Klaus Meschkat
Klaus Meschkat/Le Monde diplomatique
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Le Monde diplomatique
Le Monde diplomatique 2/2006
2006-02-28
Wie hält es die europäische Linke mit Hugo Chávez?
Hugo Chávez, der Gastgeber beim Weltsozialforum in Caracas, steht
außenpolitisch gestärkt da, vor allem durch den Wahlsieg seines
potenziellen Bundesgenossen Evo Morales in Bolivien und durch die
Ausweitung der wirtschaftlichen Kooperation mit Brasilien und
Argentinien. Doch innenpolitisch sieht es anders aus: Wer immer gedacht
hatte, die Parlamentswahlen in Venezuela am 4. Dezember 2005 könnten ein
Schritt zur wechselseitigen Anerkennung einer durch Wahlen legitimierten
Regierung und einer verfassungsmäßigen Opposition sein, wurde enttäuscht.
Die Parteien der Opposition gegen Chávez zogen ihre Teilnahme in letzter
Minute zurück, obwohl sie die geforderten Garantien für einen fairen
Wahlverlauf erhalten hatten. Aber auch der Aufruf von Chávez zu einer
deutlichen Bestätigung seiner Politik blieb ohne die gewünschte Wirkung:
Bestenfalls 25 Prozent der Wahlberechtigten gingen am 4. Dezember an die
Urnen, selbst die meisten seiner Anhänger verzichteten darauf, die
nunmehr ohne nennenswerte Opposition fortexistierende Nationalversammlung
durch ihre Wahlbeteiligung zu sanktionieren. Dies wiederum veranlasst
die Opposition, dem gewählten Parlament jede Legitimität abzusprechen.
Die Polarisierung des Landes setzt sich weiter fort.
Es scheint, dass Chavisten und Antichavisten keine gemeinsame Welt mehr
teilen: Räumlich ist die Stadt Caracas in Territorien getrennt, in denen
die einen oder die anderen ihre Stützpunkte haben, und es gibt mindestens
seit dem Amtsantritt von Chávez auch keine gemeinsame Geschichte, auf
deren Grundzüge man sich verständigen könnte. Zuerst die räumliche
Trennung, die schon im Sprachgebrauch ihren Ausdruck findet: Die Viertel
der Begüterten sind urbanizaciones, nicht etwa barrios, ein Ausdruck, der
den Armenvierteln vorbehalten bleibt. Um die soziale Basis des
"Chavismus" zu verstehen, muss man den Weg in diese barrios finden, in
die Welt der "Ausgeschlossenen", die zu Hunderttausenden in den großen
Elendssiedlungen wohnen, in El Valle, in La Vega, in Petare. Wer eine
noch nicht sanierte Behausung in einem dieser Viertel von innen gesehen
und mit ihren Bewohnern gesprochen hat, der kennt fortan ein anderes
Venezuela und ahnt zumindest, warum die Menschen in solchen barrios den
unterstützen, der ihnen etwas vorzeigen kann, was auf eine künftige
Verbesserung ihrer Lage hoffen lässt.
Dieselbe Geschichte verschieden erzählt
Der räumlichen Trennung entspricht die der jüngsten Zeitgeschichte. Seit
dem überwältigenden Wahlsieg des ehemaligen Putschisten Hugo Chávez, der
anfänglich auch eine breite Unterstützung bis in Kreise des
Unternehmertums hinein genoss, vollzog sich seit 2001 eine Polarisierung,
die in den Putsch vom April 2002 mündete. Nicht nur die Interpretation,
sondern sogar der schiere Ablauf der Ereignisse ist umstritten: Bei den
Anhängern von Chávez ist es die Geschichte der wundersamen Rettung ihres
Führers vor den finsteren Machenschaften der Reaktion, bei der das Volk,
das seiner Absetzung widerstand und ihn zurückrief, letztlich der
ausschlaggebende Faktor war. In der Darstellung der Antichavisten kommt
dieses Volk aus den barrios überhaupt nicht oder nur am Rande vor.
Hier laufen die Ereignisse von einer gewaltigen Massenkundgebung der
Opposition, die durch chavistische Heckenschützen behindert wurde, zum
Eingreifen des Militärs gegen einen Präsidenten, der die Verantwortung
für die Erschießung friedlicher Demonstranten trug, bis hin zur
Wiedereinsetzung von Chávez durch verantwortungsbewusste Offiziere, die
vom rechten Extremismus des provisorischen Unternehmerpräsidenten Carmona
angeekelt waren. Das einfache Volk ging demnach erst auf die Straße, als
besonnene Militärs schon ein Machtwort gesprochen hatten.
