Jacques Sémelin
Michael Adrian
Jacques Sémelin/Mittelweg 36
Eurozine
Mittelweg 36
Mittelweg 36 6/2006
2007-01-25
Elemente einer Grammatik des Massakers
Hat uns der 11. September alle vorangegangenen Tragödien vergessen lassen? Haben wir den Krieg in Ex-Jugoslawien vergessen, der vor etwas mehr als 10 Jahren seinen Höhepunkt in Bosnien erreichte, und den Völkermord in Ruanda, bei dem die Vereinigten Staaten, wie Samantha Power in einem herausragendenBuch gezeigt hat, alles daran setzten, eine internationale Intervention zu verhindern? Samantha Power, A Problem from Hell. America and the Age of Genocide, New York 2002. Haben wir auch die Zehntausende von Toten in Algerien, Timor, Kolumbien, Sierra Leone und Tschetschenien vergessen? Man käme an kein Ende, wollte man alle Orte aufzählen, an denen die Gewalt getobt hat und noch immer tobt. Sind all diese Konflikte von unserer geistigen Landkarte verschwunden, weil wir uns nunmehr darauf beschränken, das Weltgeschehen allein an der Elle der Kategorien Terrorismus und gerechter Krieg zu messen?
Der vorliegende Text möchte sich dieser Tendenz entgegenstellen und die Reflexion über zeitgenössische Konflikte anhand einer Reihe von Beispielen erneuern. Im Mittelpunkt der Analyse stehen dabei die für diese Konflikte typischen Prozesse extremer Gewalt, deren spektakulärste und rätselhafteste Erscheinungsform das Massaker ist. Aus mindestens drei Gründen scheint es sich jeglicher Analyse zu widersetzen. Der erste betrifft die Definition des Massakers selbst, das als eine Form zumeist kollektiven, auf die Vernichtung von Nichtkombattanten -- Männern, Frauen, Kindern oder entwaffneten Soldaten -- zielenden Handelns verstanden wird. Hier stellt sich immer wieder die Frage: Warum Menschen töten, die man als "unschuldig" oder wehrlos betrachtet? Der zweite Grund hängt mit dem Umstand zusammen, daß die Opfer ihren Henkern nicht nur nicht unbekannt sind, sondern manchmal derselben Gemeinschaft, ja demselben Dorf angehören. Daß es zwischen Menschen, die zuvor vielleicht jahrelang über gutnachbarschaftliche Beziehungen verfügten, zu diesem plötzlichen Umschlag in ein Massaker kommt, ist schlechterdings verblüffend. Drittens schließlich verbindet sich das Massaker -- verstanden als eine aus der Nähe zwischen Henkern und Opfern geborene Praxis -- oftmals mit Grausamkeiten, die jede Vorstellung übersteigen. Solche Akte betäuben gleichsam den Verstand.
Die Vorstellung einer erschöpfenden Analyse dieser Phänomene liegt uns fern. Sehr wohl verfolgt der vorliegende Text aber eine Absicht: Er soll die Nützlichkeit einer vergleichenden Betrachtung von Massakern aufzeigen. Es gilt, über einzelne Fallstudien hinauszugehen, oder vielmehr die besten von ihnen zueinander in Beziehung zu setzen, um jene Prozesse besser zu verstehen, die zum Akt des Massakers führen. Zu diesem Zweck verfolgt die Analyse zwei Hauptstränge. Zum einen die historische Dimension: Es dürfte kaum möglich sein, die Massaker der 1990er Jahre zu verstehen, wenn man nicht die Geschichte der Massaker im 20. Jahrhundert in Betracht zieht, einschließlich derer, die als "Genozide" Der Begriff "Genozid" ist in den Sozialwissenschaften nicht unproblematisch. Ich selbst gebrauche ihn kritisch und in engumrissenen Grenzen. Vgl. hierzu Jacques Sémelin, "Du massacre au processus génocidaire", Revue internationale des sciences sociales, Nr. 174, Dezember 2002. Siehe jetzt auch ders., Purifier et Détruire. Usages politiques des massacres et génocides, Paris 2005. Eine deutsche Übersetzung dieser Monographie wird im Herbst 2007 in der Hamburger Edition erscheinen. bezeichnet werden. Zum anderen eine transdisziplinäre Offenheit: Das Massaker ist ein so komplexes Phänomen, daß es gleichermaßen den Blick der Soziologie, der Anthropologie und der Psychologie erfordert. Auch dies wollen die folgenden Seiten belegen. Ziel der vorliegenden Studie ist also zu zeigen, wie die Sozialwissenschaften einer vergleichenden Reflexion den Weg bereiten können, die vielleicht so etwas wie die Grammatik des Massakers freilegt.
Staatskrise und internationaler Kontext
Die Praktiken des Massakers wurden in erster Linie von staatlichen Kräften ausgeübt. So schätzt der amerikanische Politikwissenschaftler Rudolf Rummel, daß im Laufe des 20. Jahrhunderts 169 Millionen Menschen von ihren eigenen Regierungen getötet wurden, weit mehr also als die 34 Millionen Opfer aller Kriege dieses Zeitraums. Natürlich kann man über die absolute Zahl streiten, nicht aber über die Größenordnung. Vgl. Rudolf J. Rummel, Death by Government, New Brunswick/London 1994. Aus dieser Feststellung ergibt sich eine erste paradoxe Frage: Werden Massaker von starken oder von schwachen Staaten begangen? Die These vom starken Staat scheint sich aufzudrängen, bedarf es doch enormer Macht, um ein Massaker und erst recht einen Genozid zu verüben: Man muß erst einmal über die Mittel verfügen, zu zerstören, zu organisieren, Propaganda zu betreiben usw. Ein Genozid setzt die Macht eines Staates voraus, der nicht nur über eine Armee gebieten kann, sondern darüber hinaus, wie zahlreiche Autoren betont haben, Helen Fein, "Genocide: a sociological perspective", Current Sociology, Bd. 38, Nr. 1, 1990. über einen nennenswerten bürokratischen Apparat und eine Propagandamaschine. So sieht es im übrigen auch Rummel: "Absolute Macht tötet absolut." Die These vom starken Staat wird jedoch erschüttert sobald man die Aufmerksamkeit auf den allgemeinen Kontext richtet, in dem die fraglichen Kräfte operieren. Vertreter dieser Perspektive machen geltend, daß die entsprechenden Staaten, obwohl mächtig, sich nichtsdestotrotz in einer Situation der Verwundbarkeit befinden, was gerade ihre Bereitschaft zum Massaker erklären soll. Hier ist es entscheidend, dem Kriegskontext Rechnung zu tragen, auch wenn dies im weiteren differenziert werden muß. So haben Historiker wie Philippe Burrin oder Christian Gerlach dafür argumentiert, die Entscheidung zur "Endlösung", wie sie von den Nazis wahrscheinlich im Dezember 1941 getroffen wurde, nicht isoliert von dem Umstand zu betrachten, daß sie zu diesem Zeitpunkt den Krieg gegen die Sowjetunion verloren gaben. Im Bewußtsein einer bevorstehenden Niederlage, das durch den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten nach der Bombardierung von Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 noch verstärkt wurde, habe sich Hitler folglich entschlossen, wenigstens sein anderes Hauptziel zu erreichen: die Vernichtung der Juden. Auch im Falle Ruanda ist, vor naturgemäß ganz anderem Hintergrund, die Frage nach dem Verhältnis von Krieg und Genozid zentral. Die Sicherheit der Hutu-Regierung in Kigali war durch die seit 1990 von der Ruandischen Patriotischen Front unternommenen Angriffe von außen bedroht. Zahlreiche Autoren ziehen eine Verbindung zwischen dieser äußeren Bedrohung durch die Tutsi und der von Hutu-Extremisten betriebenen ideologischen Konstruktion einer inneren Bedrohung durch die Tutsi; letztere verfolgten angeblich als verlängerter Arm der ersteren das Ziel, die Fundamente der Staatsgewalt zu untergraben. Den Krieg nicht zu verlieren bedeutete folglich, mindestens diese innere Bedrohung vollständig auszuschalten, also die Tutsi auszulöschen. Eine vergleichbare Überlegung läßt sich auch über den Genozid an den Armeniern anstellen: Die Massaker erfolgten nach einer schweren Niederlage der Türken gegen die Russen, im Kontext eines Krieges, bei dem die jungtürkische Regierung die armenische Minderheit im Osmanischen Reich für Komplizen und Alliierte der Russen hielt.
