteresse, das heißt ein Gesamtleben und ein Gesamtrecht."Zit. nach Rudolf Liermann, Das deutsche Volk als Rechtsbegriff im Reichs-Staatsrecht der Gegenwart, Berlin, Bonn 1927, S.158.
Die Nation verband sich aber ebenso mit den alten dynastischen Regimes, die zu Nationalstaaten mutierten, ohne daß das Volk in ihnen durch dieselbe gesetzgebende Versammlung repräsentiert worden wäre. Vielmehr erhob der Monarch den Anspruch, die Nation zu verkörpern. Daß dynastische Repräsentation und Nation keineswegs übereinstimmen mußten, veranschaulicht treffend das Beispiel Deutschland, wo sich ein von Preußen dominierter Fürstenbund, der nur einen, kleindeutsch genannten, Teil der Nation umfaßte, 1871 zum deutschen Nationalstaat erklärte - und fortan als solcher galt.
Die Nation wurde staatlich gedacht: "Jede Nation ein Staat", so die Formulierung des liberalen Staatsrechtlers Johann Caspar Bluntschli."Jede Nation ist berufen und daher berechtigt, einen Staat zu bilden." Johann Caspar Bluntschli, Die nationale Staatenbildung und der moderne deutsche Staat (1881), zit. nach Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, 2., durchgesehene Aufl., München 1995, S. 225; vgl. dazu Dieter Langewiesche, "'Nation', 'Nationalismus', 'Nationalstaat' in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter -- Versuch einer Bilanz", in: ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S.14-34. Damit war das Ordnungsmodell des 19.Jahrhunderts benannt, obwohl kaum einer der Nationalstaaten eine tatsächlich einheitliche Nationalkultur aufweisen konnte. Sie mußten vielmehr, durchaus mit Zwang, geschaffen werden. Die jeweiligen Nationalisierungspolitiken, die vor allem der Durchsetzung einer Nationalsprache, eines einheitlichen Schulsystems und nicht zuletzt der Herausbildung einer Nationalgeschichtsschreibung dienten, zeugen von dem intensiven Bemühen, "Peasants into Frenchmen" (Eugen Weber) zu verwandeln, also davon, die Nation im Staat erst noch herzustellen.Zur Sprachpolitik siehe das instruktive Kapitel bei Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreiches Konzepts, Frankfurt am Main 1996, S.72-87 (London 1983); zu den Nationalgeschichtsschreibungen: Christoph Conrad/Sebastian Conrad (Hg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002; insgesamt hat Ulrich Bielefeld dieses Verhältnis von Nation -- Gesellschaft -- Staat eingehend untersucht (Ulrich Bielefeld, Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Frankreich und Deutschland, Hamburg 2003).
Das Problem der idealiter geforderten Übereinstimmung von Nation, Volk und Territorium wurde für die europäische Staatenwelt durch den Wiener Kongreß 1815 keineswegs gelöst. Im Gegenteil, gerade die Jellineksche Trinität von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt als paradigmatische Struktur des Nationalstaates konnte bestehende staatliche Ordnungen aufsprengen, was am Schicksal der drei Reiche des Zaren, der Habsburger und der Osmanen abzulesen ist. Weder die Nationalstaatsgründungen von Griechenland, Serbien, Bulgarien und Montenegro im Laufe des 19. Jahrhunderts, noch das Arrangement der Großmächte auf der Berliner Konferenz 1878 zur Klärung der damals virulenten "Orientalischen Frage" vermochten Nation, Volk und Territorium auf der Balkanhalbinsel zu harmonisieren. Vielmehr förderte die unübersehbare Schwäche des Osmanischen Reiches das Begehren der jungen Nationalstaaten, ihr Territorium auszuweiten. Mit starker Unterstützung Rußlands erklärten Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro im Oktober 1912 dem Osmanischen Sultanat den Krieg und eroberten innerhalb weniger Wochen die noch verbliebenen osmanischen Gebiete auf der Balkanhalbinsel, in erster Linie Albanien, Thrakien und Makedonien. Doch brach das Bündnis rasch auseinander, die eben noch verbündeten Staaten bekriegten sich nun untereinander.Vgl. Richard C. Hall, The Balkan Wars 1912-1913. Prelude to the First World War, London, New York 2000. Diese Balkankriege 1912/13 waren bereits durch all jene Gewaltphänomene gekennzeichnet, die wir heute als "ethnische Säuberungen" identifizieren. Jene Gewaltexzesse, die europäische Kolonisatoren in der kolonisierten Welt verübten, erreichten nun auch Europa selbst:Vgl. dazu Sven Lindqvist, Durch das Herz der Finsternis. Ein Afrika-Reisender auf den Spuren des europäischen Völkermords, Frankfurt am Main 1999. Unter diesem Blickwinkel hat Dan Diner die militärische Innovation des Maschinengewehrs dargestellt, das mit seiner Zerstörungskraft zuerst in den Kolonien und dann im Ersten Weltkrieg in Europa eingesetzt wurde (Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, Frankfurt am Main 2000, S. 43-47). Ganze Dörfer wurden umstellt und die Männer erschossen. Die übrige Bevölkerung, Frauen, Kinder, alte Menschen wurden in der örtlichen Kirche oder Moschee zusammengetrieben, die Gotteshäuser dann angezündet, so daß die schutzlosen Menschen bei lebendigem Leib verbrannten.Vgl. Katrin Boeckh, Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan, München 1996, S.166f. Eine unabhängige Kommission der Carnegie Endowment for International Peacesammelte nach den Kriegen etliche Berichte über Massaker, Vertreibungen und andere Gewalttaten.Carnegie Endowment for International Peace, Report of the International Commission to Inquire into the Causes and Conduct of the Balkan Wars, Bucks Great Britain 1914. Die neueroberten serbischen, griechischen und bulgarischen Gebiete wurden einer rigorosen Siedlungspolitik unterworfen, obwohl beziehungsweise gerade weil die eigene Nationalität oftmals nur eine Minderheit darstellte.In Makedonien zum Beispiel standen 1913 den 528 000 gezählten Griechen 104 000 Bulgaren, 465 000 Muslime und 98 000 Juden gegenüber (Boeckh, Balkankriege, S.227).
