Philip S. Golub
Niels Kadritzke
Philip S. Golub/Le Monde diplomatique (English language edition)
Eurozine
Le Monde diplomatique (Berlin)
Le Monde diplomatique (Berlin) 9/2006 and Le Monde diplomatique (English language edition) 9/2006 (English version)
2006-09-27
Der permanente Ausnahmezustand
/XML/infobox/futureofwarbox.htmDie Kluft zwischen formaler und realer Demokratie war selten größer.
Seit Jahren werden etliche "fortgeschrittene" demokratische Staaten von
einer Exekutive regiert, die nur schwach legitimiert ist und sich
zunehmend von der Gesellschaft verselbstständigt hat. Dabei geht die
Konzentration der Macht in den Händen der Exekutive zu Lasten der zweiten
und dritten Gewalt, der Legislative und der Jurisdiktion. Damit wird -
vor allem in den USA und in Großbritannien - die delikate Balance der
Institutionen, auf der die klassische liberale Demokratie basiert,
grundsätzlich infrage gestellt.
Dieser Prozess der Machtaneignung und -konzentration durch die Regierung
hat seit 2001 mit dem "Krieg gegen den Terror" und den damit verbundenen
Ausnahmegesetzen an Tempo gewonnen. In Großbritannien hatte Margaret
Thatcher in ihrer Regierungszeit (1979-1990) damit begonnen, die
britischen Institutionen in Richtung eines Präsidialsystems zu
entwickeln. Der Trend hat sich unter Tony Blair beschleunigt fortgesetzt.
Der Labour-Premierminister höhlte die Vorrechte des Parlaments aus und
setzte alles daran, die Autonomie der Gerichte einzuschränken, wie etwa
durch den Criminal Justice Act von 2003. Der Prevention of Terrorism Act
von 2005 erlaubt es dem Innenminister, wie Clare Dyer im Londoner
Guardian schreibt, "die individuellen Freiheitsrechte einzuschränken,
wenn der Verdacht einer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten
vorliegt", wobei die richterliche Kontrolle auf ein Minimum reduziert
ist. Der Inquiries Act von 2005 "beschränkt die Unabhängigkeit der
Richter, die mit den Ermittlungen befasst sind, und erlaubt den Ministern
zu entscheiden, welche Beweismittel in öffentlicher Sitzung präsentiert
werden und welche der Öffentlichkeit vorenthalten werden können". Clare Dyer, "Judges reveal anger over curbs on power", The Guardian,
26. April 2005. Ähnlich problematisch sind die Regelungen im Hinblick auf
den EU-weiten Haftbefehl.
Schließlich stellen die neuen Gesetze zur Bekämpfung des Terrorismus auch
den Habeas-Corpus-Grundsatz infrage, also den Schutz vor willkürlicher
Festnahme - das älteste und wichtigste Instrument, um die Rechte des
Einzelnen gegenüber dem Staat zu schützen.
All diese Gesetze wurden vom britischen Parlament verabschiedet. Nur die
Regulatory Reform Bill, mit der die Kompetenzen der Exekutive unerhört
erweitert werden sollten, ließ das Oberhaus nicht passieren. Dieses
Gesetz hätte die Minister zu absolut willkürlichem Vorgehen ermächtigt:
Sie hätten Gesetze in Kraft setzen können, ohne das Parlament überhaupt
damit zu befassen. Das Parlament hätte sich also - formell wie
substanziell - buchstäblich abgeschafft. Siehe Henry Porter, "How we move ever closer to becoming a
totalitarian state", The Observer, 5. März 2006. http://politics.guardian.co.uk/constitution/comment/0,,1724047,00.html. Angesichts des Widerstands im
Oberhaus, das nicht seiner eigenen Auflösung zustimmen wollte, musste die
Regierung die Novelle - von Kritikern als "Gesetz zur Abschaffung des
Parlaments" bezeichnet - am Ende modifizieren. Obwohl die Exekutive in
diesem Fall zum Rückzug gezwungen wurde, ist die Regierung Blair bei der
Demontage der britischen Demokratie bereits kräftig vorangekommen.