Diese Herangehensweise bestärkt die Annahme, daß Massaker vor allem von schwachen Staaten begangen werden beziehungsweise von Staaten, die sich für verwundbar halten oder glauben, einen Krieg nicht gewinnen zu können, wenn sie nicht bis zur Vernichtung von Teilen der Zivilbevölkerung gehen. Hier sind verschiedene Fälle zu unterscheiden; zunächst der einer politischen Macht, deren Legitimität nicht garantiert ist und/oder massiv bestritten wird. Beispielsweise lassen sich die Massaker der Französischen Revolution, beginnend mit denen der Vendée, nicht begreifen, wenn man sich, wie der Historiker Jean-Clément Martin betont, nicht vergegenwärtigt, daß in ihnen paradoxerweise die Schwäche der Staatsgewalt zum Ausdruck kommt. Gleichermaßen ließe sich die extreme Gewalt der Roten Khmer in Kambodscha durch den Umstand erklären, daß sie eine winzige Minderheit waren und sich ihres minoritären Status auch bewußt waren. Zuflucht bei einem Massaker zu suchen, dient folglich dazu, eine Position der Schwäche zu überwinden, um Einfluß auf die Bevölkerung zu gewinnen und die eigene Macht zu stärken. Wenn Kriege so sehr Staaten machen wie Staaten Kriege, um Charles Tillys Formel aufzugreifen, ließe sich dasselbe vom Massaker behaupten. Ein anderer Fall ist der eines bereits etablierten Staates, dessen Legitimität massiv bestritten oder in Frage gestellt wird und dessen Bürger das Recht zur Gewaltanwendung wieder beanspruchen, weil sie der staatlichen Autorität ihren Gehorsam entziehen. Die Situation in Algerien nach der Weigerung der Staatsführung, die Wahlergebnisse von 1991 anzuerkennen, durch die das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt wurde, bietet ein Beispiel für eine derartige Entwicklung. Ein dritter typischer Fall ist der des Zusammenbruchs eines Herrschaftssystems oder einer Föderation, die zuvor von ihren Mitgliedern gebilligt beziehungsweise von den Untertanen erduldet worden war. Die Begleitumstände der Auflösung eines Reiches machen das Auftreten dieser Form von Gewalt wahrscheinlicher, weil sie die Rekonstruktion starker Identitäten auf nationalistischer oder gemeinschaftlicher Grundlage erlauben. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die Nachwirkungen der Auflösung des Sowjetreichs auf dem Balkan nach 1989 sind Beispiele hierfür.
Damit ist offensichtlich, wie schwierig es wäre, die Praxis des Massakers zu untersuchen, sähe man vom internationalen Kontext ab, in dem diese entstehen. Die Herausforderung besteht darin, das Ereignis in seinem "lokalen" Rahmen zu verstehen, zugleich aber seine internationale Dimension zu erfassen. Auch in diesem Zusammenhang gibt es unterschiedliche Ansätze, die mal von einer eher strukturalen, mal von einer eher funktionalen Perspektive ausgehen. In seinen Arbeiten zum Massaker (und allgemeiner zum Genozid) orientiert sich der englische Historiker Mark Levene am ersteren Modell. Er versucht zu zeigen, daß die Vernichtung von Zivilbevölkerungen nicht als "Betriebsunfall" eines Nationalstaats, sondern eher als "Nebenprodukt" des internationalen Systems und der Weltwirtschaft zu denken ist. Levene stützt sich dabei vor allem auf Anthony Giddens, der den Staat in seiner systemischen Relation zu anderen Nationalstaaten betrachtet. Zu einem "Genozid" kann es dieser Analyse gemäß kommen, wenn Staaten auf dem Pfad einer raschen "Modernisierung" Bevölkerungsgruppen ins Visier nehmen, die sie als Bedrohung oder Behinderung ihres Willens zur Macht empfinden. Mark Levene, "Why is the 20th Century the Century of Genocide?", Journal of World History, Bd. 11, Nr. 2, 2000, S. 305-336. Der amerikanische Politologe Manus Midlarsky leitet aus seiner vergleichenden Studie über die Genozide an den Armeniern, den Juden und den Tutsi eine eher funktionale Erklärung ab. Ihm zufolge kann es Massaker großen Stils nicht geben, solange die genozidalen Staaten nicht vom Wohlwollen oder wenigstens der Passivität anderer Staaten profitieren (so des Deutschen Reichs im Fall der Türkei, des Vatikans im Fall des Dritten Reichs und Frankreichs im Fall Ruandas). Es ist gerade die Nichtintervention seitens eines Dritten (hier auf internationaler Ebene), der den Betreibern des Genozids freie Bahn läßt. Manus I. Midlarsky, The Killing Trap. Genocide in the Twentieth Century, Cambridge 2005. Dieser Interpretationsansatz hilft auch, die Dynamik der ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien der 1990er Jahre zu verstehen. Das Massaker von Srebrenica (13. bis 15. Juli 1995) ist zweifellos das tragischste Beispiel für die Passivität der internationalen Gemeinschaft im Laufe dieses Krieges.
Doch kann dieses Zusammenspiel nationaler und internationaler Faktoren allein nicht erklären, wann es zur Tat kommt. Vor allem der Faktor Krieg ist zu relativieren, denn es hat großangelegte Massaker ohne den Hintergrund eines erklärten Kriegs gegeben, denen Paul Bartrop jüngst eine Untersuchung widmete. Paul Bartrop, "The relationship between war and genocide in the twentieth century: a consideration", Journal of Genocide Research. Bd. 4, Nr. 4, 2002, S. 519-532. Man denke nur an die große Hungersnot der Jahre 1932/1933, mit der Stalin die ukrainischen "Kulaken" auslöschen wollte. In diesem Fall stand die Überzeugung der Sowjetmacht, einen "totalen" Krieg gegen einen "absoluten Feind" (die "Kulaken") zu führen, im Mittelpunkt des Vernichtungsprozesses. Sollte man also bei einem begünstigenden, jedoch nicht ausschlaggebenden internationalen Kontext in der Ideologie der Henker die erste und auslösende "Ursache" von extremer Gewalt und Massakern sehen?
Ideologien, Mythen und Repräsentationen des Feindes
Ohne Zweifel bietet der von den Machthabern (oder den nach Macht strebenden Gruppen) propagierte ideologische Diskurs in einer schweren Krisensituation eine "Lektüre" dieser Situation an, benennt die "Bedrohungen" und ruft zur kollektiven Mobilisierung mit dem Ziel ihrer Elimenierung auf. So unterstreicht René Lemarchand in seiner vergleichenden Studie zu den Fällen Kambodscha, Bosnien und Ruanda durchaus das Gewicht ideologischer Faktoren, ob sie nun marxistischleninistisch, nationalistisch oder als pervertierte Version von Demokratie auftreten. René Lemarchand, "Comparing the Killing Fields: Rwanda, Cambodia and Bosnia", in: Steven L.B. Jensen (Hrsg.), Genocide: Cases, Comparisons and Contemporary Debates, Kopenhagen 2003, S. 141-173. Er betont jedoch zugleich, daß derlei Ideologien selten einen tiefgehenden Einfluß auf die Massen ausüben, zumal wenn sie ausländischen Ursprungs sind; es sei denn, ihre Begrifflichkeit würde radikal transformiert und der örtlichen Kultur angepaßt. Diese Re-Interpretation, also die Fabrikation von Mythen, die zur Geschichte des jeweiligen Landes passen, erlaubt die "Verpflanzung" der Ideologie in die lokale Kultur. Aus diesem Grund ist das Studium der Geschichten, Gerüchte und Überlieferungen einer Kultur, wie es Béatrice Pouligny vorschlägt, wichtig, um die Massaker zu verstehen, die sich in ihr zugetragen haben. Beitrag im Rahmen der Forschungsgruppe CERI, "Faire la paix. Du crime de masse au peacebuilding" (8. Februar 2001); vgl. www.ceri-sciences-po.org. Der von Alexander Hinton verfolgte anthropologische Ansatz zielt in die gleiche Richtung. Vgl. Alexander L. Hinton (Hrsg.), Genocide. An Anthropological Reader, Malden, MA/Oxford 2002; sowie ders., Annihilating Difference. The Anthropology of Genocide, San Francisco 2002. Vgl. auch Hintons Beitrag in Mittelweg 36, 6/2006. Indem er ins Imaginäre eintaucht, erhält der ideologische Diskurs seine geschichtliche und emotionale Resonanz.
Was sich hier geradezu in Reinform vollzieht, ist ein Prozeß der Identitätsbildung, wie ihn die politische Soziologie beschreibt. Die identitätsbezogene Erzählung, betont Denis-Constant Martin, "erlaubt es, in 'modernen' Situationen der Verwerfung und des abrupten Wandels, sei er nun materieller oder moralischer Natur, seine Angst in Worte zu kleiden und sie im selben Zug zu lindern, indem mittels vertrauter -- historischer, territorialer, kultureller oder religiöser -- Bezugsgrößen all dem Sinn verliehen wird, was keinen mehr zu haben scheint." Denis-Constant Martin, Cartes d'identité. Comment dit-on "nous" en politique?, Paris 1994, S. 31f. Diese "Identitätsverkündung" ist es wohl, die, falls sie sich immer weiter radikalisiert, synonym ist mit der Logik des Massakers. Sie mündet in eine antagonistische Polarisierung zwischen einem "Wir" und einem "Sie", wobei die Bekräftigung des "Wir" impliziert, daß "Sie" vernichtet werden müssen. Kurz gesagt, wird das Massaker im Namen der Vision eines noch zu konstruierenden oder eines zu verteidigenden kollektiven Selbst begangen -- auf der Grundlage von Ressentiments, Angst oder Rachegelüsten.