Der Krieg wie die Nationalisierungspolitiken führten zu Flucht und Vertreibung in großem Ausmaß. Allein über die Hafenstadt Saloniki flüchteten im Zeitraum vom November 1912 bis März 1914 mehr als 240 000 Menschen, nahezu alle muslimischen Glaubens, zumeist in die Türkei.Nach der statistischen Zählung des serbischen Generalkonsulats: 239 825 Menschen, nach amerikanischen Zählungen: 243807 Menschen (Boeckh, Balkankriege, S.258); siehe auch Mark Mazower, Salonica, City of Ghosts. Christians, Muslims and Jews, 1430-1950, New York 2006, S. 313-317. Folgt man den - von Stephen Ladas bestätigten - Angaben amerikanischer Militärs, die das Geschehen aufmerksam beobachtet hatten, dann waren zwischen 1912 und 1914 rund eine dreiviertel Million Menschen auf der Flucht. Sie alle wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.Boeckh, Balkankriege, S. 271f.; Stephen P. Ladas, The Exchange of Minorities. Bulgaria, Greece, Turkey, New York 1932. Es waren nicht zuletzt diese Morde und Vertreibungen von Muslimen aus Europa, die den "Jungtürken" als Legitimation dienten, um ihrerseits christliche Armenier und Griechen zu deportieren und zu ermorden.Vgl. Norman M. Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004, S.40f.
Der erste Staatsvertrag über einen sogenannten Bevölkerungstransfer wurde 1913 zwischen Bulgarien und der Türkei geschlossen, wobei bereits dieser Vertrag - ähnlich wie der von Lausanne zwischen Griechenland und der Türkei im Jahr 1923 - vornehmlich die Funktion hatte, die bereits vollzogenen Vertreibungen nachträglich zu legalisieren.Boeckh, Balkankriege, S.269. Schon in diesen diversen Vertragswerken, mit denen neue territoriale Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel kodifiziert werden sollten, erwies sich die Abgründigkeit des Unterfangens, ethnische Differenzen als Staatsgrenzen festzuschreiben. Wie entscheidet man, ob beispielsweise die Stadt Debar zu Albanien oder Serbien gehört? Die eine Seite bestand darauf, daß Debar überwiegend von albanischen Muslimen bewohnt werde, während die andere Seite anführte, die Stadt sei nie ein albanischer Mittelpunkt gewesen: zwar gäbe es zwei orthodoxe Episkopate, eine bulgarische und eine serbische Schule, aber keine albanische; der gesamte Handel liege in den Händen von Christen, und die umliegenden Dörfer würden überwiegend von Christen bewohnt.Ebenda, S.44.
Die Kriterien, nach denen die Nation als "gedachte Ordnung" (M. Rainer Lepsius) konstruiert wird, sind ebenso vielfältig wie strittig. Eric Hobsbawm hat darauf aufmerksam gemacht, daß ethnische Zugehörigkeit und der Sprachgebrauch gegen Ende des 19.Jahrhunderts zu zentralen Kriterien der Nationsbestimmung avancierten, wobei insbesondere diejenigen Gemeinschaftsverbände, die sich selbst zum Volk, zur Nation erklärten, ohne über einen eigenen Staat zu verfügen, das ethnische Argument in den Mittelpunkt stellten.Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt am Main 2005, S.122 (englische Originalausgabe London 1990). Dem Konzept des Volks als demos,für das Rechtsgenossenschaft und staatsbürgerliche Gleichheit kennzeichnend sind, steht die Vorstellung vom Volk als ethnosgegenüber, in dem imaginierte Abstammungsgemeinschaften, Geschichtsmythen, Phantasmen von gemeinschaftlichem Blut und Boden miteinander verknüpft werden.Nach wie vor grundlegend: Emerich Francis, Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie, Berlin 1965.
Bezogen auf Territorialität und Staat schaffen Entscheidungen über ethnische Zugehörigkeiten erst die Probleme, die sie zu lösen versprechen, weil jede ethnische Differenzierung ethnische Mehrheiten und Minderheiten herstellt, die unweigerlich Forderungen nach Homogenität des Territoriums auf den Plan rufen. Programmatisch hieß es am Eingang der vieldiskutierten Ausstellung "Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts", die vom August bis Oktober 2006 im Berliner Kronprinzenpalais zu sehen war: "Die Umsetzung der Idee eines ethnisch homogenen Nationalstaates ist eine der Hauptursachen für Vertreibungen ethnischer Gruppen und Minderheiten im 20. Jahrhundert. Rassismus und Antisemitismus waren neben dem Nationalismus weitere Antriebskräfte für Vertreibung und Vernichtung." Doch verschwimmt im Begriff der Ethnizität eine Differenz, die jenseits von Geschichte, Sprache, Kultur und Abstammungsmythen die Frage nach Leben und Tod neu stellt: diese Differenz wird der Begriff der Rasse zum Ausdruck bringen.
II.
Erstens: Die entscheidende Zäsur, die das Volk von der Nation trennt, setzt der Biologismus, sobald er zum Paradigma auch des Sozialen wird. Es lohnt sich meines Erachtens, in diesem Zusammenhang Michel Foucaults These aufzunehmen, der zufolge seit Ende des 18. Jahrhunderts ein neues Machtregime in Europa auftaucht, das nicht mehr von der Souveränität, vom Recht zu töten, geleitet wird, sondern von Technologien der Macht, die sich auf das Leben richten, auf Prozesse der Geburtenkontrolle, Fertilitätsraten, Hygiene, Seuchenbekämpfung: "Bio-Politik", wie Foucault dieses neue Machtregime nennt. "Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen."Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1991, S. 165.
Mit dem Aufkommen der Bio-Politik wird, so Foucault, der Rassismus ein grundlegender Mechanismus der Macht. Im biopolitischen Regime führen rassistische Überzeugungen signifikante Unterscheidungen in das biologische Kontinuum ein, nicht zuletzt diejenige zwischen Lebensformen, die fortexistieren sollen, und jenen, die sterben müssen.Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976), Frankfurt am Main 2001, S. 300f. Für diesen Rassismus, der in der biologistischen Definition eines Volkes gipfeln kann, ist der Staat keine notwendige Implikation. Bekanntlich wurden kulturelle Minoritäten in bestehenden Nationalstaaten mit repressiven Nationalisierungspolitiken bis zum Punkt der völligen Auflösung ihrer Identität assimiliert. Auf sie wurden fraglos erheblicher Druck und staatlicher Zwang ausgeübt, aber sie wurden nicht vernichtet. Das Konzept der Nation kann folglich ethnische Zuschreibungen beinhalten, die bereits Homogenitätsforderungen nach sich ziehen. Aber erst der Biologismus stempelt die Andersheit des "anderen" zu einer Naturtatsache, ruft also unentrinnbar genetische und nicht mehr bloß genealogische Differenzen auf, die per definitionem nicht assimiliert werden können. Damit lösen mörderische Politiken der Segregation und Ausmerzung die vormaligen Assimilationsprojekte ab. Indem das Volk naturalisiert wird, sich folglich nicht mehr über Verfahren des Rechts als Staatsvolk konstituiert, löst sich die Nation als politische Form der modernen Gesellschaft auf.Vgl. Bielefeld, Nation und Gesellschaft, S.71.