Auch bei der Darstellung des zweiten Versuchs, Chávez in die Knie zu
zwingen, nämlich des Streiks beim staatlichen Erdölkonzern PDVSA zur
Jahreswende 2002/2003, sind die Versionen unvereinbar. Für die
Antichavisten war es ein legitimer Streik aller wohlgesinnten Bürger des
Landes gegen eine diktatorische Regierung; die Anhänger von Chávez
betonen, dass der politische Streik mit Sabotage an der Produktion
verbunden war und das Land an den Rand der ökonomischen Katastrophe
brachte. Nicht einmal die vom Carter-Zentrum und von der Organisation
Amerikanischer Staaten bestätigte Niederlage der Opposition beim
Referendum im Sommer 2004 wird in ihrem Geschichtsbild anerkannt.
Wenn es schon in der bloßen Darstellung der jüngsten Zeitgeschichte
keinerlei Übereinstimmung gibt - wie soll sich der Außenstehende ein Bild
davon machen, was Tag für Tag wirklich passiert, wo tatsächlich die
Schwachstellen der Regierung liegen, was ihre wirklichen Erfolge sind?
Das Problem ist, dass fast alle Gesprächspartner immer schon ihr Resümee
parat haben und nichts gelten lassen, was den Gegner in eine günstigeres
Lichte setzen könnte. Die Basisaktivisten verachten die
Universitätsintelligenz, die mehrheitlich gegen Chávez ist, weil deren
Ablehnung des "Prozesses" nun ihren wahren Klassencharakter als
schwankende Kleinbürger enthüllt habe, die zur Reaktion überlaufen, wenn
es ernst wird.
Die Antichavisten halten jeden, der diesen "Prozess" einfach aus der
Nähe betrachten will, allein schon deshalb für das sichere Opfer
offizialistischer Manipulation, also bestenfalls für bedauernswert naiv.
Am schlimmsten sind für die Chávez-Gegner diejenigen, die den immerhin
frei gewählten und in seinem Amt bestätigten Präsidenten kritisch
unterstützen: Für sie gilt das vernichtende Schimpfwort chavismo light.
Für einen Linken (und im Gegensatz zu manchen Freunden möchte ich dieses
Wort nicht in Anführungszeichen setzen) sollte es mehrere Gründe geben,
die Politik von Chávez vor allen Einwänden und aller Reserve erst einmal
positiv zu würdigen: Erstens ist sie demonstrativ darauf gerichtet, mit
konkreten Maßnahmen, die aus den Erträgen der Erdölwirtschaft finanziert
werden, das elende Los der Bevölkerungsmehrheit im Lande zu verbessern -
und wird von dieser Bevölkerungsmehrheit auch so wahrgenommen.
Zweitens ist durch diese Politik ein Freiraum für ungezählte
Basisaktivitäten entstanden, die zumeist nicht von oben angestoßen oder
manipuliert werden. Schließlich zielt sie im Außenverhältnis auf eine
vertiefte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den südamerikanischen
Ländern, die ebenfalls bestrebt sind, sich der uneingeschränkten
US-amerikanischen Vorherrschaft zu entziehen und - wenn auch immer noch
im Rahmen einer kapitalistischen Weltwirtschaft - ein kontinentales
Gegengewicht zu den USA zu schaffen.
Dennoch gibt es gewichtige Einwände gegen eine uneingeschränkte
Identifizierung mit der "bolivarianischen Revolution":
1. Die Rolle von Hugo Chávez selbst in ihrer Ambivalenz. Die
Unentbehrlichkeit einer herausragenden Führerfigur kann ein Linker nur
mit größter Reserve betrachten, auch wenn er nicht sofort in den
Politologenchor und sein Lied vom Populismus einstimmen möchte. Wenn
grundlegende Richtungsentscheidungen nicht das Ergebnis öffentlicher
Diskussionen innerhalb der Linken sind, sondern in langen Sonntagsreden
als Eingebungen eines Heilsbringers in die Welt gesetzt werden, müssen
Zweifel daran erlaubt sein, dass dieses pittoreske Verfahren auf die
Dauer als Basis einer revolutionären Politik taugen kann.