Die Identitätskonstruktion impliziert zwei Weisen, von "uns" und dem "Feind" zu sprechen. Der Diskurs über das Eigene ist erstens häufig einer der Reinheit, ein Thema, das ebenso mit den Mitteln einer rassistischen oder nationalistischen Ideologie ausbuchstabiert werden kann wie mit Hilfe einer politischen Doktrin (etwa dem Marxismus-Leninismus) oder einer religiösen Lehre (etwa dem Islamismus). Dieser Diskurs der Reinheit bedient sich unübersehbar einer Rhetorik der Verunreinigung und des Schmutzes. Das kollektive Selbst erscheint dabei als ewiges, unsterbliches "Selbst", das es wiederzuerlangen gilt -- womit ihm mythische Qualität zuwächst.
Diese Bekräftigung des "Selbst" kann eine Reaktion auf die Moderne und den Wandel sein, die den Rahmen für einen Rückzug und kollektive Sicherheit bietet: "Wir sind unter uns", abgesetzt von einem "anderen", einem "Nicht-Selbst". Führt der Prozeß der Identitätsbildung schließlich zur Tat, bewirkt dieser Übergang seinerseits eine Verstärkung der Identitätskonstruktion. In "ihrer" Vernichtung liegt der konstitutive "Beweis" des "Wir". Zu töten heißt demnach nicht nur, zu reinigen, sondern auch, sich selbst zu reinigen. So erklärt sich das Vokabular der Reinigung und des Säuberns, das sich bei der Religion (rituelle Reinigung), bei der Kriegführung (Gelände säubern) und der Medizin (Abtötung von Keimen) bedient.
Zweitens speist sich der Diskurs über den zu vernichtenden anderen aus einer Rhetorik der Bedrohung, die dieser vorgeblich darstellt. Ob diese Bedrohung nun wie im Fall der Juden fiktiv oder wie im Fall der Angriffe durch die FPR-Tutsi real ist, der zu vernichtende andere muß auf jeden Fall Furcht einflößen, weil es dieses Gefühl ist, das seine Vernichtung rechtfertigt. Deshalb stoßen wir regelmäßig auf das Motiv der Verschwörung, die "Sie", die gefährlichen anderen, gegen "Uns", die wir eine paranoide Repräsentation von ihnen entwickeln, aushecken. Unübersehbar (aber nicht auf sie beschränkt) ist dieses Motiv in der Vorstellung vom 'absoluten' Feind, wie sie totalitäre Regime ausbilden. Ein solcher Prozeß ist in erster Linie imaginärer Natur: "Weil sie uns töten wollen, töten wir sie, um ihnen zuvorzukommen." Alles spielt sich dann ab, als handele es sich um ein akutes Sicherheitsproblem: Derjenige, der im Begriff ist, ein Mörder zu werden, präsentiert sich als Opfer. Sein Zerstörungswerk erscheint als Vorbeugungsmaßnahme, die das Überleben seiner Gruppe sichern soll.
Diese Rhetorik der Bedrohung und Verschwörung wird um eine Rhetorik der Entmenschlichung des 'Feindes', genauer: seiner Vertierung, ergänzt. Ob in Afrika, Asien oder Europa, die Opfer werden als primitive "Krankheitserreger", "Insekten", "Ratten" oder "Vieh" beschrieben. Ist diese zoologische Repräsentation des Feindes (die man auch im Krieg auf dem Schlachtfeld findet) nur eine "Vorbereitung" dafür, seinesgleichen zu massakrieren? Oder handelt es sich um eine Rationalisierung, die der Henker in situ oder a posteriori entwickelt, um sich davon zu überzeugen, daß seine Opfer bloß Tiere sind? Für eine Antwort auf diese Frage fehlen uns ausreichende empirische Studien zum Vokabular der Henker vor und während des Massakers.
Unabhängig davon gilt es zwei grundlegende Feindfiguren zu unterscheiden. Die erste ist die Figur des Verdächtigen, eines anderen mit zwei Gesichtern: Er gibt sich als Revolutionär aus, ist in Wirklichkeit aber ein Bourgeois. Er spricht sich für den Staat aus, gehört tatsächlich jedoch zur Guerilla. Kurz, der Verdächtige versteckt eine geheime und gefährliche Seite, die seine unmittelbare Erscheinung maskiert. Wie hatte es Pol Pot im Krieg gegen die vietnamesischen Kommunisten formuliert? "Man muß den vietnamesischen Geist im Körper der Khmer eliminieren." Die zweite Figur ist die eines überschüssigen anderen, eines durch und durch "Fremden", der nicht dasselbe "Blut", nicht dieselben Sitten usw. hat wie "Wir". Das "Überschüssige" an diesem anderen ist auch quantitativ zu verstehen: Er tritt in zu großer Zahl auf und hat die Tendenz, sich rasant zu vermehren, zu wimmeln... Diese beiden Feindfiguren, die sich in ein und derselben historischen Situation ineinanderschieben können, lösen unterschiedliche Vernichtungsdynamiken aus. Im Fall der Figur des Verdächtigen besteht das Hauptziel darin, die fragliche Gruppe politisch zu unterwerfen; im Fall der Figur des überschüssigen anderen darin, ihre Identität auszulöschen.
All dies besagt, daß das Massaker, bevor es zu jenem entsetzlichen physischen Akt wird, seinen Ausgang von einem mentalen Prozeß nimmt, von der Vision eines auszulöschenden anderen. Wie aber ist die praxisrelevante Macht dieses Imaginären der Vernichtung einzuschätzen? In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften schreibt man der Repräsentation das Vermögen zu, Realität zu schaffen; man denke an die "sich selbst erfüllenden Prophezeiungen" Robert Mertons. Soll man also annehmen, daß dieses politische Imaginäre der Zerstörung eines "anderen", das sich in einem öffentlichen Diskurs herauskristallisiert, ausreicht, damit zur Tat geschritten wird?
Öffentlicher Diskurs, Beschluß und Organisation eines Massakers
Wir stehen hiermit vor der Frage, wo in dem Prozeß,der zurTat führt, die Vernichtungsabsicht anzusiedeln ist. Um ein Verbrechen zu beurteilen, sucht der Richter stets die Absicht des Kriminellen nachzuweisen. Handelte er in der Vorstellung, zu morden? Handelte er mit Vorsatz? Der Begriff der Intention steht auch im Mittelpunkt der UN-"Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords" von 1948. Artikel 2: "In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören." Doch ist seine Verwendung in den Sozialwissenschaften nicht unproblematisch. Gewiß kann man von der Absicht einer Person sprechen, um deren Geisteshaltung in bezug auf eine bestimmte Handlung in einem bestimmten Moment zu beschreiben. Es ist freilich unangemessen, denselben Ansatz auf das Funktionieren einer Machtstruktur anzuwenden: Auch wenn uns alltägliche Redewendungen oftmals dazu verführen, genau dies zu tun, wenn es etwa heißt: "Frankreich beabsichtigt..." Dies würde bedeuten, ihre Funktionsweise zu "psychologisieren", statt, wie es immer vorzuziehen ist, eine Politik zu analysieren und die organisatorischen Mittel zu beschreiben, mit der sie umgesetzt werden soll.
Davon abgesehen setzt der Begriff der Absicht ein zu simples Verständnis des Übergangs zur realen Tat voraus. Er scheint eine Abfolge Gedanke-Handlung zu implizieren, die vom Projekt der Vernichtung eines Kollektivs zu dessen konkreter Umsetzung übergeht: Man formuliert eine Idee, arbeitet einen entsprechenden Plan aus und setzt ihn dann in die Tat um. Ein solcher Ansatz aber würde von vornherein das grundsätzliche Rätsel zum Verschwinden bringen, das mit Massakern großen Ausmaßes einhergeht: das ihrer konkreten Durchführung. Wie Claude Lanzmann hinsichtlich der Shoah sehr treffend formulierte: "Zwischen dem Wunsch zu töten und der Tat selbst klafft ein Abgrund." Claude Lanzmann, "Les non-lieux de la mémoire", Nouvelle revue de psychoanalyse, Nr. 33, 1986, S. 20. Die Umsetzung von Vernichtungskampagnen gegen Zivilisten mit dem Begriff der Absicht anzugehen, läuft Gefahr, die ganze Komplexität der Entwicklung solcher Phänomene zu übergehen. Aber es gibt doch, wird man einwenden, Leute, die ein Massaker beschließen, die entsprechende Befehle erteilen, und andere, die sie ausführen... Wie können wir an diesem entscheidenden Punkt weiterkommen?