Foucault identifizierte als den Adressaten der Bio-Macht ganz allgemein die Bevölkerungen. Freilich können sie sich im Zeitalter der Nation zu Staatsvölkern partikularisieren, die es dann im Unterschied und Gegensatz zu anderen Völkern zu regulieren, optimieren und zu vermehren gilt. Der Rassismus, der bei Foucault vornehmlich als funktionales biopolitisches Selektionskriterium erscheint, birgt ein eigenes Phantasma der Differenzierung und Hierarchisierung in sich, nicht bloß anderen Völkern und "Rassen" gegenüber, sondern gleichfalls innerhalb des eigenen Volkes.Vgl. dazu Philipp Sarasin, "Zweierlei Rassismus? Die Selektion des Fremden als Problem in Michel Foucaults Verbindung von Biopolitik und Rassismus", in: Martin Stingelin (Hrsg.), Biopolitik und Rassismus, Frankfurt am Main 2003, S.55-79. Die Ausbreitung des rassischen Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts als qualitativ neue Form der Judenfeindschaft ist daher eng mit der Durchsetzung der Biologie als Leitwissenschaft des "Lebens" verbunden.
Nach innen gerichtet konnte das "Volk" mit der Entwicklung der biologischen Wissenschaften, insbesondere des Darwinismus und der Eugenik, über den Horizont einer bloß genealogischen Abstammungsgemeinschaft hinaus konstruiert werden: zum einen retrospektiv als geschichtliche "Blutsgemeinschaft" und zum anderen, in die Zukunft gerichtet, als Züchtungsgemeinschaft, als biopolitisch erst herzustellendes Kollektiv. Das Phantasma des "Neuen Menschen" erhielt eine vermeintlich wissenschaftlich verifizierte "natürliche" Grundlage und durch die neuen biopolitischen Technologien zugleich eine praktische Option zur gesellschaftlichen Realisierung.
Eugenische Vorschläge zur erbbiologischen Regulierung des Volkes waren dabei durchaus keine deutsche Eigenheit. Auch die bolschewistische Revolution ermunterte russische Biologen zu weitreichenden eugenischen Vorschlägen, etwa dem, "wertvolle Proletarier" bis zu tausend Kinder zeugen zu lassen. Doch selbstverständlich stießen eugenische Sozialutopien auch in Europa und den USA auf fruchtbaren Boden. Bis 1934 hatten beispielsweise 27 US-amerikanische Bundesstaaten die Möglichkeit legalisiert, Menschen auch gegen ihren Willen sterilisieren zu lassen.Vgl. den Abschnitt "International Eugenics" im Ausstellungskatalog US Holocaust Memorial Museum, Deadly Medicine. Creating the Master Race, Washington 2004, S. 41-59; vgl. auch Mark B. Adams (Hrsg.), The Well-Born Science. Eugenics in Germany, France, Brazil, and Russia, New York 1990; Gunnar Bromberg/Nils Roll-Hansen (Hrsg.), Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway, and Finland, East Lansing 1996; Edwin Black, War against the Weak. Eugenics and America's Campaign to Create a Master Race, New York 2003.
Zweitens: So wie Volk unter biopolitischer Perspektive nicht mehr im Jellinekschen Sinn als ein "Staatsvolk" zu fassen ist, so läßt sich auch das Territorium nicht mehr als kartographisch definiertes "Staatsgebiet" begreifen. "Lebensraum" wird der Name für Territorien biopolitisch verfaßter Völker. Ein solcher Lebensraum reicht über staatliche Grenzen hinaus, stellt sie sogar in Frage. Die Virulenz, mit der das Deutsche Reich, insbesondere nach 1933, die Frage der "Volksdeutschen" in Europa auf der Tagesordnung hielt, zielte nicht bloß auf die Revision des Versailler Vertrages, also die Rückkehr zu den Grenzen von 1914, sondern weit mehr auf die völkische Neuordnung Europas.Vgl. Jerzy Kochanowski, Maike Sach (Hrsg.), Die "Volksdeutschen" in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität, Osnabrück 2006. Ähnlich agierten die diversen Pan-Bewegungen, worauf Hannah Arendt schon früh hingewiesen hat.Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt am Main 1955, S. 359-394. Territorialkonstruktionen wie etwa Großserbien, Großbulgarien oder Großgriechenland griffen über bestehende Nationalstaatsgrenzen weit hinaus. Das im Sinne des 19.Jahrhunderts gleichberechtigte Nebeneinander von Nationalstaaten war im Lichte solcher Aspirationen von vornherein unterminiert.
Der Kartographie fiel dementsprechend eine immense Bedeutung zu, konnte man doch, worauf Benedict Anderson aufmerksam gemacht hat, mit Hilfe von Landkarten ein politisch-geographisches Herrschaftsnarrativ konstruieren.Benedict Anderson, Erfindung der Nation, S.176; vgl. auch David Gugerli, Daniel Speich, Topografien der Nation. Politik, kartographische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002. So war die Bildung der Nationalstaaten eng mit dem Zensus, also mit der Zählung und Segmentierung von Bevölkerungen, verbunden, aber ebenso ein Schauplatz politisierter Kartographie: Grenzen sollten neu festgelegt und in ihren Geltungen politisch durchgesetzt werden. Die biopolitisch inspirierten, neuen Karten des Volkes verzeichneten demgegenüber in erster Linie Sprach-, Kulturund Lebensräume. Bezeichnenderweise taucht in den Erinnerungender an der Versailler Friedenskonferenz 1919 beteiligten Diplomaten immer wieder die Relevanz des Kartenmaterials auf. Mit ihm suchten sämtliche Delegationen den Anspruch ihrer Völker auf Selbstbestimmung zu belegen. Die Forderung nach der territorialen Autonomie ethnischer Gruppen, die sich mit vorgeblich eindeutigen Bevölkerungsmehrheiten und geschlossenen Siedlungsstrukturen in einer entsprechenden Region begründet findet, verweist stets auch auf eine zugrundeliegende Homogenitätsvorstellung, nach der "Volk" und "Raum" zueinander gehören. "Fremde" Gruppen, die sich den jeweils konstruierten Zuordnungen nicht fügen, müssen sich demnach entweder mit einem inferioren Status in den markierten Räumen zufriedengeben oder das Land verlassen.Vgl. dazu Samuel Salzborn, Ethnisierung der Politik. Theorie und Geschichte des Volksgruppenrechts in Europa, Frankfurt am Main 2005, S. 159-162.
