Jörn Leonhard
Jörn Leonhard/Mittelweg 36
Eurozine
Mittelweg 36
Mittelweg 36 4/2005
2005-08-26
Gewalt und Partizipation*
Die Zivilgesellschaft im Zeitalter des Bellizismus
Zivilität und Gewalt: Die Geschichte der Verzögerung und Verhinderung zivilgesellschaftlicher Elemente?
Der Wandel der societas civilis sive res publica, der vormodern gedachten Einheit von Staat und Gesellschaft, in das Deutungsmuster der bürgerlichen Gesellschaft, in der plurale Interessen miteinander konkurrierten und in zunehmend kritisch-selbstbewußter Absetzung gegen den Staat aktualisiert wurden, war weder ein bloßer semantischer Wechsel noch ein isolierter Prozeß. Er war vielmehr auf das engste mit zwei weiteren Basisprozessen im Übergang von der alteuropäischen Ständegesellschaft zur Moderne verknüpft, der Industrialisierung sowie der Nationalstaatsbildung. In der Schwellenzeit seit etwa 1750 markierte der semantische Übergang von der societas civilis sive res publica zum System konkurrierender Bedürfnisse und Einzelinteressen einen krisenhaften Prozeß, der durch grundlegende politisch-konstitutionelle und sozioökonomische Erfahrungsumbrüche seit dem Beginn der Doppelrevolution im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gekennzeichnet war. Bürgerliche Gesellschaft stellte als zeitgenössisches Deutungsmuster des 19. Jahrhunderts, wie Zivilgesellschaft heute, sowohl einen historischen Erfahrungshintergrund als auch einen Erwartungshorizont dar, sie war Erfahrungsdeutung und Erwartungsprojektion. Erst aus der Spannung dieser beiden historischen Zeitebenen ergab sich das analytische und kritische Potential, damit aber zugleich der diskursive Erfolg dieses Etiketts. Vgl. zur historischen Semantik Manfred Riedel, "Gesellschaft, bürgerliche", in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, ND; 1994, S. 719-800 sowie Reinhart Koselleck, Willibald Steinmetz und Ulrike Spree, "Drei bürgerliche Welten. Zur vergleichenden Semantik der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich ", in: H.-J. Puhle (Hrsg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit, Göttingen 1991, S. 14-58.
Der Begriff der Zivilgesellschaft zielt auf den intermediären "Raum gesellschaftlicher Selbstorganisation zwischen Staat, Markt und Privatsphäre, ein Bereich der Vereine, Zirkel, Netzwerke und Non-Governmental-Organizations [...], von denen angenommen und erwartet wird, daß er ein Raum öffentlicher Diskussion, Konflikte und Verständigung, eine Sphäre der Selbständigkeit von Individuen und Gruppen, ein Bereich der Dynamik und Innovation und ein Ort der Anstrengung für das Gemeinwohl sein kann, so unterschiedlich dieses in einer pluralen Gesellschaft auch verstanden wird". Jürgen Kocka, "Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen", in: Manfred Hildermeier, Jürgen Kocka und Christoph Conrad (Hrsg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt am Main, S. 13-40, hier: S. 21. Eine solche idealtypische Definition geht über die reine Beschreibung und das analytische Verständnis historischer Entwicklungen, also der Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen, hinaus. Sie verweist auf eine normativ-präskriptive Funktion des Begriffes Zivilgesellschaft, der in diesem Sinne einen Fluchtpunkt historischer Entwicklungen markiert. Das hat zunächst den Vorteil, als Idealtypus auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau die Komplexität von historischen Entwicklungswegen zu reduzieren. Bei der Argumentation vom Erwartungshorizont her stellt sich jedoch das Problem der retrospektiven Kausalität, also die bewußte oder unbewußte Konstruktion eines scheinbar "folgerichtigen" linearen Erfolgsnarrativs, das mit der projizierten Verwirklichung zivilgesellschaftlicher Normen verbunden wird. Im Extremfall kann diese retrospektive Sicht, die Argumentation vom erhofften Ergebnis her, zur Ausblendung von Entwicklungen führen, die dem Modell der Zivilgesellschaft scheinbar zuwiderliefen, es behinderten oder partiell scheitern ließen.