Meiner Ansicht nach wirft der Begriff der Absicht drei Arten von Problemen auf, die die öffentlichen Diskurse über den Feind, die Entscheidung für ein Massaker und seine konkrete Organisation betreffen.
Die Analyse des öffentlichen Diskurses schließt an die oben erwähnte Konstruktion von Feindfiguren an. Als der Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, im Oktober 1991 vor dem bosnischen Parlament erklärte, die Muslime riskierten ihr Verschwinden, sollten sie sich für die Unabhängigkeit entscheiden, beschwor er eindeutig das Projekt einer ethnischen Säuberung, wenn nicht eines Genozids herauf. Damit war aber nicht im mindesten gesagt, daß zu genau diesem Zeitpunkt ein solches Projekt fertig in der Schublade gelegen hätte. Das gleiche ließe sich über Hitlers berüchtigte Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 sagen, in deren Verlauf er "die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa" prophezeite. Hieraus abzuleiten, die "Endlösung" sei bereits beschlossen, wenn nicht sogar geplant gewesen, wäre ein grober Fehler in der historischen Deutung. Vielmehr verstärken sich abhängig von einer außerordentlich komplexen Situation und im Kontext eines totalen Kriegs "die allgemeinen ideologischen Ziele und die taktischen Entscheidungen [...] gegenseitig und begünstigen immer radikalere Vorgehensweisen". Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, München 1998. Im Moment ihrer Verkündung können solche Erklärungen nicht wörtlich genommen werden: Die öffentlich formulierte Absicht ist noch ohne greifbare Übersetzung in die Welt der Tatsachen.
Aber natürlich handelt es sich aufgrund der extremen Gewalt, die sie gegenüber einem öffentlich beim Namen genannten Feind zum Ausdruck bringen, nicht um triviale Bekundungen. Derartige von politischen Führern -- und im Falle Deutschlands gar vom Staatsführer -- vorgebrachte öffentliche Diskurse legitimieren im voraus die Entfesselung immer radikalerer Gewalt gegen besagten "Feind". Mit anderen Worten schlägt das Aufkommen eines solchen unverblümten Gewaltdiskurses "den Ton an", gerade weil er öffentlich und "ohne falsche Scham" daherkommt. Er erzeugt faktisch ein Klima der Straflosigkeit und stachelt gerade dadurch zum Mord an. Der öffentliche Haßdiskurs geht im übrigen nicht nur auf politische Führer zurück, sondern auch auf Intellektuelle und Publizisten, Journalisten und Kirchenvertreter, deren Schriften und Äußerungen die Gewalt erklären, rechtfertigen und legitimieren. Ihre öffentlichen Erklärungen bieten all jenen, die an den Massakern beteiligt sein werden, im voraus einen Rahmen zur Auslegung und Legitimation ihrer Taten. Die Rolle der Medien ist hier von besonderer Bedeutung, wie verschiedene Studien zu Ruanda und Ex-Jugoslawien gezeigt haben. Man sollte die Rolle der Haßpropaganda jedoch auch nicht überbewerten: Es ist keinesfalls bewiesen, daß sie allein und aus sich heraus den Übergang zur Tat herbeiführt. Trotzdem steht fest, daß die Propaganda dazu beiträgt, eine Art semantischer Matrix zu erzeugen, die der zunehmenden Dynamik der Gewalt, welche dann zum Sprungbrett ins Massaker wird, Sinn verleiht.
All dies sagt uns noch nichts über den Zeitpunkt, an dem ein Massaker beschlossen wird. Wann wird dies entschieden und von wem? Hier geht es nicht mehr darum, anhand der Diskurse oder Schriften der Akteure jene Prozesse zu bestimmen, die zum Umschlag ins Massaker führen, sondern darum, den Augenblick der Entscheidung als kritischen Moment auf dem Weg zur Tat zu identifizieren. Den Entscheidungsprozeß zu studieren heißt, der Frage der Absicht auf historischer Grundlage nachzugehen. Diese Herangehensweise hat sich für die Erforschung der Shoah als fruchtbar erwiesen, wenn auch die jüngsten deutschen Forschungen ebenso wie die Bücher der Historiker Christopher Browning und Mark Roseman Christopher Browning, Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter, Frankfurt am Main 2001; Mark Roseman, Wannsee. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte, Berlin 2002. Vgl. Dominique Vidal, Les historiens allemands relisent la Shoah, Brüssel 2002. die ganze Komplexität des Entscheidungsprozesses aufgezeigt haben. In vielen Fällen jedoch sind schriftliche Dokumente, die erlauben würden, die Entscheidung zur Tat zweifelsfrei zuzuschreiben und zu datieren, rar, oder sie existieren überhaupt nicht. Aus gutem Grund: Die Verantwortlichen hinterlassen ungern Spuren. Das Resultat sind wiederholte Debatten über die "wahren" Absichten der Entscheidungsträger, über das vermutliche Datum der Entscheidung und natürlich über die nachträgliche Leugnung der Realität der Ereignisse. Die Massaker an den Armeniern von 1915/1916 sind hierfür ein gutes Beispiel. Nachdem der Historiker des Osmanischen Reichs Gilles Veinstein deren "genozidalen" Charakter bestritten hatte, sah er sich lebhafter Polemik ausgesetzt, darunter einer Erwiderung von Yves Ternon. Vgl. Gilles Veinstein, "Trois questions sur un massacre", L'Histoire, Nr. 187, April 1995, S. 40f.; Yves Ternon, Du négationisme. Mémoire et tabou, Paris 1999.
Am Ende läßt sich der Wille derjenigen, die ein Massaker beschließen, noch am besten durch seine praktische Organisation belegen, das heißt durch die Bereitstellung von Mitteln und Personal zur physischen Auslöschung eines Teils der Bevölkerung. Man erkennt hieran die Bedeutsamkeit einer Methode historischer Forschung, die bereits in zahlreichen Fallstudien eingeübt worden ist: das Wie beschreiben, um das Warum zu verstehen; eine Vorgehensweise, die Christine Vidal für die Erforschung des Genozids in Ruanda als einzige pragmatische Lösung empfiehlt, um sich von ideologischen Vorannahmen frei zu machen.
Die Organisation eines Massakers zu studieren darf jedoch nicht zu der Annahme verführen, es sei in allen Aspekten vorausgeplant gewesen. Manche Autoren wollen uns weismachen, die kriminellen Täter hätten alles berechnet und geplant. Diese Vorstellung verdankt sich einmal mehr dem juridischen Ansatz, wonach zu beweisen ist, daß ein Massaker das Ergebnis eines abgestimmten und koordinierten Plans war. Wenn die Dynamik des Zerstörungswerks auch von einem zentralen Impuls seitens jener, die es beschließen und organisieren, ausgelöst wird, so ist sie doch auch durch Improvisationen geprägt. Es ist zum Beispiel bekannt, daß die erste Vernichtungskampagne der Nazis, die sich gegen die geistig Behinderten in Deutschland richtete, von unglaublichen 'Fehlern und Ungeschick' begleitet war. Wie andere Formen kollektiven menschlichen Handelns können auch die Organisationsabläufe zur Vernichtung von Zivilpersonen den unterschiedlichsten Zufällen, Abwandlungen, Verzögerungen und abrupten Beschleunigungen unterliegen.
Eine Konstruktion von oben und von unten
Führt aber die Auffassung vom Prozeß der Vernichtung als gewollter Abfolge von der Entscheidung über die Organisation bis hin zur Umsetzung nicht zu einem ganz verzerrten Bild des tatsächlichen Geschehens? Hier leitet ein hierarchisches, von oben nach unten verlaufendes Schema das Verständnis der Dynamik an. Ein solcher mechanischer, funktionaler Ansatz trägt indes nicht im mindesten dazu bei, das Rätsel der sozialen Beteiligung am Massaker zu verstehen. Dieses allein als eine befohlene Aktion zu sehen, verhindert es, der Frage nach dem Ausmaß der sozialen Mittäterschaftoder gar der kollektiven Zustimmung nachzugehen. Es mag daher nützlich sein, einen ganz anderen Ansatz zu entwickeln und Massaker "von unten", vom Grund der Gesellschaft aus zu untersuchen. Könnte dies nicht -- unabhängig von der Macht eines Staates, der über die Mittel für massenhaftes Töten verfügt -- eine der fruchtbarsten Methoden sein, um das schiere Ausmaß mancher Massaker zu verstehen?