Zudem stehen "Volkwerdung" und "Lebensraum" selbstverständlich in einem engen, innerkausalen Zusammenhang, denn die biopolitisch ins Auge gefaßten Entwicklungsimperative, das heißt die Optimierung des Volkslebens, lassen sich zumal dann nicht auf ein historisch gegebenes Gebiet einschränken, wenn Leben im Zeichen seiner kontinuierlichen Optimierung immer mehr meint als nur die Gewährleistung von Selbsterhaltung. In der spezifischeren Bedeutung von Selbststeigerungsprozessen muß die Volkwerdung auch zu Forderungen nach Expansion und neuem Siedlungsraum führen. Die dramatisierende Feststellung eines angeblichen Raummangels - "Volk ohne Raum" (Hans Grimm) - kulminiert mit einer gewissen Notwendigkeit in einer Politik der Eroberung und Schaffung neuer "Lebensräume". "Der Staat ist ein Mittel zum Zweck", konstatierte Hitler in Mein Kampf. "Sein Zweck liegt in der Erhaltung und Förderung einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen. Diese Erhaltung selbst umfaßt erstlich den rassenmäßigen Bestand und gestattet dadurch die freie Entwicklung aller in dieser Rasse schlummernden Kräfte. Von ihnen wird immer wieder ein Teil in erster Linie der Erhaltung des physischen Lebens dienen und nur der andere der Förderung einer geistigen Weiterentwicklung."Adolf Hitler, Mein Kampf, 349-351. Auflage, München 1938, S.433.
Drittens: So wie in bezug auf die Jellineksche Definition die Begriffe Staatsvolk und Staatsgebiet im biopolitischen Kontext reformuliert werden müssen, so stellt sich auch die Frage nach der "Staatsgewalt", der Volkssouveränität, neu. Bekanntlich gehört zum Selbstverständnis der Nation auch das Versprechen der Egalität. So war im 19. Jahrhundert etwa die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in den europäischen Ländern mit der Forderung nach politischer Partizipation in dem Vaterland verzahnt, für das man nun als gemeiner Soldat auch sterben durfte und sollte. Von daher läßt sich die Aushebung von Volksarmeen mit der schrittweisen Ausweitung des allgemeinen, gleichen - männlichen - Wahlrechts parallelisieren.Vgl. Weichlein, Nationalbewegungen, S.89-98.
Unter dem Blickwinkel der Bio-Macht verändert sich jedoch die Auffassung vom Volk als staatlichem Souverän. Wenn sich die Identität des Volkes nicht mehr politisch definiert, wenn es nicht mehr die politische Willensbildung der Staatsbürger ist, die das Volk konstituiert, sondern die Zugehörigkeit des "Blutes", erhalten außerkonstitutionelle Kriterien für die Verfaßtheit des Volkes ein erheblich größeres Gewicht. Verstand sich Gleichheit auf der Folie der Nation in erster Linie als die Gleichheit der bürgerlichen Rechtspersonen vor dem Gesetz, so folgt aus dem Entwurf des Volkes als einer Lebensordnung eigenen Rechts und aus dem Postulat, diese Lebensordnung zu optimieren, eine BioPolitik, deren grundsätzliches Schema strikt nach "lebenswert" und "lebensunwert" unterscheidet. Daß mit den Euthanasiemaßnahmen die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten begann, ist kein zufälliges Faktum. Das "Blut", nicht das Recht bestimmte das Volk.
III.
In dieser spezifischen historischen Konstellation hat die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, die sowohl die Bolschewiki wie der amerikanische Präsident Woodrow Wilson am Ende des Ersten Weltkrieges in die Debatte warfen, eine enorme politische Strahlkraft entfalten können. Im zerfallenden Zarenreich, das laut der Volkszählung von 1897 eine deutliche Mehrheit nichtrussischer Völker beheimatete,Uwe Halbach, Das sowjetische Vielvölkerimperium. Nationalitätenpolitik und nationale Frage, Mannheim u. a. 1992, S.11. klagten die Bolschewiki 1917 das Recht auf Sezession und die Bildung eines selbständigen Staates ein. Ende Oktober legte Lenin dem Allrussischen Sowjetkongreß, noch vor dem Dekret über die Verteilung des Bodens, eine Entschließung vor, in der sich der Rätekongreß zum uneingeschränkten Selbstbestimmungsrecht auch der kleinsten Völker im ehemaligen Zarenreich bekannte und alle nichtrussischen Völker aus dem Verband des Reiches entließ.Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S.127. Selbstredend nahmen die Bolschewiki, nachdem sich ihre Macht gefestigt hatte, diese Freiheiten wieder zurück und wandelten die neuentstandenen Nationalstaaten in Sowjetrepubliken um. Jedweder Widerstand dagegen wurde als rückständige Opposition definiert, die mit aller Gewalt gebrochen werden mußte (vgl. Jörn Grünwald, "Der Kaukasus und die Ursprünge stalinistischer Gewalt", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), Heft 3, S.232-250).
Während die Bolschewiki das Recht auf Selbstbestimmung eher strategisch instrumentalisierten, um Bündnispartner für die revolutionäre Zerschlagung des zaristischen Rußlands zu gewinnen, war Wilsons Erklärung zweifellos ein Ausdruck des demokratischen Geists Amerikas. Seit Beginn des Kriegs hatte der Präsident der Vereinigten Staaten wiederholt öffentlich betont, daß eine künftige Friedensordnung Europas nur gelingen könne, wenn die imperiale Unterdrückung des Freiheitsstrebens der kleinen Völker beendet und jedes Volk selbst über seine Regierung bestimmen würde.In diesem Sinn hatte Wilson schon 1914 in einem Gespräch mit dem Korrespondenten der New York Times geäußert, daß nicht Deutschland allein für den Krieg verantwortlich sei und andere Nationen ebenfalls einen Teil der Schuld dafür trugen. Daher dürfte es nach dem Krieg weder Bestrafung noch Triumph geben. "I believe thoroughly that the settlement should be for the advantage of the European nations regarded as Peoples and not for any nation imposing its governmental will upon alien people." (Thomas J. Knock, To End All Wars. Woodrow Wilson and the Quest of a New World Order, New York, Oxford 1992, S. 35). Die Proklamationen der neuen bolschewistischen Regierung in Moskau drängten Wilson dazu, nun seinerseits mit einem friedenspolitischen Programm vor die Weltöffentlichkeit zu treten. In einer Rede am 8.Januar 1918 verkündete er vor dem amerikanischen Kongreß seine berühmten "14 Punkte", auf die sich später auch die deutsche Regierung ausdrücklich bezog, als sie im Oktober die militärische Niederlage eingestand und Waffenstillstandsverhandlungen anbot.
Der Grundsatz, von dem sein gesamtes Friedensprogramm ausging, sei, so Wilson wörtlich, "the principle of justice to all peoples and nationalities, and their right to live on equal terms of liberty and safety with one another".Woodrow Wilson, "Adress to a Joint Session of Congress", January 8, 1918, gedruckt in: The Papers of Woodrow Wilson, ed. by Arthur S. Link et al., Vol. 45, Princeton 1984, S.534-539, hier: S.539. Neben der Offenlegung aller Verträge, der Freiheit der Seefahrt, der Gleichheit von Handelsbeziehungen und einer allgemeinen Abrüstung forderte Wilson die unparteiische Schlichtung aller kolonialen Ansprüche, wobei den Interessen der betroffenen Bevölkerungen das gleiche Gewicht einzuräumen sei wie den Rechtsansprüchen der Kolonialmächte. Alle besetzten Gebiete sollten geräumt, insbesondere die Souveränität Belgiens wiederhergestellt werden.