Im Observer wurde dem Premierminister vorgeworfen, nicht nur die
Verfassung schwer lädiert zu haben, sondern auch "die traditionelle
Souveränität des Parlaments, die Unabhängigkeit der Justiz, die
Menschenrechte und das diffizile Verhältnis zwischen Individuum und
Staat". Porter, ebd. All dies ist freilich keine Überraschung bei einem
Premierminister, der allen Ernstes glaubt, dass Gott allein über seine
Taten richten werde, und angesichts einer Regierung, die ganz offen einen
"liberalen Imperialismus" propagiert und damit offenbar die
Notwendigkeit, "zu den raueren Methoden einer früheren Epoche
zurückzukehren, also zu Gewalt, Täuschung und Präventivschlägen oder was
immer nötig ist, um mit Leuten fertig zu werden, die immer noch im 19.
Jahrhundert leben". Robert Cooper, "The new liberal Imperialism", The Observer, 7. April
2002. http://observer.guardian.co.uk/print/0,,4388912-110490,00.html.
In den USA hat der Abbau demokratischer Strukturen atemberaubende
Dimensionen angenommen. Unter Berufung auf einen abstrakten Notstand ist
die Regierung dabei, die verfassungsmäßige Ordnung systematisch zu
demontieren. Ständig neue Enthüllungen über Folter, geheime Gefängnisse
und ein umfassendes Programm der Telefonüberwachung innerhalb des Landes
belegen, dass Geheimerlasse und willkürliche Schritte des Präsidenten
inzwischen zur normalen Regierungspraxis geworden sind.
Hinter einem Schleier der Geheimhaltung hat die Bush-Regierung sich
umfassende außergesetzliche Machtbefugnisse angeeignet: die Macht,
völkerrechtliche Verträge zu brechen, internationale Konventionen zu
verletzen und Präventivkriege zu beginnen; die Macht, jedwede Person, die
auf Beschluss der Exekutive zum "illegalen Kombattanten" erklärt wird,
zu entführen, zu foltern und ohne gerichtliches Verfahren auf
unbeschränkte Zeit festzusetzen; die Macht, ein paralleles Gerichtssystem
aufzubauen, das nur der Kontrolle des Pentagon und des Weißen Hauses
untersteht; kurzum: die Macht, die bestehende innere und internationale
Rechtsordnung zu ignorieren.
Doch einige Institutionen widersetzen sich diesem absoluten
Machtanspruch der Exekutive. Mitte Dezember 2005 brachte der US-Senat
nach endlosem Hin und Her den Detainee Treatment Act auf den Weg, der die
"grausame, unmenschliche und entwürdigende" Behandlung von Gefangenen
untersagt, also auf der Einhaltung der Antifolterkonvention der UNO
besteht. Und im Juli 2006 bereitete der Supreme Court dem Präsidenten
eine schwere Niederlage: Er befand, dass die Sondermilitärgerichte, die
das Pentagon für die Häftlinge in Guantanamo Bay eingerichtet hatte, mit
der Verfassung unvereinbar sind.
Doch im ersten Fall fand die Exekutive einen Ausweg, im zweiten Fall
sucht sie noch danach. Der Senat beugte sich dem anhaltenden Druck des
Weißen Hauses und veränderte den Wortlaut des Detainee Treatment Act
derart, dass dieser nicht nur wirkungslos bleibt, sondern sogar auf eine
Legalisierung von Folter hinausläuft: Künftig können Aussagen, die unter
dem Einsatz von Folter erlangt wurden, vor Gericht in den USA verwertet
werden. Siehe Alfred McCoy, "Why the McCain Torture Ban Won't Work. The Bush
Legacy of Legalized Torture", in: TomDispatch, 8. Februar 2006,
www.tomdispatch.com/index.mhtml?pid=57336.
Am 30. Dezember, nur wenige Tage nachdem der Senat den Detainee
Treatment Act gebilligt hatte, betonte Präsident Bush erneut, dass ihm
seine Macht als Oberkommandierender und Chef der "einheitlichen
Exekutivgewalt" Dieser Ausdruck bezieht sich auf eine rechtliche Doktrin, die den
absoluten Vorrang der Exekutive über die Legislative und die Jurisdiktion
behauptet. den Spielraum lasse, "alles zu tun, was zur Verteidigung
Amerikas erforderlich ist". Der demokratische Senator Edward Kennedy
kommentierte diese Anmaßung mit dem Vorwurf: "Die Exekutive maßt sich das
Recht an, Foltermaßnahmen zu autorisieren, ohne eine richterliche
Überprüfung befürchten zu müssen - und zwar ungeachtet der geschriebenen
Gesetze des Landes und der Beschlüsse des Kongresses." Zitiert nach McCoy (Anm. 5).