Allerdings muss man zugeben, dass ebendiese extreme Fixierung an eine
Person paradoxerweise unabhängige Aktivitäten an der Basis möglich macht:
Bisher kann sich nämlich fast jeder mit eigenen Ideen auf Chávez berufen
und "innerhalb des Prozesses" (der bolivarianischen Revolution)
ansiedeln: Es gibt (noch) keine monolithische Partei, die ihn der
Abweichungen von einer (auch gar nicht vorhandenen) Generallinie
überführen könnte.
2. Zweifel an der Nachhaltigkeit mancher Maßnahmen, die unter Umgehung
eines für reformunfähig gehaltenen staatlichen Apparats durchgeführt
werden. Die so genannten Missionen beruhen auf dem Einsatz von Mitteln
aus den Überschüssen der staatlichen Erdölgesellschaft in gezielten
Programmen, die den Unterprivilegierten spürbare Verbesserungen bringen
sollen: bessere Gesundheitsversorgung, Zugang zur Bildung von der
Alphabetisierung bis zum Erwerb der Hochschulreife, billigere Waren in
subventionierten Läden, Vorbereitung auf die Gründung
genossenschaftlicher Betriebe.
Dass der Einsatz von 20 000 kubanischen Ärzten, die im Gegensatz zu
ihren venezolanischen Kollegen auch selbst in den Elendsvierteln wohnen,
dort die medizinische Grundversorgung verbessert hat, steht außer Frage.
Wie sich diese Maßnahmen auf lange Sicht mit den bestehenden
Einrichtungen des Gesundheitswesens verknüpfen, ob es gelingt,
venezolanische Ärzte einzubeziehen, ist ebenso unklar wie etwa das
Verhältnis der existierenden öffentlichen Universitäten zu deren
"bolivarianischem" Gegenstück. Und wie viele der Einjahreskurse der
Berufsausbildung von Vuelvan Caras in die Gründung lebensfähiger
Genossenschaften einmünden, kann erst die Zukunft zeigen.
3. Sicherheitslage und Korruption. Unbestreitbar ist, dass Caracas in
Hinblick auf steigende Kriminalität zu den unsichersten Städten
Lateinamerikas zählt und dass sich diese Lage seit dem Amtsantritt von
Chávez 1999 noch verschlechtert hat. Auch wenn man die Monate der Wirren
mit Staatsstreichversuchen und von Sabotageabsichten begleiteten
politischen Streiks abrechnet, steht Hugo Chávez immerhin seit nunmehr
fast sieben Jahre an der Spitze eines Staatsapparats, der nach gängigen
Vorstellungen für die Sicherheit seiner Bürger verantwortlich sein
sollte. Verweist dieses Defizit vielleicht auf die Unfähigkeit, den
Staatsapparat insgesamt zu kontrollieren? Hinzu kommt das Problem der
ständig zunehmenden Korruption auch bei dem neuen staatlichen Personal,
das Chávez selbst in fast jeder Rede anspricht.
4. Das Verhältnis zu Kuba und zur kubanischen Revolution. Kein Linker
wird Chávez deshalb kritisieren, weil er Kuba mit Erdöllieferungen zu
günstigen Bedingungen unterstützt und als Gegenleistung den Einsatz gut
ausgebildeter kubanischer Ärzte in den Elendsvierteln Venezuelas erhält.
Angesichts der US-Blockade gegen Kuba sollte es für ein progressives
Regime selbstverständlich sein, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten
Kubas kompensieren zu helfen. Etwas anderes ist die Überhöhung dieser
gegenseitigen Hilfe zu einem mystisch verklärten revolutionären Bündnis,
in dem Hugo Chávez langsam von dem alternden Fidel die Rolle der
Symbolfigur für eine lateinamerikanische Revolution übernimmt.
Welche Rolle dabei das Erbe der kubanischen Revolution (oder was davon
übrig geblieben ist) als Vorbild für Venezuela spielt, bleibt ziemlich
unklar und kann unterschiedlich gedeutet werden. Bei einer demonstrativen
Anlehnung an Kuba besteht immer die Gefahr, neben den positiven
Erfahrungen etwa bei der Alphabetisierung und im Gesundheitswesen auch
fragwürdige Errungenschaften eines anscheinend konsolidierten politischen
Systems zu übernehmen, wie die Gängelung und Gleichschaltung einer
kritischen Intelligenz.