Ein unabhängiger polnischer Staat sollte (wieder)erstehen, der die Gebiete umfaßte, in denen eine unbestreitbar polnische Bevölkerung wohnte,"An independent Polish state should be erected which should include the territories inhabited by indisputably Polish populations, which should be assured a free and secure access to the sea, and whose political and economic independence and territorial integrity should be guaranteed by international covenant." Papers of Woodrow Wilson, S.538. ebenso sollte den Völkern Österreich-Ungarns die freieste Möglichkeit zu autonomer Entwicklung gewährt werden. Auch dem türkischen Teil des Osmanischen Reiches sei Souveränität zu gewähren, wobei den anderen, derzeit noch unter türkischer Herrschaft befindlichen Nationalitäten - hiermit waren, obwohl ungenannt, Armenier und Griechen gemeint -, die Sicherheit ihres Lebens und eine absolut unbeeinträchtigte Möglichkeit zu autonomer Entwicklung garantiert werden müsse."The Turkish portion of the present Ottoman Empire should be assured a secure sovereignty, but the other nationalities which are now under Turkish rule should be assured an undoubted security of life and an absolutely unmolested opportunity of autonomous develop-
ment." Papers of Woodrow Wilson, S.538. Für den Balkan forderte Wilson gleichfalls die Räumung aller besetzten Gebiete; Serbien sollte freier Zugang zum Meer gewährt und die Beziehungen der Balkanstaaten untereinander durch freundschaftliche Verständigung gemäß der historisch etablierten Grundlinien von Zugehörigkeit und Nationalität geregelt werden."Rumania, Serbia, and Montenegro should be evacuated; occupied territories restored; Serbia accorded free and secure access to the sea; and the relations of the several Balkan states to one another determined by friendly counsel along historically established lines of allegiance and nationality." Papers of Woodrow Wilson, S. 538. Kernstück der Konzeption Wilsons war die Bildung einer "general association of nations", dem späteren Völkerbund, der die politische Unabhängigkeit wie territoriale Integrität der großen und der kleinen Staaten gewährleisten sollte.
So diplomatisch abgewogen Wilsons Vorschläge waren und deshalb auch als Grundlage für die Friedensverhandlungen in Versailles 1919 dienen konnten, so traf seine Initiative dennoch auf ein Europa, das sich bereits nach dem "Blut" zu ordnen begonnen hatte. Die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker fachte die völkischen Ambitionen in Europa weiter an. Der Vertrag von Sévres, der als Versailler Folgevertrag dem Osmanischen Reich im August 1920 von den Alliierten diktiert worden war und der unter anderem die Bildung eines eigenen armenischen Nationalstaates in Ostanatolien vorsah, war das Papier nicht mehr wert, auf dem er geschrieben war. Griechenland hatte die osmanische Schwäche bereits ausgenutzt und im Mai 1919 die kleinasiatische Hafenstadt Smyrna und einen Küstenstreifen besetzt. Noch lebten im osmanischen Kleinasien über eine Million Griechen, und der Traum von "Megali Idea", von Großgriechenland, schien jetzt Wirklichkeit werden zu können. Im Juli 1921 stieß griechisches Militär von der Ägäisküste aus nach Norden und Osten weit ins Landesinnere hinein, brannte in den eroberten Gebieten türkische Dörfer nieder und vertrieb deren Bevölkerung. Selbst westliche Reisende wie der britische Historiker Arnold Toynbee waren von den Grausamkeiten der Griechen schockiert. Allerdings kam der griechische Angriff vor Ankara zum Stehen. Den türkischen Truppen unter Mustafa Kemal gelang eine erfolgreiche Gegenoffensive, die den Griechen einen heillosen Rückzug aufzwang, bei dem erneut ganze Dörfer verwüstet, Zivilisten mißhandelt, vergewaltigt und getötet wurden. Im Hafen von Smyrna, von dem aus Zehntausende zu entkommen suchten, ereignete sich dann Mitte September die Katastrophe, als die Stadt zu brennen begann und die eingeschlossenen Flüchtlinge auf dem Kai den Flammen schutzlos ausgeliefert waren.Norman M. Naimark, Flammender Hass, S. 58-70; zu Smyrna siehe Biray Kolluoglu Kirli, Forgetting the Smyrna Fire", in: History Workshop Journal 60 (2005), S. 25-44.
Der Vertrag von Lausanne, der im Juli 1923 von Griechenland und der Türkei sowie Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan unterzeichnet wurde, sanktionierte die Vertreibungen und Deportationen als "Bevölkerungstransfer": Sämtliche anatolischen Griechen, insgesamt eine Zahl zwischen 1,2 und 1,5 Millionen, von denen die meisten bis auf etwa 290000 bereits vertrieben worden waren, hatten ihre Heimat zu verlassen ebenso wie etwa 350000 Türken, die aus Griechenland in die Türkei vertrieben wurden.Naimark, Flammender Hass, S.70-75; vgl. auch den Ausstellungskatalog Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, hrsg. vom Zentrum gegen Vertreibungen, Berlin 2006, S.36-43.Die unterzeichnenden Vertragsparteien waren im übrigen keine totalitären Diktaturen. Frankreich, Großbritannien, Italien wurden ebenso wie Griechenland parlamentarisch regiert. Insofern scheinen demokratische Gesellschaften offenbar Praktiken ethnischer Säuberungen keineswegs auszuschließen, und Volkssouveränität ist kein Hinderungsgrund dafür, exzessive Gewalt gegen Zivilisten auszuüben.Die Frage, ob die Demokratie nicht eine dunkle Seite besitze, beschäftigt auch Michael Mann in seinem neuen Buch The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleansing (Cambridge 2004, in deutscher Übersetzung 2007 in der Hamburger Edition). Allerdings beziehen sich zum einen seine empirischen Beispiele: Armenien, Nazideutschland, Yugoslawien, Ruanda explizit nicht auf Demokratien, zum anderen scheint mir seine theoretische Unterscheidung von demos und ethnos ausschließlich auf die griechische Antike fokussiert und vernachlässigt insbesondere das jüdisch-christliche Narrativ des erwählten Volkes. Europas Konzept des Volkes gründet sich indes auf sämtliche drei Traditionen, die griechische, jüdische und römische, die jede wiederum sich gegen eine bloß binäre Kodierung sperrt. Foucaults theoretischer Vorschlag der Bio-Macht richtet dagegen die Perspektive klarer auf das zentrale Dispositiv des Lebens, das sowohl Wissensformen wie soziale Imaginationen als auch politische Machttechnologien wie individuelle Selbstpraktiken umfaßt. In der Konzeption der Volkssouveränität steckt eine Ambivalenz, die nicht allein Partizipation, sondern auch Aggression (Dieter Langewiesche) zuläßt, die mit Politiken der Inklusion ebenso vereinbar ist wie mit gewalttätiger Exklusion. Der Begriff der Volksgemeinschaft bezeichnet wohl jene definitive Transformation, die das Volk des 20. Jahrhunderts vom Volk der Nation trennt.