Diese Frage läßt sich bereits mit der Untersuchung der öffentlichen Meinung angehen. Man muß nämlich zwischen dem Wirken eines Propagandaapparats, der einen bestimmten Feind dämonisieren soll, und der tatsächlichen öffentlichen Zustimmung zu dessen ideologischer Rhetorik unterscheiden. Die Untersuchung der öffentlichen Meinung erlaubt gerade, eine Vorstellung von der Geisteshaltung einer Bevölkerung zu gewinnen, angefangen mit ihrer Empfänglichkeit für jene Propaganda. Seit den 1950er Jahren haben Arbeiten über Nazideutschland gezeigt, daß der Genozid ohne stillschweigende Billigung der Judenverfolgung nicht hätte stattfinden können. Gerade das Ausbleiben einer öffentlichen Reaktion sahen die Nazis als Möglichkeit, in ihrer Verfolgung der Juden eine weitere Schwelle zu überschreiten. Diese Hypothese ist von jüngeren Studien bestätigt worden, wenngleich detailliertere historische Forschungen einige Differenzierungen ermöglicht haben. Ian Kershaw, Popular opinion and political dissent in the Third Reich: Bavaria 1939-1945 [1983], Oxford 2002. Anders gesagt, spielt in diesem Fall nicht die "internationale Gemeinschaft" (siehe oben) die im Verhältnis zwischen dem Henker und seinen Opfern so bedeutsame Rolle des Dritten, sondern das, was ich als "öffentliche Meinung" bezeichnen werde. Wenn sich also dieser Dritte nicht nur passiv verhält, sondern dem gewaltsamen Vorgehen stillschweigend oder sogar offen zustimmt, wird es um so wahrscheinlicher, daß es wirklich zu einem Massaker kommt. Ein solches Defizit kann einzig durch die Intervention einer "internationalen" öffentlichen Meinung von außen ausgeglichen werden -- durch den Versuch, über verschiedene NGOs die Verantwortlichen anzuprangern und den Opfern beizustehen und sie zu unterstützen. Jener Dritte, der am Entstehen des Vernichtungsprozesses teilhat, kann sehr wohl ein unmittelbarer Nachbar sein, was uns über den Begriff des "sozialen Bandes" nachzudenken zwingt. Denn hier ist die zuvor dargestellte Perspektive völlig auf den Kopf gestellt: Statt im Massaker die Zerstörung der sozialen Bande zwischen den Opfern und ihrer unmittelbaren Umgebung zu sehen, lautet die Hypothese nun umgekehrt, daß zur Tat geschritten wird, weil die sozialen Bande mit den prospektiven Opfern vorgängig zerschnitten wurden.
Es genügt also nicht mehr, allein von einer Krise des Staats auszugehen. Über das Studium der sozialen und gemeinschaftlichen Bindungen muß vielmehr grundlegender noch eine "Krise der Gesellschaft" selbst in den Blick genommen werden. Auf diese Weise läßt sich vielleicht erklären, warum Massaker bei weitem nicht immer "von oben" befohlen werden, sondern genausogut aus der Initiative einzelner lokaler Akteure hervorgehen können. In diesem Lichte gilt es etwa die von Polen selbst begangenen Massaker an Juden, wie sie Jan Gross am Beispiel des Dorfes Jedwabne untersucht hat, Jan T. Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001. oder die von Hutu an ihren Tutsi-Nachbarn (und manchmal an Mitgliedern der eigenen Familie) begangenen Massaker zu analysieren. Im Falle Bosniens hat Xavier Bougarel gezeigt, wie die bosnische Gesellschaft angesichts der Auflösung des jugoslawischen Bundesstaats mit dem Problem konfrontiert war, den Bürgerstatus neu zu definieren; dies hatte insbesondere zur Folge, daß die aus dem Osmanischen Reich ererbten Regeln guter Nachbarschaft zwischen verschiedenen Gemeinschaften (komsiluk) in Frage gestellt wurden. Damit waren Bougarel zufolge die Bedingungen für ein Abgleiten in "intime Verbrechen" gegeben: für Vergewaltigungen, die Zerstörung von Häusern und Massaker an ihren Bewohnern. Xavier Bougarel, Bosnie. Anatomie d'un conflit, Paris 1996. Wahr bleibt aber auch, daß erst der Kriegskontext die potentielle, vielfach von alten Ressentiments zwischen Gemeinschaften und Individuen genährte zwischennachbarschaftliche Gewalt in der Praxis des Massakers "auskristallisiert" hat. So war das von Teilen der jugoslawischen Armee geförderte Eindringen von Milizen wie der Arkans in Bosnien fast immer auslösender und verstärkender Faktor der Gewalt.
So wird man das Massaker zugleich "von oben" und "von unten" denken und die Analyse auf den je spezifischen historischen Kontext beziehen müssen. Soweit es (durch Beschluß und Organisation) einen "Impuls von oben" für den Vernichtungsprozeß gibt, gilt es herauszufinden, wie die lokalen Akteure diesen zentralen Impuls umsetzen und weiterleiten. Man wird die Geschichte der Massaker daher am besten regionalspezifisch untersuchen, wie es das ausgezeichnete Buch von Alison Des Forges über die ruandischen Provinzen Gikongoro und Butare vorführt, und die besondere Geschichte einzelner Regionen, die lokalen Machtstrukturen, den Grad an Zusammenhalt zwischen Gruppen und Gemeinschaften, die Geographie und die demographische Entwicklung analysieren. Alison Des Forges, Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda, Hamburg 2003. Auch die nicht weniger bemerkenswerte Schilderung der (von kroatischer Seite betriebenen) ethnischen Säuberung in Bosnien-Herzegowina, die der niederländische Anthropologe Marc Bax vorgelegt hat, ist beispielhaft in ihrer Berücksichtigung der Rolle lokaler Akteure ("Dorfmilizen") bei der Entfesselung von Massakern. Marc Bax, "Warlords, priests and the politics of ethnic cleansing: a case study from rural Bosnia-Herzegovina", Ethnic and Racial Studies, Bd. 23, Nr. 1, 2000, S. 1-36.
Letztlich handelt es sich bei Massakern um komplexe Ereignisse, die gleichermaßen von zentralen wie von lokalen Akteuren konstruiert werden, wobei die einen wie die anderen ihr zerstörerisches Verhalten an die Zustimmung oder die Intervention naher oder ferner Dritter anpassen. Zusammengefaßt sind Massaker Gemeinschaftsprodukte von Wille und Kontext, wobei die Entwicklung des letzteren ersteren beeinflussen kann. Je nach den Reaktionen der Opfer (Passivität, Widerstand...) und dem Kontext, in dem sie operieren, können die Verursacher des Vernichtungsprozesses ihr ursprüngliches Vorhaben situativ anpassen oder ihm eine andere Richtung geben. Sie riskieren auch, einen Prozeß der Flucht nach vorne auszulösen, bei dem nach Ermessen lokaler Akteure Personenkreise "anvisiert" werden, die ursprünglich gar nicht vorgesehen waren. Mit Blick auf das Frankreich des Vichy-Regimes wäre in diesem Zusammenhang etwa an Pierre Laval zu denken, der nach der "Vel-d'Hiv-Razzia" von 1942 aus eigener Initiative vorschlug, die Kinder jüdischer Eltern gleich mit zu deportieren, was die Nazis gar nicht verlangt hatten. In anderen Kontexten kann die Flucht nach vorne eine Ausbreitung von Massakern bewirken, wie dies im Bosnienkrieg der Fall war, wo sich am Ende alle Gemeinschaften an Praktiken der ethnischen Säuberung beteiligten, die serbische wie die kroatische und die muslimische. All dies bekräftigt, daß man das Massaker als einen dynamischen Prozeß verstehen muß, der gewiß organisiert ist, zugleich aber auch vergleichsweise willkürlichen Veränderungen unterliegt.
Gewöhnliche Bestien oder freiwillige Vollstrecker?
Die bisherigen Ausführungen beinhalten noch keine Erklärung für den Übergang zur Tat auf der Ebene des Individuums, des Mörders. Gewiß impliziert der hier vorgestellte Ansatz einer Untersuchung des Vernichtungsprozesses, daß stets verschiedene Akteurtypen für ein Massaker verantwortlich sind: diejenigen, die die Entscheidung fällen, aber selbst nicht töten; die Propagandisten, die auch nicht töten; die Organisatoren, die selten töten und schließlich die Vollstrecker, die eigentlichen "Täter". Gerade weil diese Vollstrecker diejenigen sind, die wirklich zur Tat schreiten, müssen sie eigens analysiert werden. In ihrem Verhalten und ihren Motiven bündeln sich nämlich viele der bereits angesprochenen Probleme. Eine solche Untersuchung muß freilich die verschiedenen "Positionen" der Mörder imVernichtungsprozeß unterscheiden. Mindestens vier Kategorien müssen hier auseinandergehalten werden: Soldaten, Polizisten, Milizen und Zivilpersonen. Qualitativ überzeugende Studien sind für jede dieser Kategorien selten; am ehesten sind noch Militär und Polizei erforscht. Zudem beschränkt sich das Gros der Arbeiten auf die Judenvernichtung.