Wenn Chávez in seiner Fernsehsendung "Aló Presidente" am 21. August 2005
von Kuba aus verkündet: "Hier gibt es ein System revolutionärer
Demokratie. Es ist nicht die klassische westliche Demokratie, die sie uns
aufgezwungen haben. In Kuba gibt es eine Demokratie von unten", dann
drängt sich die Frage auf, ob eine solche idealisierende Bewertung auf
Chávez' Vorstellungen von einer künftigen Demokratie in Venezuela
verweisen könnte.
5. Politischer Pluralismus und die Legitimität einer Opposition. Je mehr
sich Hugo Chávez in seine Rolle als Heilsbringer für ganz Lateinamerika
hineinsteigert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass er einen Sinn für
die Legitimität und Notwendigkeit einer politischen Opposition gegen die
Perpetuierung seiner Herrschaft entwickeln wird. Die real existierende
Opposition, die sich in Teilen durch unverantwortliche Demagogie und
sogar Bereitschaft zum Putsch profiliert hat, dürfte ihn kaum zum
politischen Pluralismus bekehren.
Opposition sein heißt einfach gegen Chávez sein
Dass sich eigenständige politische Formationen in Gestalt politischer
Parteien herausbilden, die den Sozialismus anders definieren als Chávez
selbst und ihn zum Beispiel von links her angreifen, hat er bisher kaum
erfahren müssen: Eine solche neue Konstellation, die sich gerade
herauszubilden scheint, könnte zum Prüfstein seiner demokratischen
Grundüberzeugung werden.
Die Liste der Vorbehalte und Einwände gegen Chávez ließe sich verlängern
- und dennoch kann sie kein Grund sein, ins Lager seiner Gegner
überzulaufen. Was sich in Venezuela Opposition nennt, definiert sich
bisher schlicht durch die Gegnerschaft zu Chávez, und schon dies leistet
der verhängnisvollen Logik der Polarisierung Vorschub. Von außen
betrachtet, erscheint die Selbstdefinition der Oppositionellen häufig
rätselhaft: Was hat der kritische Intellektuelle, der sich aus
begründeter Ablehnung bestimmter Regierungsmaßnahmen gegen Chávez stellt,
mit einem korrupten "gelben" Gewerkschaftsführer zu tun, der mit
demagogischen Sprüchen die Machtfrage stellt und aus seinen
Staatsstreichgelüsten keinen Hehl macht? Weshalb bestehen renommierte
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in akademischen Foren
bedenkenswerte regierungskritische Analysen vortragen, nicht auf einer
angemessenen Vertretung der Gegenseite? Stattdessen treten sie gemeinsam
mit Ideologen auf, die mit geringem intellektuellem Aufwand ihren
ungezügelten Hass auf Chávez vortragen. Gerade nach den Erfahrungen des
Putschs von 2002 können nur Teile der so genannten Opposition
"demokratisch" genannt werden. Leider verschließen sich viele im
Oppositionslager der einfachen Überlegung, dass es auch in Venezuela weit
schlimmere Zustände geben könnte als die von ihnen abgelehnte Herrschaft
von Chávez. Denn die ist mit einem Ausmaß an Freiheit verbunden, das
anderswo in Lateinamerika kaum vorstellbar ist. Man denke nur an private
Massenmedien, in denen die Regierung nicht nur kritisiert, sondern
hemmungslos angegriffen und verleumdet wird - in einer Weise, die auch in
anderen demokratischen Ländern die Grenzen des Zulässigen weit
überschreiten würde, in moralischer wie in juristischer Hinsicht.
Nach dem selbst verschuldeten Niedergang der traditionellen Parteien
stellen die großen Zeitungen und das private Fernsehen und Radio den Kern
der Opposition dar. Neben der unverantwortlichen Demagogie in
zahlreichen Kommentaren, die den schlimmsten demagogischen Entgleisungen
von Chávez um nichts nachsteht, fällt ein beängstigender Provinzialismus
ins Auge: Es geht fast immer um die Anprangerung der Fehler des
Chávez-Regimes, und jenseits der obligatorischen Denunziation des
kubanischen Einflusses fehlt jede internationale Einbettung der
venezolanischen Entwicklung. Dafür wird das fundamentalistische Weltbild
Washingtons vom internationalen Kampf gegen den Terrorismus platt
übernommen. Diese unkritische Einstellung gegenüber den USA, deren
friedensfeindliche Politik im Weltmaßstab in der Regel verschwiegen oder
beschönigt wird, ist schon bestürzend.