IV.
"Alle Gewalt geht vom Volke aus", jene wuchtige Formulierung, die sich in den demokratischen Verfassungen Europas wiederfindet, hat trotz aller verfassungsrechtlichen Einhegung eine durchaus verfassungssprengende Kraft. Die Revolution 1918/19 in Deutschland war, so Gerhard Anschütz in seinem maßgebenden Kommentar zur Verfassung der Weimarer Republik, "eine gewaltsame Zerstörung alten Rechts, also Rechtsbruch" und zugleich "Schöpferin einer neuen Rechtsordnung".Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Dritte Bearbeitung, 12. Aufl., Berlin 1930, S. 3. Artikel 1 der Weimarer Verfassung lautete: "Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus." In der Weimarer Verfassung war diese Vorstellung vom revolutionären Volk, das in die Geschichte eingreift und einen Anfang setzt, noch enthalten, konstituierte sie doch nicht allein das Staatsvolk, das in freier, geheimer und gleicher Wahl seine Repräsentanten im Reichstag bestimmte, sondern verankerte in der Präambel, in der es hieß, daß das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen, sich diese Verfassung gegeben habe, gewissermaßen ein vorkonstitutionelles, vorpolitisches Volk. In der Präambel heißt es: "Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuen und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben." Nicht zuletzt nahm dieser programmatische Vorspruch der Weimarer Verfassung auch auf die Präambel der Reichsverfassung von 1871 Bezug, deren Schöpfer eben nicht das Volk, sondern vielmehr ein Bund von Fürsten gewesen war.
Carl Schmitt hat diese Ambivalenzen scharfsichtig erkannt und sie zugleich zu einer Seite hin antirepräsentativ und antiliberal zu zwingen versucht, indem er die Identität und Homogenität des politischen Volks zurVoraussetzung jedweder demokratischen Verfassungsordnung erklärte, das souveräne Volk nicht mehr als Assoziation freier und gleicher Bürger begriff, sondern Gleichheit substantialistisch formulierte: "Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens - nötigenfalls - die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen."Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), Berlin 1996, S.13f.
Diese "Substanz der Gleichheit" konnte Schmitt zufolge - Anfang der 20er Jahre, als er diesen Text aufgesetzt hat - in besonderen moralischen oder physischen Qualitäten, in religiösen Überzeugungen oder in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation bestehen, die, wie Jürgen Habermas gegen Schmitt argumentiert, der staatlichen Organisation als gleichsam natürliches Substrat unterstellt wird.Jürgen Habermas, "Inklusion versus Unabhängigkeit. Zum Verhältnis von Nation, Rechtsstaat und Demokratie", in: Manfred Hettling, Paul Nolte (Hrsg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München 1996, S. 115-127, hier S.117f.Andererseits: Handelte es sich 1923 bei Schmitt bei den Auszuschließenden um "Barbaren, Unzivilisierte, Atheisten, Aristokraten oder Gegenrevolutionäre", so ließ sich diese Liste später mühelos um "Juden", "Fremdrassige" und "Gemeinschaftsfremde" erweitern. In Schmitts Schriften selbst verwandelte sich nach 1933 das "Gleichartige" in das "Artgleiche".Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Berlin 1963, S.27, 20. Den Hinweis auf die signifikante Silbenverdrehung von "gleichartig" in "artgleich" verdanke ich Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek bei Hamburg 2000, S.101-105. Mit Schmitts Wendung konnte das Volk als "Volksgemeinschaft" souverän werden, das heißt den Anspruch auf Volksherrschaft erheben, ohne seinen partikularen, rassenbiologisch definierten Charakter zu verlieren.
Nahezu alle Parteien der Weimarer Republik propagierten die Volksgemeinschaft als politisches Programm - mit graduellen wie fundamentalen Unterschieden. Das katholische Zentrum, das dem Gedanken einer Volkssouveränität grundsätzlich kritisch gegenüberstand, legte mehr Wert auf die ständische, naturrechtliche Ordnung der Gesellschaft als wohlgeordnetes Abbild der göttlichen Schöpfung, als daß es den egalitären Aspekt der Volksgemeinschaft hätte goutieren können. Für die Sozialdemokraten war die Klasse der Arbeitenden im Laufe ihrer Geschichte längst zur Volksmehrheit geworden, der letztlich nur noch eine verschwindende, jedoch ungerechtfertigt mächtige Minderheit von Monopolkapitalisten und Großgrundbesitzern gegenüberstand: Volksgemeinschaft war hier eine Integrationsformel für alle Schaffenden.Vgl. dazu meinen Aufsatz: "'Volksgemeinschaft' als politischer Topos in der Weimarer Republik'", in: Alfred Gottwaldt, Norbert Kampe, Peter Klein (Hrsg.), NS-Gewaltherrschaft. Beiträge zur historischen Forschung und juristischen Aufarbeitung, Berlin 2005, S. 23-39.
Dagegen begriff die politische Rechte die "Volksgemeinschaft" vor allem in ihrer exkludierenden Dimension. Allen voran der NSDAP ging es keineswegs um die Inklusion aller Deutschen als vielmehr um die Gemeinschaft von "Volksgenossen", die von vornherein alle jüdischen Deutschen ausschloß. Auch wenn die politische Rhetorik der Rechten die Gemeinschaft selbstverständlich in den Mittelpunkt stellte, wurde die Volksgemeinschaft vor allem durch die scharfe und gewalttätige Grenzziehung, durch die Exklusion hergestellt.
Der Antisemitismus spielte dabei die entscheidende Rolle. Denn in der vorkonstitutionellen, außerstaatlichen Konstruktion des Volkes als "natürlicher Blutsgemeinschaft", die zu ihrer eigenen, antibürgerlichen und antirechtsstaatlichen politischen Ordnung, die eben nicht mit dem Nationalstaat identisch war, finden muß, ist die rassistische, antisemitische Grenzlinie untrennbar eingelassen. Antisemitismus konstituierte die nationalsozialistische Volksgemeinschaft; er befeuerte ihre Radikalität und Destruktionskraft, trieb sie unermüdlich an, Grenzen, Differenzen zu bestimmen. "Volksgemeinschaft" war so auf der einen Seite immer wieder schon gegeben und mußte auf der anderen Seite durch ständige Purifikation erst noch hergestellt werden. "Durch Reinheit zur Einheit", hatte schon der Wiener alldeutsche Antisemit Georg von Schönerer, ein Vorbild Hitlers, gefordert.