Die These des Historikers Daniel Goldhagen, der für das Deutschland der 1930er Jahre einen starken eliminatorischen Antisemitismus konstatiert, spricht beispielsweise der Ideologie einen entscheidenden Einfluß zu: Goldhagen zufolge waren jene, die die Juden umbrachten, zutiefst von der Notwendigkeit ihres Tuns überzeugte, "willige Vollstrecker". Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. Diese monokausale Erklärung hat indes lebhafte Kritiken seitens der Historiker hervorgerufen, die Jean Solchany in einem instruktiven Überblick zusammengestellt hat. Jean Solchany, "De la régression analytique à la celebration médiatique. Le phénomène Goldhagen", Revue d'histoire moderne et contemporaine, Bd. 44, Nr. 3, Juli/September 1997, S. 514-523. In seinem Meisterwerk über ein deutsches Polizeibataillon, das in Polen Juden am Fließband massakrierte, zeichnet Christopher Browning ein komplexeres Bild der Variablen, die das Verhalten jener mörderischen Polizisten "vor-formatierten". Vier Faktoren möchte ich herausheben. Der erste betrifft die Autoritätshörigkeit im Sinne des Psychologen Stanley Milgram, die diese Gruppe von Polizisten de facto zu Judenmörder gemacht und ihre Bewegungen, ihre genauen Ziele usw. bestimmt hat. Gleichwohl ist der Faktor des Gehorsams zu relativieren, stellt er doch für gewöhnlich eine Rechtfertigung dar, die von den Schlächtern in demMoment in Anspruch genommen wird, wo sie als Angeklagte vor Gericht stehen. Noch fragwürdiger wird diese Argumentation, insofern die wenigen Männer, die eine Teilnahme an den Morden verweigerten, keinerlei Sanktionen seitens ihrer Vorgesetzten ausgesetzt waren. Das Verhalten der Mörder kann sich also nicht allein aus ihrer 'vertikalen' Stellung in einem akzeptierten hierarchischen System herleiten. Man muß auch dem 'horizontalen Funktionieren' der Mörder Rechnung tragen: Viele von ihnen haben sich im Moment der Tat dem Druck der Gruppe gebeugt. Dieser Gruppenkonformismus trägt dazu bei, abweichendes Verhalten zu begrenzen, indem er das Modell eines "Männerbunds" zur Geltung bringt, dessen Stärke sich gerade an der Fähigkeit bemißt, Zivilisten zu ermorden. Daß man die anderen, die "die Drecksarbeit machen", "nicht im Stich lassen" darf, scheint hier am Ende ein entscheidenderer Mechanismus zu sein als der reine Befehlsgehorsam. Die freiwillige Beteiligung an den Morden setzt darüber hinaus eine völlige Nicht-Identifikation mit den Opfern voraus, die gänzlich aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Es ist diese Leugnung der Menschlichkeit des zu vernichtenden anderen, die im Fall der deutschen Polizisten durch jahrelange antisemitische und nationalistische Propaganda vorbereitet worden ist. All diese Elemente verhindern freilich nicht den traumatisierenden psychologischen "Schock", den ihr erstes Massaker bei den Mördern selbst bewirkt. Aus diesem initialen Schock erwächst die Brutalisierung der Männer, nicht umgekehrt. Und wenn es ihnen so gelingt, sich "abzuhärten", wird das Morden zur Gewohnheit: "Genau wie im Kampf folgte (...) auf den ersten Schrecken die Routine, so daß das Töten von Mal zu Mal leichter fiel." Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 211.
Dieser Analyserahmen läßt sich jedoch nicht auf alle Massaker anwenden. Er kann sicherlich zum Verständnis des Verhaltens von Polizeioder Militäreinheiten beitragen, deren Auftrag in Massenexekutionen besteht. Für eine Untersuchung des Wirkens von Milizen oder des Verhaltens von Zivilisten, die sich mehr oder weniger spontan an Morden beteiligen, ist er allerdings kaum zu gebrauchen. Zudem waren die von Browning erforschten Polizisten eher reiferen Alters (viele von ihnen in den Vierzigern) und folglich nicht repräsentativ für viele zeitgenössische Situationen. Tatsächlich sind die Mörder, sei es in Kambodscha, Ruanda oder Bosnien, im allgemeinen wesentlich jünger. Sie tragen keine Verantwortung für eine Familie, wenn es sich nicht gar um Jugendliche handelt. So variieren die Prozeduren zur Rekrutierung von Massenmördern und deren Motive von Situation zu Situation teilweise erheblich. Machthaber können sich ebenso auf von ihren eigentlichen Aufgaben abweichende Armee- oder Polizeieinheiten stützen wie auf spontan, einzig zum Zwecke des Massakrierens und Plünderns gebildete Gruppen und Milizen. So scheuen einige Machthaber nicht davor zurück, gewöhnliche Kriminelle aus dem Gefängnis freizulassen -- wie beim Genozid an den Armeniern und den ethnischen Säuberungen in Bosnien geschehen -- und sie mit dem ausdrücklichen Auftrag zu versehen, Zivilisten zu töten und/oder zu vertreiben, wobei sie zum Lohn deren Hab und Gut plündern können. Solche ökonomischen Beweggründe scheinen mitunter für das Verhalten der Mörder so entscheidend, daß man in bezug auf Ruanda gar vom Genozidgeschäft gesprochen hat. In anderen Fällen jedoch kommt es so gut wie gar nicht zur Aneignung von fremdem Besitz. Die Roten Khmer in Kambodscha beispielsweise verabscheuten die kapitalistischen Konsumgüter und lehnten darüber hinaus das Prinzip des Privateigentums ab.
Diese Vielfalt von Variablen, die im einen, aber nicht im andern Fall beeinflussen, wann ein Individuum zur Tat schreitet, ist für den Forscher, der allgemeine "Gesetze" aufstellen will, verwirrend. Was für eine Person in einem bestimmten Moment zutrifft, gilt nicht für eine andere. Tatsächlich können diejenigen, die ein Massaker begehen, von Beweggründen geleitet sein, die mit dessen politischer Legitimation in keinem Zusammenhang stehen. Sie verfolgen vielmehr ihre ganz eigenen Interessen. Fest steht allein -- und aus moralischer Perspektive ist dies ziemlich beunruhigend --, wie leicht Menschen dazu gebracht werden können, ihresgleichen zu ermorden, sobald die sozialen Rahmenbedingungen die Tat begünstigen. Um dieses Phänomen zu erklären, haben manche Autoren wie etwa John Steiner zur Metapher des "schlafenden" potentiellen Mörders gegriffen, der in jedem von uns schlummert und in einem geeigneten Kontext aktiviert werden kann, um später erneut in den Zustand der Latenz zurückzukehren. Zygmunt Bauman jedoch hält die psychologische Konzeption des Schläfers für eine "nutzlose metaphysische Krücke", die nichts an dem Faktum ändere, daß die Grausamkeit grundlegend sozialen Ursprungs ist. Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992.
In diesem Sinne bestünde eine ergiebige Forschungsstrategie darin, zu untersuchen, wie ein Individuum in Abhängigkeit von den sozialen und kulturellen Normen des Landes oder der Gemeinschaft, in dem bzw. der es aufgewachsen ist, zum Massenmörder wird. Wie, mit anderen Worten, klettert ein Individuum in einer Gesellschaft, in der das Gesetz den Mord nicht mehr verbietet, sondern zu ihm anstachelt, nach Maßgabe dieser neuen Normen die soziale Leiter empor? Und wie integriert es die von den Machthabern ermutigten Verhaltensweisen in seine eigenen kulturellen Traditionen? Zwei Arten von Arbeiten sind hier besonders relevant. Da ist zunächst das biographische Interview, wie es etwa Gitta Sereny mit Franz Stangl geführt hat, dem ehemaligen Kommandanten der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka. Diese herausragende Arbeit, die nach Abschluß von Stangls Prozeß entstand, Dieses Detail ist wichtig, weil der Interviewte seine Antworten nicht mehr an eine Verteidigungsstrategie anpassen mußte, die seine Strafe hätte mildern können. erlaubt es, das infernalische Räderwerk zu verstehen, in das sich dieser von einem starken sozialen Geltungsdrang getriebene österreichische Polizist einfügte. Gitta Sereny, Am Abgrund. Eine Gewissenserforschung. Gespräche mit Franz Stangl, Kommandant von Treblinka, und anderen, Frankfurt a. Main, Berlin, Wien 1979. Darüber hinaus tragen anthropologische Studien wie die von Alexander Hinton über die Roten Khmer dazu bei, besser zu verstehen, wie bestehende kulturelle Modelle zum "Sprungbrett" für massenhafte Gewalt werden können. Alexander L. Hinton, "Why did you kill? The Cambodian genocide and the dark side of face and honor", Journal of Asian Studies, 1998, S. 93-122. Ein solcher Ansatz überträgt denjenigen von René Lemarchand auf die Ebene des Individuums. So widmet sich Hinton etwa der Geschichte des Khmer-Bauern Lohr, eines ehemaligen Bewachers des zu trauriger Berühmtheit gelangten Folterzentrums Tuol Sleng, der zugibt, eigenhändig etwa 400 Gefangene ermordet zu haben. Einige Zeugen behaupten sogar, daß er in Wirklichkeit an die 2000 Menschen ermordet hat. Hinton versucht Lohrs Verhalten zu erklären, indem er anhand von dessen Entwicklung nachzeichnet, wie die der Khmerkultur eigenen Ehren- und Gehorsamkeitskodizes von einer maoistisch inspirierten Ideologie in Dienst genommen wurden, um ihn dazu zu bringen, seine "Feinde" ohne die geringsten Skrupel zu töten.