Demgegenüber läßt sich mit einem stärker deskriptiv-analytischen Begriff von Zivilgesellschaft, der auf die Varianz der historischen Prozesse und die Differenz der historischen Kontexte zielt, einer solchen Gefahr vorbeugen. Gegenüber der Horizontlinie einer erfolgreichen zivilgesellschaftlichen Entwicklung, einer gleichsam überhistorischen und transkontextuellen Norm, fokussiert dieser Ansatz die Vielfalt möglicher Entwicklungen der Vergangenheit, trägt mithin zum Verständnis der Pluralität des historischen Phänomens bei, und zwar sowohl in diachroner Perspektive, also im historischen Wandel, als auch synchron, also im Vergleich verschiedener Kontexte. Zu diesem Möglichkeitsspektrum gehört auch das Verständnis der Kräfte und Faktoren, die die Ausbildung zivilgesellschaftlicher Elemente scheinbar behindert, verspätet oder gar verhindert haben. Damit aber tritt zumal das Verhältnis zwischen Zivilität und Gewalt als einer vermeintlichen Basisantinomie des zivilgesellschaftlichen Deutungsmusters in den Vordergrund. Will man dessen historische Genese und Transformation erschließen, bietet sich ein komparativer Ansatz an. Der folgende Aufriß soll dies am Beispiel des Zusammenhangs von Bellizismus und Nationsdeutungen vor dem Hintergrund europäischer und nordamerikanischer Erfahrungen institutionalisierter kollektiver Gewalt in Bürgerkriegen und zwischenstaatlichen Kriegen skizzieren. Vgl. Jörn Leonhard, "Vom Nationalkrieg zum Kriegsnationalismus - Projektion und Grenze nationaler Integrationsvorstellungen in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten im Ersten Weltkrieg", in: Ulrike v. Hirschhausen und Jörn Leonhard (Hrsg.), Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001, S. 204-40 sowie ders., "Nationalisierung des Krieges und Bellizierung der Nation: Die Diskussion um Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten seit den 1860er Jahren", in: Christian Jansen (Hrsg.), Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert: ein internationaler Vergleich, Essen 2004, S. 83-105; und Jörn Leonhard, "Der Ort der Nation im Deutungswandel kriegerischer Gewalt: Europa und die Vereinigten Staaten 1854-1871", in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2004, S. 111-38. Ausgangspunkt ist dabei der ursächliche Zusammenhang, der zwischen genuin zivilgesellschaftlichen Deutungselementen der Aufklärungsperiode, also vor allem der Forderung nach aktiver Teilhabe und Teilnahme des verantwortlichen Bürgers am Gemeinwesen, seiner Verantwortung für das Gemeinwohl und die Wendung gegen ständische Bevormundung und absolutistischen Staatsdirigismus, und den zeitgleich entstandenen neuartigen Nationskonzepten und Kriegserfahrungen bestand.