Der Biologismus transformierte aber auch die Inklusion in eine ständige Selektion, ging es doch in der Züchtung des neuen arischen Menschen stets um die biopolitische Entscheidung, wer leben soll und wer sterben muß. Sogenannte Erbgesundheitsgerichte, die Zehntausende von nichtjüdischen Menschen sterilisieren ließen und die Massenmorde durch die Euthanasie, die "Vernichtung lebensunwerten Lebens", wie es damals hieß, lassen den Nationalsozialismus zweifellos als das mörderischste biopolitische Regime erscheinen.
Die Konstruktion der Nation als Rechtsordnung wurde abgelöst durch die Konstruktion des Volkes als Lebensordnung. Durch das Aufkommen der Bio-Macht verschoben sich die politischen Ambivalenzen, die dem Konzept der Nation von vornherein innewohnten. Demosnaturalisierte sich zu ethnos, und die Allgemeinheit der Bevölkerungen als Adressat der Bio-Macht partikularisierte sich zur Optimierung einzelner, rassistisch hierarchisierter Völker. Volkssouveränität als Legitimitätsprinzip moderner politischerHerrschaft erhielt durch den biopolitischenZusammenhang eine, wie Schmitt es formuliert hatte, biologisierte Grundlage der "Artgleichheit". Inklusion und Exklusion waren inder "Volksgemeinschaft" rassistisch bestimmt und wurden durch die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker noch einmal enorm angetrieben. Es entstanden jene extrem gewalttätigen Konstellationen, die weder durch die völkerrechtliche Regelung von Minoritätenrechten noch durch die Schlichtungskompetenz des Völkerbunds, ja nicht einmal mit herkömmlicher hegemonialer Assimilierungspolitik, wie sie das 19. Jahrhundert kannte, zu entschärfen waren.
Carl Schmitt hat in seiner 1928 erschienenen "Verfassungslehre" kalt konstatiert, daß in der europäischen staatlichen Wirklichkeit nationale Homogenität nicht vorhanden sei. Zwar gebe es die Möglichkeit friedlicher Assimilation der Minderheiten, aber, so Schmitt wörtlich, eine andere Methode sei "schneller und gewaltsamer", nämlich "Beseitigung des fremden Bestandteils durch Unterdrückung, Aussiedlung der heterogenen Bevölkerungsteile und ähnliche radikale Mittel".Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl., Berlin 1993, S. 232. Die biologische Definition des Volkes läßt weder Gleichberechtigung noch territoriale Integrität zu, sondern verlangt nach Segregation, Vertreibung und Vernichtung.
V.
Unter diesem Blickwinkel wird der Begriff des Genozids problematisch. Bekanntlich hat Raphael Lemkin, ein Völkerrechtler polnischjüdischer Abstammung, dessen Interesse an dem Thema Völkermord schon Anfang der 20er Jahre, als er an der Universität Lwow Jura studierte, geweckt wurde, den Begriff geprägt und erstmals in seinem 1944 erschienenen Buch Axis Rule in Occupied Europe veröffentlicht.Anson Rabinbach, "Lemkins Schöpfung. Wie Völkermord zum juristischen und politischen Begriff wurde", in: Internationale Politik, Februar 2005, S. 21-31. 1945 tauchte der neue Begriff "genocide" dann in der Anklageschrift gegen die Hauptkriegsverbrecher im Prozeß vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg auf. In bezug auf die Verbrechen in den besetzten Gebieten warf die Anklage den Angehörigen der NS-Führung vor: "They conducted deliberate and systematic genocide, viz., the extermination of racial and national groups, against the civilian populations of certain occupied territories in order to destroy particular races and classes of people and national, racial, or religious groups, particularly Jews, Poles, and Gypsies and others."Indictment International Military Tribunal against Hermann Goering et al., Count Three: War Crimes, zit. nach der Online-Dokumentation des Nürnberger Prozesses der Yale University: http://www.yale.edu/lawweb/avalon/imt/proc/count3.htm[15.11.2006]. In der deutschen Übersetzung der Anklageschrift taucht der Begriff des Genozids nicht auf; es heißt dort: "Sie verübten vorsätzlichen und systematischen Massenmord, das heißt sie rotteten Gruppen einer bestimmten Rasse oder Nationalität unter der Zivilbevölkerung gewisser besetzter Gebiete aus, um bestimmte Rassen, Volksklassen und nationale, rassische oder religiöse Gruppen, insbesondere Juden, Polen, Zigeuner usw. zu vernichten." Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 1947, Bd.1, S.47; vgl. dazu William A. Schabas, Genozid im Völkerrecht, Hamburg 2003, S. 71-74.
Lemkins Buch und die Nürnberger Anklage belegen die enge Verbindung des Begriffs des Genozids mit dem Holocaust. Von den nationalsozialistischen Massenmorden, insbesondere dem Mord an den europäischen Juden, bezog und bezieht "Genozid" bis heute seine politische Relevanz. Mit der "Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Genozids", die die Vollversammlung der UNO am 9. Dezember 1948 verabschiedete, war erstmals in der neueren Geschichte ein völkerrechtliches Instrument geschaffen, das es gestattete, die Souveränität eines Staates zu verletzen, um einen Massenmord notfalls mit militärischen Mitteln zu verhindern. Die notwendige juristische Definition, welche Gewalttaten unter den Begriff des Genozids fallen sollten, beruhte allerdings auf einem politischen Kompromiß innerhalb der UNO-Staaten, unter denen insbesondere die Sowjetunion keinesfalls eine Formulierung wollte, die die stalinistischen Verbrechen zum Gegenstand internationaler Strafahndung hätte werden lassen. Also wurden zwar nationale, rassische, ethnische oder religiöse Merkmale der Verfolgung von Gruppen in die Konvention aufgenommen, aber keine politischen. Die USA wiederum bestanden darauf, daß die Intention zum Völkermord Bestandteil der Definition sein müsse, um Massaker und Massenmord in Kriegen von einem Genozid abzugrenzen. Offensichtlich sollte verhindert werden, wegen des Abwurfs von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki womöglich selbst zum Angeklagten zu werden.Vgl. Schabas, Völkerrecht, S.75-112.
Blieb diese Diskussion während des Kalten Kriegs eher auf juristische Fachkreise beschränkt, brach die Kontroverse darüber, wie ein Genozid zu definieren sei, erneut seit 1989, vor allem seit den jugoslawischen Kriegen und dem Massenmord in Ruanda aus. Freilich blieb der Begriff selbst unangetastet.Vgl. dazu jüngst den Überblick bei Boris Barth, Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte -- Theorie -- Kontroversen, München 2006, S.12-61. Es mag eine Reihe guter politischer Gründe geben, am Begriff des Genozids festzuhalten, nicht zuletzt deshalb, weil nur er aufgrund der UNO-Konvention die Grundlage für eine internationale Intervention zugunsten verfolgter Menschen sein kann. Andererseits zeigt die Debatte der vergangenen Jahre, daß der Begriff kaum noch analytische Erklärungskraft besitzt.Siehe dazu den Beitrag von Birthe Kundrus in diesem Heft.
