Transit
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Transit
2006-09-14
Editorial "Transit" 31 (2006)
Es sind vor allem zwei Faktoren, die heute dazu zwingen, über ein "postsäkulares" Verhältnis von Religion und politischer Öffentlichkeit nachzudenken: zum einen das wachsende Bewusstsein, dass Europas Säkularismus nicht paradigmatisch für moderne Gesellschaften ist, sondern eher einen Sonderweg darstellt; zum andern die in der letzten Zeit dramatisch zunehmende Spannung zwischen diesem Säkularismus und dem -- selbst in einem Transformationsprozess befindlichen -- Religionsverständnis und -gebrauch des Islam. Die Diskussion, die zu dieser Problematik seit einiger Zeit in Transit geführt wird, möchten wir mit den Artikeln des Schwerpunkts "Religion und politische Kultur" im vorliegenden Heft fortsetzen. Alessandro Ferrara (Rom) plädiert für einen 'postsäkularen' Vernunftgebrauch, der den nichtreligiösen Bürgern mehr hermeneutische Anstrengung gegenüber ihren religiösen Mitbürgern abverlangt. Abdessalam Cheddadi (Rabat / Paris) fordert -- gleichsam spiegelsymmetrisch zu Ferrara -- eine Rückbesinnung auf die alte Tugend der Toleranz in der islamischen Kultur. Andrea Roedig (Berlin) legt die uneingestandenen Affinitäten zwischen Katholizismus und Postmoderne frei. Olivier Mongin und Jean-Louis Schlegel (Paris) sehen akuten Reformbedarf für den französischen Laizismus. Mikolaj Kunicki (Notre Dame, Indiana) erzählt die Geschichte der katholischen Kirche im kommunistischen Polen zwischen Anpassung, Widerstand und Dialog. Shlomo Avineri (Jerusalem) schließlich zeichnet die Geschichte der vorstaatlichen jüdischen Politik vom 18. Jahrhundert bis zur Gründung Israels nach.
Die Photographien von Soody Sharifi (Houston, Texas) kann man als Beitrag zur Dekonstruktion kultureller Stereotypen des Islam auf beiden Seiten, der westlichen und der muslimischen lesen. Sie schreibt über ihre "Teenager"-Serie:
Ich untersuche die Spannung zwischen privaten und öffentlichen Räumen, indem ich Szenarien arrangiere, welche die Stereotypen des Islam unterlaufen, wie sie die Medien täglich reproduzieren. Gleichzeitig hoffe ich, damit auch die muslimischen Konventionen für Schicklichkeit herauszufordern. (...) Teenager sind Gruppenwesen mit einer stark ausgeprägten Selbstwahrnehmung, insbesondere, wenn sie sich zwischen verschieden Kulturen befinden. Im Iran etwa leben die Teenager zugleich in der sie umgebenden Kultur der Erwachsenen und ihrer ganz eigenen Kultur -- ohne dass beide einander ausschlössen. (...) Teenager legen größten Wert auf ihre äußere Erscheinung und investieren viel Zeit in ihre visuellen Selbstdarstellung. Um sich auszudrücken, übernehmen sie begierig Elemente aus dem globalen Repertoire der Populärkultur, aus Magazinen, Internet, Fernsehen.
Der zweite Teil des Heftes bietet drei Ausflüge nach Osteuropa an. Aleksander Smolar (Warschau/Paris) rekonstruiert die Vorgeschichte des Aufstiegs der polnischen Rechten, die seit 2005 regiert und das erfolgreiche polnische Transformationsmodell radikal in Frage stellt, da es den Kräften des Ancien Régime erlaubt habe, unter Beihilfe durch die politische Mitte die Schlüsselstellen in Staat und Verwaltung, Wirtschaft und Medien zu besetzen. Daher, so argumentieren die Zwillinge Kaczynski, sei eine nachholende moralische Revolution an der Tagesordnung. Mit Wojciech Orlinski (Warschau) reisen wir durch einen imaginären Osten, der sich als Projektion westlicher Ängste und Wünsche entpuppt. Allerdings ergeben sich dabei auch überraschende Parallelen zu den sehr realen polnischen Verhältnissen, die Smolar untersucht. Timothy Snyder (Yale) schließlich ist in bisher unberührte Archive gestiegen und hat ein unbekanntes Kapitel der Zwischenkriegszeit - und der Vorgeschichte des Kalten Krieges -- zutage gefördert. "Der vergessene Geheimkrieg" erzählt, mit welchen, zum Teil phantastischen Strategien, sich der polnische und der sowjetische Geheimdienst um die Ukraine stritten.
Wien, im Juli 2006