Die Entscheidung des Supreme Court über die Militärtribunale in
Guantanamo Bay versucht das Weiße Haus durch ein neues Gesetz zu umgehen.
Dieses Gesetz würde "illegale Handlungen legalisieren", wie es die New
York Times formuliert, und damit eindeutig "die verfassungsmäßige
Gewaltenteilung aushöhlen"."The Bush agenda comes into focus", Leitartikel der New York Times vom
16. Juli 2006, online:
www.iht.com/articles/2006/07/16/opinion/edbush.php.
Der Wille zur Macht, der in solchen Initiativen deutlich wird, war
bereits vor dem 11. September 2001 entwickelt. "Auch ohne diese
Angriffe", schreibt der Politologe Christopher S. Kelley, "hätte die
Bush-Administration bei jeder sich bietenden Gelegenheit unilateral
agiert, um die Grenzen der Macht des Präsidenten immer mehr
auszuweiten." Christopher S. Kelley, "Rethinking Presidential Power: The Unitary
Executive and the George W. Bush Presidency", Paper für die 63.
Jahreskonferenz der Midwest Political Science Association, 7. bis 10.
April 2005, Chicago. Nach den Attentaten vom 11. September ist der Präsident zu
einer Art amerikanischem Cäsar geworden. Und bei der allgemeinen
Mobilisierung der nationalen Gefühle brachte kaum jemand den Mut auf,
sich gegen die herrschende Meinung zu stellen.
Damit waren die innenpolitischen Kontrollmechanismen beseitigt, die in
einer demokratischen Gesellschaft normalerweise die willkürliche
Anwendung staatlicher Zwangsgewalt beschränken oder verhindern. Ganz
deutlich wurde dies im Fall der Memoranden zum Problem der Folter, die
2002 vom damaligen Präsidentenberater Alberto Gonzales verfasst wurden.
Darin behauptete der heutige Justizminister, die Verfassung verleihe dem
Präsidenten die Macht, in Kriegszeiten alle Maßnahmen zu ergreifen, die
zur Wahrnehmung seiner Pflichten als militärischer Oberbefehlshaber nötig
seien. Er könne sich dabei auch über das internationale Recht
hinwegsetzen. "Nach dieser Logik", schreibt der Jurist David Cole, "wäre
der Präsident durch die Verfassung auch ermächtigt, einen Völkermord
anzuordnen ..." David Cole, "What Bush Wants to Hear", in: The New York Review of
Books, 17. November 2005.
Damit werden die Grundprinzipien des klassischen Liberalismus verworfen:
die Gewaltenteilung sowie jene verfassungsrechtliche Schutzbestimmungen,
die den einzelnen Staatsbürger vor willkürlicher Gewaltausübung des
Staates schützen. Dieses zweite Prinzip wird, wie schon Montesquieu,
Locke und andere frühe Demokratietheoretiker geltend gemacht haben, durch
das erste Prinzip gewährleistet. Denn die Gewaltenteilung beschränkt den
Herrscher (ob konstitutioneller Monarch oder gewählte Exekutive) in
seiner Souveränität, was die "Ruhe" (Montesquieu), das heißt, die
politische Freiheit des Individuums gewährleistet.
Theoretisch werden diese verfassungsmäßig definierten Barrieren gegen
Absolutismus oder Diktatur mittels institutionalisierter Normen wirksam,
von denen der Herrscher nur unter außergewöhnlichen Umständen und dann
nur für einen genau begrenzten Zeitraum abweichen kann. In zeitlich
begrenzten Ausnahmesituationen oder unter dem Druck der "Notwendigkeit" -
wie sie etwa ein Krieg darstellt - können die Regierungen demokratischer
Staaten womöglich einzelne Gesetzesbestimmungen außer Kraft setzen, aber
niemals die verfassungsmäßige Ordnung selbst. Nach der liberalen Theorie
ist der Ausnahmezustand (nach Locke eine "Prärogative" der Regierenden)
eben dies: eine Ausnahme zu dem einzigen Zweck, die Norm, also die
Verfassungsordnung zu retten. Bei einem permanenten Ausnahmezustand
hingegen wird die Ausnahme zur Norm.