Problematisch ist erstens, daß der Holocaust als Maßstab nicht nur an die Massenmorde angelegt wird, die seit 1945 geschehen sind, sondern gleichfalls in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückprojiziert wird, um beispielsweise die Deportationen und den Massenmord an den Armeniern als Genozid zu charakterisieren. Damit drohen in der Untersuchung der jeweiligen Gewaltpraktiken nur jene in den Blick zu geraten, die dem Holocaust ähnlich waren und dann als Genozid klassifiziert werden können, während jene Gewalt, die der Shoah anscheinend unähnlich ist, als nicht genozidal aussortiert wird. Damit schafft man nicht nur ein letztlich unauflösbares methodologisches Klassifikationsproblem. Sondern man läuft darüber hinaus Gefahr, die Dynamiken und Radikalisierungen der Gewalt, die Transformationen und Überlagerungen von Gewaltpraxen, nicht zuletzt das situative Moment des "Überschießens" von Gewalt zu unterschätzen. Konsequent bestimmt die Suche nach der "Genesis" des Holocaust die wissenschaftliche Debatte, wohingegen im Sinne Foucaults weniger eine genetische als vielmehr eine genealogische Herangehensweise womöglich neue Einsichten bringen würde.
Zweitens beruht die enge definitorische Verbindung von Holocaust und Genozid auf der problematischen Annahme, daß der Holocaust als Referenzrahmen ausführlich erforscht, seine Ursachen geklärt und die Kriterien, die ihn von anderen Massenmorden unterscheiden, eindeutig abgegrenzt und fest umrissen seien. So gehen zahlreiche Bücher zum Genozid wie selbstverständlich von der Intention zum Mord an den europäischen Juden aus, obwohl die jüngere Forschung zum Holocaust die institutionellen, radikalisierenden, situativen und vor allem regional unterschiedlichen Momente deutlich in den Vordergrund stellt.Vgl. Christopher Browning, Die Entfesselung der "Endlösung". Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942. Mit einem Beitrag von Jürgen Matthäus, Berlin, 2003. Auch der kaum angezweifelte Konsens in der Literatur zum Genozid, daß es sich um ein Staatsverbrechen handle und der Staat, was in aller Regel mit Bezug auf den Holocaust hervorgehoben wird, der zentrale Akteur des Genozids sei,Zu Recht kritisiert Christian Gerlach diese Staatsfixiertheit und fordert mehr Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen Akteure. Sein eigener Vorschlag, von "extrem gewalttätigen Gesellschaften" zu sprechen, bleibt zwar begrifflich noch zu vage, schließt aber das Problem in einer produktiven Weise auf (Christian Gerlach, "Das Konzept 'extrem gewalttätiger Gesellschaften'. Überlegungen zu NS-Deutschland, der Sowjetunion 1929-1953 und dem Spätosmanischen Reich 1913-1923", in: Alfred Gottwaldt, Norbert Kampe, Peter Klein [Hrsg.], NS-Gewalt-herrschaft. Beiträge zur historischen Forschung und juristischen Aufarbeitung, Berlin 2005, S. 40-47). ignoriert die lebhafte Auseinandersetzung innerhalb der Holocaustforschung um den vermeintlich nur staatlichen Charakter des Nationalsozialismus. Sowohl die Einsatzgruppen der SS wie auch die "Aktion Reinhardt" als Organisation der Vernichtungslager in Polen sind schwerlich als rein staatliche Institutionen zu identifizieren, vielmehr verweisen sie auf eine spezifisch nationalsozialistische Ordnungsvorstellung des Politischen, die sich kaum unter das Webersche Konzept des rationalen Anstaltsstaates der Moderne subsumieren läßt.
Drittens - und das wäre der schwerwiegendste Einwand gegen den Terminus - setzt die "Genozid"-Forschung den Gegenstand ihrer Untersuchung, nämlich das Volk, als gegeben voraus, gewissermaßen als ein nicht mehr gesondert zu befragendes Apriori. Insofern schafft die Forschungsperspektive selbst eine schon klassifizierte Opfergruppe, deren Verfolgung und Ermordung dann Grundlage der jeweiligen Phänomenbeschreibungen und Analysen wird. Gerade weil ethnische und rassenbiologische Kriterien Elemente von Selbst- wie Fremdbeschreibungen darstellen, wäre die Selbstverständlichkeit, mit der von Juden, Hutu, Tutsi, Polen, Armeniern, Griechen, Türken et al. die Rede ist, aber zunächst doch in Zweifel zu ziehen. Tatsächlich sollten detaillierte Untersuchungen zu der Frage, wer aufgrund welcher Gründe wie verfolgt wird, Teil der Gesamtanalyse sein. Daß die Zuschreibung, Jude und damit des Todes zu sein, in erster Linie eine Definition der nationalsozialistischen Täter war, sich damit im Begriff des Genozids diese Täterperspektive auf eine gespenstische Weise perpetuiert und jene Opfer, die nichts anderes als Menschen sein wollten, in eine problematischen Opferhierarchie zwingt, ist nicht zuletzt von Jean-Michel Chaumont mit guten Argumenten kritisiert worden.Jean-Michel Chaumont, Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung, Lüneburg 2001.
Vieles spricht also dafür, sich Jacques Sémelin anzuschließen und die Perspektive auf die Massenmorde des 19. und 20. Jahrhunderts zu verändern. Im Mittelpunkt stünde dann nicht mehr das Klassifizierungsproblem, ob es sich um einen Genozid, also um eine dem Holocaust ähnliche Gewalttat handelt oder nicht, als vielmehr die Analyse der konkreten Gewalttaten sowie die Beschäftigung mit unterschiedlichen Handlungsfaktoren, unter denen die Bio-Politik selbstverständlich nur ein möglicher ist. Darüberhinausweisen die sogenannten ethnischen Säuberungen, die mit der biologisch definierten Homogenität des Volkes einhergehen, darauf hin, daß sich diese Vertreibungen und Morde prinzipiell von den Massakern und Kriegsgreueltaten vorangegangener Jahrhunderte unterscheiden. Die Staatenkriege als Gewaltform des Konzepts der Nation, die nach innen pazifiziert und die Feinde im Außen sucht, werden abgelöst durch die Eroberung von "Lebensraum", Vernichtungskriege und ethnischen Säuberungen in der Politik des biologisierten Volkes, die "leben macht", züchtet und ausmerzt. Der Rassismus als biopolitisches Selektionskriterium - da ist Foucault ernst zu nehmen - markiert eine deutliche Zäsur zwischen den modernen Massenmorden zu denen der Vormoderne. Nicht die Zahl der Toten oder die Form der Gewalt stünde damit im Mittelpunkt der Analyse, sondern das Kriterium der Selektion, wer leben soll und wer sterben muß.