Was an den beiden in ganz unterschiedlichen kulturellen Universen verankerten Lebenswegen so verblüfft, ist nicht nur die Kultur des Gehorsams (die in beiden Gesellschaften eine große Rolle spielt), sondern das, was beide Männer über den Vorgang ihres persönlichen Abgleitens in die Gewalt sagen. Ihre persönliche Verantwortung bei der Ausübung eines Massenmords scheinen sie zu vergessen, um nur die Erinnerung an ein persönlich traumatisierendes Ereignis festzuhalten, das auf dem Höhepunkt bzw. zu Beginn dieses Prozesses stattfand. Bei Franz Stangl handelt es sich um den Augenblick, in dem ihn die Nazis 1938 dazu aufforderten, aus der katholischen Kirche auszutreten. Er mußte eine entsprechende Erklärung unterzeichnen, was in seinen Augen ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu seinem endgültigen Sündenfall war -- als hätte er "seine Seele verkauft". Allein in diesem Punkt bekennt er sich zu seiner Verantwortung: "Damit hat alles für mich angefangen." Was Lohr betrifft, so gesteht er Hinton gegenüber zunächst nur, einen oder zwei Menschen getötet zu haben. Auf den ersten Mord kommt er sofort zu sprechen, als hätte diese Tat alle anderen bedingt, alles in Gang gebracht, was noch folgen sollte und wovon er nicht zu sprechen wagt. Die Szene erinnert an einen Initiationsritus: An jenem Tag fragte ihn sein Vorgesetzter in Gegenwart anderer Kameraden, ob er schon einmal einen Menschen getötet habe. Als er die Frage verneinte, bekam er den Befehl, einen Gefangenen hinzurichten. Lohr glaubt, damals nicht in der Position gewesen zu sein, sich dem Befehl zu widersetzen, und während er sein erstes Opfer tötete, wußte er sich von allen beobachtet.
In beiden Fällen bewirkt das Räderwerk, in das sich die beiden Männer begaben, eine Art Dissoziation ihrer Persönlichkeit, die auf einer völligen affektiven Abtrennung von ihren Opfern beruht. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht die Frage, die Lohrs Vorgesetzter ihm unmittelbar nach seiner ersten Tötung stellte: "Hast du ein Herz aus Stein?", was Lohr für sich wie folgt übersetzt: "Ich mußte den Strom der Emotionen unterbrechen. " In Stangls Fall scheint der Prozeß der Distanzierung besonders machtvoll gewesen zu sein. Als Leiter eines Vernichtungslagers hat er den Tod offenbar niemals sehen wollen und in seinem Innern eine psychische Barriere errichtet, die ihm den Horror des Lagers, das er doch selbst befehligte, fernhielt. Durchläuft jemand, der auf diese Weise zum Massenmörder wird, ob nun als Befehlshaber oder Vollstrecker, nicht einen Prozeß psychischen Verfalls, der einer Entmenschlichung gleichkommt?
Sinn und Sinnlosigkeit der Greueltaten
Und schließlich: Wie sind die Greueltaten zu verstehen, die mit Massakern einhergehen? Bestünde das Ziel lediglich darin, massenhaft Zivilisten zu vernichten, ist unbegreiflich, warum man sie zusätzlich leiden läßt, erniedrigt, verstümmelt, bevor man sie tötet. Sehr zu Recht fragt Primo Levi: "Warum diese nutzlose Gewalt?" Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München/Wien 1990. Warum ruft ein Massaker, auch bevor und nachdem es verübt wurde, Grausamkeit hervor? Muß man dieser Frage eher mit einer Analyse "von oben nach unten" nachgehen und beispielsweise die strategische Absicht in den Vordergrund stellen, oder ist eine "von unten nach oben" gerichtete Analyse verlangt, die von der Beziehung Vollstrecker--Opfer ausgeht? Auch hier möchte ich mich für eine dialektische Betrachtungsweise stark machen.
Von oben -- weil es natürlich die Machthaber sind, die die Bedingungen schaffen, unter denen es zu Greueltaten kommt. Vor dem Massaker, und selbst während es stattfindet, ist ihr Hauptwerkzeug die Propaganda. Auch hier stößt man wieder auf die Instrumentalisierung des Imaginären (die schrecklichen Untaten des Feindes werden heraufbeschworen) und die -- je nach Umständen und Sprecher -- mehr oder weniger offene Aufwiegelung, alles zu tun, um sich dafür zu rächen: "Das haben sie uns angetan, also werden wir ihnen dies antun." Auf diese Weise kann das Imaginäre der Grausamkeit rechtfertigen, daß man im Gegenzug gleiches tut, nun aber "in Wirklichkeit": Im Nu ist der Schritt zur Tat vollzogen, gewissermaßen im Übergang vom Phantasma zur realen Handlung.
Die Machthaber wiegeln auch dadurch auf, daß sie die Täter decken, ihnen also zusichern, "außerhalb des Gesetzes" operieren zu können, ohne Repressalien fürchten zu müssen. Dieses Gefühl der Straflosigkeit wird schon durch eine Situation unter Ausschluß der Öffentlichkeit erzeugt, in der das Massaker gewöhnlich stattfindet: Es gibt keine Zeugen. Manchmal wird die Botschaft -- "Ihr könnt tun, was ihr wollt" -- aber auch offen an diejenigen adressiert, die schon als Vollstrecker operieren oder noch im Begriff sind, Täter zu werden. Greueltaten im Rahmen einer Vernichtungskampagne gegen die Zivilbevölkerung können ihrerseits taktische oder strategische Gründe haben. So hat man etwa die Massenvergewaltigungen während des Bosnienkriegs als bewußte Vorgehensweise zum Zwecke der ethnischen Säuberung interpretiert. Die Anthropologin Véronique Nahoum-Grappe spricht in diesem Sinne vom "politischen Gebrauch der Grausamkeit". Véronique Nahoum-Grappe, "L'Usage politique de la cruauté: l'épuration ethnique (ex-Yougoslavie, 1991-1995)", in: De la violence (Seminar von Françoise Héritier), Paris 1996, S. 273-323.
Ein solcher instrumenteller Ansatz reicht jedoch bei weitem nicht aus, um die Greueltaten in ihrer ganzen Komplexität zu verstehen. Man muß sie auch "von unten" analysieren, und sei es, indem man bei den Gerüchten ansetzt, die in einer krisengeschüttelten Gesellschaft im Umlauf sind. Tatsächlich hätte man die obigen Feststellungen zur Rolle der Propaganda gleich auf die Gerüchte, die über den "Feind" im Umlauf sind, münzen können. Ist aus dieser Perspektive die Rolle des Gerüchts in Zeiten des Kriegs und/oder der Massaker an Zivilpersonen wirklich so verschieden von dem, was die Propaganda leistet? Marc Bloch hat dieses Phänomen am Beispiel des Ersten Weltkriegs untersucht, vor allem anhand des Gerüchts, das die "Boches" Kindern die Hände abschnitten. Zwar hatten die deutschen Soldaten Greueltaten an Zivilisten begangen, sich dieser speziellen Tat aber nicht schuldig gemacht. Sie war eine der grausamsten, wenn nicht die grausamste, von der die Gerüchte in der Bevölkerung berichteten. Zu Unrecht. Die Funktion solcher Gerüchte besteht darin, eine Deutung des Konflikts zu lancieren, die den Feind dämonisiert. Von daher können die Propagandamaßnahmen selbst aus dem Gerüchte-Reservoir schöpfen, um die Vernichtung des Feindes im voraus zu legitimieren -- soll er selbst all die Schrecken erleiden, die er an Unschuldigen verübt hat.
Begünstigt aber nicht schon die Grundgegebenheit eines nachbarschaftlichen Massakers, das ja de facto die körperliche Nähe der Henker zu ihren Opfern impliziert, den Ausbruch von Greueltaten? Denn selbst wenn die Propaganda den Feind mit häßlichen und gefährlichen Zügen versehen hat, trägt er doch ein schrecklich menschliches Antlitz. Liegt hierin nicht der Grund, warum man diesen so ähnlichen Nächsten schnellstens "entstellen" muß, um das Risiko der Identifikation abzuwehren? Ihn töten zu können, impliziert seine Entmenschlichung, nicht "nur" durch das Imaginäre der Propaganda, sondern nunmehr ganz buchstäblich durch die Tat: indem man seinen Körper verstümmelt, zerstückelt, verbrennt usw. Es wäre, kurz gesagt, also die Nähe, welche die Grausamkeit erzeugt, die sich ihrerseits -- wie in einer Flucht nach vorne -- zur Bestialität steigern kann, um jedwede Möglichkeit von Empathie zwischen dem Henker und seinem Opfer zu unterbinden. So verstanden ist die Praxis der Grausamkeit eine veritable mentale Operation, die am Körper des anderen vollzogen wird, um seine Menschlichkeit zu zerstören. Die Psychologin Françoise Sironi sieht hierin nichts Geringeres als das Wesen der Folter. Françoise Sironi, Bourreaux et victimes. Psychologie de la torture, Paris 1999.