Die Presse hat ihre Glaubwürdigkeit verloren
Glücklicherweise gibt es vielfältige Informationsquellen, auch abseits
einer polarisierten und polarisierenden Tagespresse, die ihre
Glaubwürdigkeit weitgehend eingebüßt hat. Die Menschenrechtsorganisation
Provea gehört dazu. In ihren verdienstvollen Jahrbüchern wird analysiert,
in welchem Umfang unter der gegenwärtigen Regierung neben den
politischen auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Menschenrechte verwirklicht sind und wo wirklich
Menschenrechtsverletzungen zu registrieren sind. So kann der Leser an
vielen Stellen überprüfen, welche der behaupteten Errungenschaften des
Chavismus den Tatsachen entsprechen und wo es Defizite gibt, die
verschwiegen werden. Eine hohe Sensibilität für künftige Möglichkeiten
staatlicher Willkür (etwa unakzeptable Einschränkungen der Pressefreiheit
bei exzessiver Anwendung neuer Gesetze) ist sicher besser als eine
Blindheit für Gefahren, die sich bereits abzeichnen.
Mangelware sind leider theoretisch gehaltvolle Analysen der
venezolanischen Gegenwart. Im antichavistischen Lager gibt es
hochkarätige Intellektuelle, die in manchen ihrer jüngsten Schriften
jeden Sinn für Proportionen vermissen lassen, bis hin zu ehemaligen
Kritikern der dependencia, die jetzt Demokratie und (kapitalistische)
Marktwirtschaft für untrennbar erklären und Loblieder auf den
Kapitalismus singen. Basisaktivisten mit hohem Reflexionsniveau, von
denen man gern richtungweisende Interpretationen des revolutionären
Prozesses lesen würde, betätigen sich unermüdlich als Organisatoren. Sie
machen also lieber Tag für Tag neue Erfahrungen, statt zu versuchen,
diese dann auch einmal zu verallgemeinern. Das lässt den Ideologen freien
Raum: Da gibt es merkwürdige externe Sinnstifter der bolivarianischen
Revolution, die sich einer recht eigenwilligen Terminologie bedienen, um
eine Art Schrumpfmarxismus mit obskurantistischen Versatzstücken als
Quintessenz des Chavismus zu verkünden.
Und die internationale Solidarität? In Erinnerung an Chile und Nicaragua
sollte es doch möglich sein, nicht wieder alle Fehler zu wiederholen,
die in früheren Solidaritätsbewegungen begangen wurden: das Hochjubeln
von Führergestalten politisch-militärischer Organisationen, die blinde
Identifizierung mit den Kämpfern anderswo, die immer schon deshalb im
Recht sind, weil sie dem US-Imperialismus mutig widerstehen, die
Übernahme aus der Mode gekommener realsozialistischer Rituale, die ihre
erste Blüte in der Stalinzeit hatten. Auf dieser Linie liegt für mich die
Wiederaufnahme der Tradition der Weltjugendfestspiele, die 1947 als
Jubelveranstaltung für Josef Stalin begonnen hatten. Hugo Chávez hat es
eigentlich nicht nötig, sich auf diese Weise unter der Regie bewährter
Jugendfunktionäre bejubeln zu lassen.
Realsozialistische Rituale haben etwas von einer ansteckenden Krankheit,
die alle uns bekannten Befreiungsbewegungen infiziert hat, besonders
wenn sie die Regierungsgewalt übernommen haben. Sie kommen der
Autoritätsgläubigkeit einer neu entstehenden Schicht mittlerer
Funktionäre entgegen, die mit verbalem Radikalismus ihre Denkfaulheit und
Inkompetenz verschleiern. Es steht zu befürchten, dass auch unter dem
Regime von Hugo Chávez eine solchen Schicht entsteht. Dass also die
Pflege realsozialistischer Bräuche wieder aufgenommen wird, verstärkt
durch eine problematische Art internationaler Solidaritätsbekundung und
die Anlehnung an das offizielle Kuba. Dagegen steht bis heute die
aufopferungsvolle Arbeit einer Vielzahl von Aktivisten an der sozialen
Basis, die neue Formen autonomer Organisation hervorgebracht haben und am
Leben halten. Dass unter der Präsidentschaft von Hugo Chávez ein
Spielraum für solche Aktivitäten geschaffen und bis heute erhalten worden
ist, halte ich für sein wichtigstes Verdienst.
Eine ausführliche Fassung dieses Textes erschien in: "Jahrbuch
Lateinamerika" Nr. 29, "Neue Optionen lateinamerikanischer Politik",
Münster (Westfälisches Dampfboot) 2005.