In den 1920er- und 1930er-Jahren entwickelte der reaktionäre politische
Theoretiker Carl Schmitt eine systematische Theorie über Ausnahmezustand
und Notstandsregierung. In seinen frühen Schriften unterschied er
zwischen der "kommissarischen" und der "souveränen" Diktatur, wobei die
Erste noch in der bestehenden Rechtsordnung verankert ist und der
Erhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung dienen soll, wohingegen die
"souveräne Diktatur" diese Ordnung zerstört.
In seinen wichtigsten Schriften "Politische Theologie" (1922) und "Der
Begriff des Politischen" (1932) optiert Carl Schmitt für die "souveräne
Diktatur". Seine Theorie liefert damit "logisch zu Ende gedacht" die
"Grundlage für eine autoritäre ausnahmslose Ausnahme". Oren Gross, "The Normless and Exceptionless Exception: Carl Schmitt's
Theory of Emergency Powers and the 'Norm Exception' Dichotomy", in:
Cardozo Law Review, Jg. 21 (New York) 2000. Nach Carl
Schmitt findet der Staat, als höchster Ausdruck des Politischen, sein
eigentliches Wesen nur im Ausnahmezustand, und zwar indem er "die
Bestimmung des konkreten Feindes" vornimmt, den es zu bekämpfen gilt. Nur
im Ausnahmezustand vermag der Staat, die Gesellschaft zu transzendieren
und eine Sphäre diktatorischer Autonomie zu etablieren.
Krieg als ontologische Begründung des Staates
Wenn sich der Staat auf diese Weise einmal das Monopol auf politisches
Handeln und Entscheiden gesichert hat, verfügt er - in Gestalt des
Diktators, der den Ausnahmezustand erklären kann und genau damit erst
wahrhaft souverän wird - über unbegrenzte Befugnisse, von denen das
Allerwichtigste die Macht ist, die "bestehende Rechtsordnung" zu
übergehen oder zu vernichten. In dieser Theorie wird der Krieg, als die
reinste Form des Ausnahmezustands, zur ontologischen Begründung des
Staates. Heute vollzieht sich der Abbau der verfassungsmäßigen Ordnung im
Kontext eines "Krieges", den die Exekutive der USA von Beginn an als ein
Geschehen darstellte, das räumlich und zeitlich nicht begrenzt ist. Im
Rahmen der "Nationalen Sicherheitsstrategie" der USA von 2002 wird die
"Verwundbarkeit durch den Terrorismus" quasi als ein neuer existenzieller
Zustand ("a new condition of life") beschrieben. National Security Strategy 2000, auf der Website des Weißen Hauses:
www.whitehouse.de.
Damit ist der permanente Kriegszustand zu Beginn des 21. Jahrhunderts
nachgerade zum Way of Life geworden. In einem Grundsatzdokument von 2006
bezeichnet das Pentagon den "langen Krieg", den die USA führen, als einen
Kampf, den man "in Dutzenden von Ländern gleichzeitig und über weitere
viele Jahre" führen müsse. Quadrennial Defence Review Report (QDR), Department of Defence,
Washington, 2006. Und auch die "Nationale
Sicherheitsstrategie" von 2006, in der die Kernelemente der Strategie von
2002 inklusive der Präventivkriegsdoktrin bestätigt werden, geht davon
aus, dass sich die USA am Beginn "eines langen Kampfs" befinden, der
große Ähnlichkeit mit dem früheren Kalten Krieg aufweise. National Security Strategy, White House, März 2006.
Die erfolgreiche Praxis einer rechtlich nicht mehr gebundenen
Staatsmacht droht sich zu einer "rechtlosen Zukunft" zu entwickeln, die
durch die "willkürlichen Entscheidungen einer Gruppe designierter
Oberherrscher" bestimmt wird, wie es die Rechtsphilosophin Judith Butler
formuliert. Judith Butler, "Precarious Life. The Powers of Mourning and
Violence", London (Verso) 2004.
Ein solcher Souverän erlangt unbegrenzte Herrschaftsgewalt, indem er
Ängste schürt und nationalistische Gefühle mobilisiert oder tiefsitzende
rassische und ethnisch-religiöse Vorurteile anspricht. Die Operationen
einer kleinen terroristischen Organisation ohne territoriale Basis wurden
nicht als die konkrete, aber begrenzte Gefahr dargestellt, die sie in
Wirklichkeit sind, sondern als eine globale totalitäre Bedrohung,
vergleichbar der Bedrohung durch Nazideutschland. So behauptete Bush am
16. Oktober 2005, die Extremisten wollten ein "radikal-islamisches
Imperium von Spanien bis Indonesien" errichten. Und zwei Tage danach
erklärte Stephen Hadley, der Nationale Sicherheitsberater des
Präsidenten, vor dem Council on Foreign Relations in New York, al-Qaida
wolle "die muslimischen Massen hinter sich bringen, die gemäßigten
Regierungen der Region stürzen und das islamische Kalifat
wiederbegründen".