Wenn die Praktiken der Grausamkeit in der Psyche der Vollstrecker Wurzeln schlagen, so tun sie dies auf kulturell spezifische Weise. Sicherlich hat der Soziologe Wolfgang Sofsky recht, wenn er so etwas wie eine "Universalie des Massakers" beobachtet. Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996. Aber ist die Art und Weise, in der ein Massaker verübt und vor dem eigentlichen Massaker gequält wird, nicht vor allem ein kultureller Akt, wie der Anthropologe Arjun Appadurai nahelegt? Seiner Ansicht nach ist die an Körpern verübte Gewalt niemals bloß zufällig. Sie nimmt in ihrem kulturellen Kontext eine genau umrissene Bedeutung an: "Es ist unübersehbar, daß die dem menschlichen Körper zugefügte Gewalt niemals ganz willkürlich oder ohne jegliche kulturelle Form ist [...], daß noch die schlimmsten Akte der Erniedrigung makabre Formen kultureller Prägung aufweisen und ihre Gewalttätigkeit vorhersagbar ist." Arjun Appadurai, "Uncertainties and ethnic violence. The era of globalization", Public Culture, Bd. 10, Nr. 2, 1998, S. 909. Die grausamen Praktiken wären so für die Vollstrecker eine Möglichkeit, ihre eigene Identität auf den Körpern ihrer Opfer zu bekräftigen, was auch einschließen kann, diese dazu zu zwingen, ihre eigenen kulturellen Tabus zu überschreiten. Auch dies ist eine Methode, die Opfer zu zerstören, bevor sie umgebracht werden.
So verstanden wäre die Ausführung einer Greueltat für den Vollstrecker das Mittel, eine radikale psychische Distanz gegenüber seinen Opfern herzustellen, faktisch zu beweisen, was er bereits glaubt oder glauben zu müssen meint, daß sie nämlich keine Menschen sind. Gelingt ihm diese Beweisführung nicht, auch dies sollten wir festhalten, könnte ihn die Menschlichkeit seiner Opfer psychisch erschüttern. Er riskiert zusammenzubrechen, in einer Depression oder im Wahnsinn zu versinken. Vor allem aus solchen Gründen haben die Nazis die von den Einsatzgruppen praktizierten Massentötungen (mit Maschinengewehren) gestoppt und durch die industrielleren Tötungsprozeduren der Gaskammern ersetzt. Selbst bei dieser Vorgehensweise aber mußte das System noch die Vorstellung abwehren, man würde menschliche Wesen töten. Auf die Frage, die Gitta Sereny dem ehemaligen Sobibor-Kommandanten stellt -- "Wenn sie sowieso die Absicht hatten, sie umzubringen, warum dann diese ganzen Demütigungen und Grausamkeiten?", -- antwortete Franz Stangl: "Um die, die diese 'Maßnahmen' ausführen mußten, vorzubereiten; (...) Um es ihnen zu ermöglichen, das zu tun, was sie dann taten." Gitta Sereny, a.a.O., S. 104. Die Greueltaten hatten mit anderen Worten eine eindeutige Funktion: Sie sollten die künftigen Vollstrecker konditionieren.
Muß uns die Auseinandersetzung mit den Greueltaten nicht über den Abscheu hinaus, den sie hervorrufen, zu einer allgemeineren und eher beunruhigenden Hypothese führen: jener des Genusses, den sie dem Vollstrecker bereiten können? Wir wissen es ja und geben es auch zu: "Wenn gewaltsame Praktiken so weit verbreitet sind, daß man sie wohl für einen Bestandteil der Condition humaine halten muß, dann auch deshalb, weil sie Vergnügen bereiten, wenn auch gewiß ein ungesundes, undurchsichtiges Vergnügen", wie die Psychologin Denise Van Caneghem bemerkt hat. Denise Van Caneghem, Agressivité et combativité, Paris 1978. Sein Gegenüber zu erniedrigen und, mehr noch, es leiden zu lassen, kann eine Form von Lust bereiten: entweder, indem man sexuell über den Körper verfügt oder indem man den Körper auf unterschiedlichste Weise quält, bevor man ihn zerstört. Ist dies Sadismus? Von einer winzigen Minderheit abgesehen, haben die Vollstrecker im psychiatrischen Sinn des Begriffs keine sadistische Persönlichkeit, sagt etwa Bruno Bettelheim. Freilich verschafft die Situation, in der er sich befindet und die ihm erlaubt, alle Tabus zu brechen, dem Vollstrecker den Rausch der Allmacht über sein Opfer. Die Beseitigung jedweder Gesetzlichkeit, die aus dem Verhältnis Vollstrecker -- Opfer per definitionem eine antisoziale Beziehung macht, erlaubt bei einzelnen die Ausbildung besonders lustvoller sadistischer und perverser Verhaltensweisen. In seinem beeindruckenden Text über die Folter zögert der ehemalige Widerstandskämpfer und KZ-Häftling Jean Améry nicht, in diesem Sinne zu schreiben, daß ihm zu einem tieferen Verständnis dessen, was er erleben mußte (von den Nazis gefoltert zu werden), nicht die Psychologie, sondern die "Kategorien der -- nun ja, Philosophie des Marquis de Sade" verhalfen. Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München 1988. Und er verweist auf das Œuvre Georges Batailles, der über die Schriften de Sades gearbeitet hat und für den der Sadismus nicht sexualpathologisch, sondern existentialpsychologisch verstanden werden muß: als radikale Negation des anderen.
Dieser Verweis mag überraschen. Aber führt uns die historische, soziologische oder politikwissenschaftliche Forschung nicht manchmal auf Fragen zurück, die in der Literatur und, allgemeiner, der Kunst schon erforscht wurden? Wäre de Sades dämonisiertes Werk hier nicht ein solcher Fall? In Justine beschreibt de Sade treffend den Rausch der Gewalt, der aus der Lust am Leid der Opfer hervorgeht, welche stets von neuem fordert, sich an deren Erniedrigung und deren Schreien zu ergötzen, bevor man sie tötet -- um dann mit anderen Körpern, anderer Beute weiterzumachen. Dieser Schwindel der Gewalt, dem die Literatur Ausdruck verleihen kann -- und ich denke hier auch an das tiefgründige Buch des dänischen Autors Jens-Martin EriksenJens-Martin Eriksen, Winter im Morgengrauen, München 2002, dänischer Originaltitel: Vinter ved daggry, Kobenhagen 1997. --, bringt uns dem "schwarzen Loch" nahe, einem Ort der Leere und des Geheimnisses, der zu unserer Destruktivität gehört.
Der Leser mag aus den hier skizzierten Elementen einer Grammatik des Massakers die Züge einer Syntax ablesen, das dynamische Modell eines Zerstörungsprozesses, der sich seinem Wesen nach in der Zeit und im Raum einer Krise entfaltet. Ein multifaktorielles Modell, in dessen Mittelpunkt die Matrix eines Imaginären steht, das nach Maßgabe seiner Ängste, Ressentiments und Utopien den Gesellschaftskörper formt und umformt und dabei Feinde aus dem Weg räumt und eliminiert. Ein Modell mit vielfältigen Variablen, bei dem der Akt des Massakers gleichermaßen von lokalen Parametern (Organisation der Mörder, Art ihrer Methoden, geographische Gegebenheiten, Struktur der angegriffenen Bevölkerung...) wie vom internationalen Kontext (Rolle des Krieges, der öffentlichenMeinung, einer Schutzmacht usw.) bestimmt wird. Ein Modell also, das zwar von zentralen Impulsen ausgeht, aber dennoch nicht determiniert ist und Abweichungen oder ungeplante Entwicklungen erlaubt, je nachdem, wie es um Zustimmung oder Widerstand jeweils bestellt ist. Die Sozialwissenschaften müssen sich bemühen, all dies besser zu verstehen.
Zugleich müssen sie sich aber auch eingestehen, daß ihre intellektuellen Mittel manchmal angesichts sprachlos machender Phänomene nicht ausreichen. Zweifellos können die Sozialwissenschaften die Umrisse dieses schwarzen Lochs noch genauer nachzeichnen, zweifellos sogar seine grundlegende Struktur bestimmen. Immer noch und unaufhebbar aber wird in ihm ein Moment des Unbekannten bleiben: ein Bereich undurchdringlicher Dunkelheit.