Diese groteske Überzeichnung der Macht von al-Qaida wie auch die
ominösen Sprüche aus dem Weißen Haus, die im Gefolge des 11. September
vor einem "Atompilz" warnten, könnte man als absurd abtun, wenn sie nicht
dazu dienten, die autoritären Ziele des Staates zu verbergen. Denn sie
sind darauf angelegt, tiefsitzende Hassgefühle zu schüren, indem sie die
vielfältigen Kulturen des Islams als homogene Einheit darstellen und auf
eine einzige barbarische Masse reduzieren, die "unserer" Kultur fremd und
feindlich sei. Das aber ist ein gefährliches Spiel: Der sogenannte Clash
of Civilizations droht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu
werden.
Nicht viel besser sieht die ideologische Landschaft in Europa aus. Hier
äußert sich der Rassismus als verbreitetes Misstrauen gegen
unterschiedliche Einwanderergruppen. In Frankreich zum Beispiel wurden
die aufstandsähnlichen Unruhen in den Vorstädten, die aus vielen Jahren
gesellschaftlicher Diskriminierung und institutionell abgesicherter
Ausgrenzung resultieren, häufig einfach als ethno-religiös motivierte
Attacken auf die "nationale Identität" gewertet und verurteilt. Siehe Laurent Bonelli, "Wo Schaden nicht klug macht", Le Monde
diplomatique, Dezember 2005. Die
Regierung in Paris reagierte auf die Ausschreitungen mit einem
nächtlichen Ausgehverbot und dem Rückgriff auf ein seit der
Kolonialepoche nicht mehr angewandten Ausnahmerecht.
In der Geschichte des liberalen bürgerlichen Rechtsstaats wurde das
Ausnahmerecht meistens zur Unterdrückung in den Kolonialgebieten
eingesetzt. Die westlichen "Kulturen" haben im Lauf ihrer Jahrhunderte
dauernden "Lehrzeit kolonialer Despotie" - um mit Hannah Arendt Hannah Arendt verwies in dem ersten Entwurf ihres Buchs "The Origins
of Totalitarianism" (1951) auf eine ontogenetische Beziehung, die
zwischen der europäischen Kolonialdespotie und dem Totalitarismus und
Imperialismus im Allgemeinen bestehe. zu
sprechen - Konzentrationslager erfunden und die Folter wieder eingeführt,
die man unter dem Einfluss der Aufklärung abgeschafft hatte. Wobei die
Praxis der Sklaverei einen wichtigen Unterschied zwischen der kolonialen
Erfahrung der US-Amerikaner und der Europäer ausmacht: Während die
Europäer ihr Gewaltpotenzial mittels ihrer Kolonialpolitik nach außen
exportierten, kam der amerikanische Despotismus innerhalb des eigenen
Landes zum Tragen.
Dass sich der "zivilisierte Westen" neuerdings wieder für seinen
Kolonialismus und Imperialismus entschuldigen musste, macht erneut
deutlich, dass diese Vergangenheit niemals wirklich zu Ende war. In
Frankreich zum Beispiel sind die antikolonialen Gefühle immer noch
lebendig: Als das französische Parlament am 23. Februar 2005 ein Gesetz
verabschiedete, das in Artikel 4 die "Leistungen" würdigte, die
Frankreich in seinen Kolonien vollbracht habe, erhob sich ein
Proteststurm. Der Artikel wurde ein Jahr später per Regierungsdekret
kassiert.
Aber nicht nur in Frankreich fusionieren autoritäres Denken und
koloniale Mentalität in den Köpfen derer, die ein Ausnahmerecht
befürworten und praktizieren. Die offizielle Begründung solcher Maßnahmen
stützt sich auf die Annahme, dass wir einen autoritären Staat brauchen,
um uns vor den Barbaren zu schützen. Unverblümter formuliert: Um zu
überleben, müssen wir unsere Freiheiten aufgeben.