Nation und Krieg: Die Tektonik von Partizipationsverheißung, Gewaltbereitschaft und Staatsmacht
Die "eigentlich politische Unterscheidung" sei, so Carl Schmitt 1927, die "von Freund und Feind". Sie gebe "menschlichen Handlungen und Motiven ihren politischen Sinn", sie ermögliche auch erst jene begriffliche Bestimmung, ohne die es keine Kriterien in den Formen, Prozessen und Inhalten der Politik geben könne. Alle politischen Begriffe und Vorstellungen rekurrierten, so Schmitt, auf diese Gegensätzlichkeit, deren "letzte Konsequenz" sich "in Krieg oder Revolution" äußere. Eine Welt, in der es gelänge, die "Möglichkeit eines Krieges" restlos auszuschließen, sei eine "Welt ohne die Unterscheidung von Freund und Feind und infolgedessen eine Welt ohne Politik". Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1927), Hamburg 1933, S. 7, 13, 15f. und 18; vgl. dazu Pasquale Pasquino, "Bemerkungen zum 'Kriterium des Politischen' bei Carl Schmitt", in: Der Staat 25 (1986), S. 385-98; Christian Meier, "Zu Carl Schmitts Begriffsbildung - Das Politische und der Nomos", in: Heinz Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 537-56; Ernst Wolfgang Böckenförde, "Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts", in: ebd., S. 283-99; Ernst Vollrath, "Wie ist Carl Schmitt an seinen Begriff des Politischen gekommen?", in: ZfP 36 (1989), S. 151-68; Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauß und der 'Begriff des Politischen'. Erweiterte Ausgabe, Stuttgart 1998, sowie vor allem Wilfried Nippel, "Krieg als Erscheinungsform der Feindschaft", in: Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, hrsg. von Reinhard Mehring, Berlin 2003, S. 61-70. Die von Schmitt entwickelte polemische Tektonik des Politischen, das Grundsätzliche des Antagonismus zwischen Selbstdeutung und Feindbild und seine Manifestation in Krieg und Revolution, begleitete auch einen langfristigen Prozeß, in dem sich Nationen, Nationalstaaten und nationale Ideologien ausbildeten. Es war kein Zufall, daß auf dem scheinbaren Höhepunkt dieser Entwicklung zwischen den 1850er und 1870er Jahren aufmerksame Zeitgenossen diesen Zusammenhang analytisch zu erfassen suchten. So behandelte der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt den Krieg in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" als "Völkercrisis" und "nothwendiges Moment höherer Entwicklung". Dabei verwies er vor allem auf die Funktion des Krieges, im Umgang zwischen den Völkern den Erweis der jeder einzelnen Nation zugehörigen Kraft aufzudecken: Ein Volk lerne "seine volle Nationalkraft nur im Kriege, im vergleichenden Kampf gegen andere Völker kennen, weil sie nur dann vorhanden ist". Daher auch reinigten "die Kriege wie Gewitterstürme... die Atmosphäre, stärken die Nerven, erschüttern die Gemüther, stellen die heroischen Tugenden her, auf welchen ursprünglich die Staaten gegründet gewesen". Jacob Burckhardt, Studium der Geschichte. Der Text der "Weltgeschichtlichen Betrachtungen " auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler, hrsg. von Peter Ganz, München 1982, S. 343ff.
Was erlaubte es aber dem Nationalstaat, in seinem Namen und unter permanentem Rückgriff auf die Legitimationsformel der Nation Millionen seiner Bürger in den Krieg zu schicken, sie zu millionenfachem Töten anzuhalten und ihr millionenfaches Opfer einzufordern? Der moderne Nationsbegriff war auch eine Kriegsgeburt, resultierte auch aus Kriegserfahrungen und ihrer kollektiven Aneignung durch bellizistische Deutungsmuster. So wie der Krieg den Prozeß der frühneuzeitlichen Staatsbildung maßgeblich bestimmte, so war er auch für die modernen Nationsbildungsprozesse konstitutiv. Vgl. zuletzt Herfried Münkler, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, 2. Aufl. Weilerswist 2003, S. 53ff. und 75ff.; vgl. zur deutschen Perspektive Jörg Echternkamp und Sven Oliver Müller (Hrsg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen, München 2002; Werner Rösener (Hrsg.), Staat und Krieg. Vom Mittelalter bis zur Moderne, Göttingen 2000; vgl. zur Forschungslage insgesamt Edgar Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 49ff., 66ff. und 95ff. Dabei kam dem Bellizismus als Ausdruck militärischer Anstrengungen und militarisierter Deutungsmuster im Namen der Nation im Übergang vom ständisch-korporativen zum bürgerlichen Staat zugleich eine emanzipatorische Funktion zu: Denn langfristig griff die Massenkriegsführung immer umfassender auf alle Teilgruppen der Gesellschaft zurück. Indem die Gesellschaft als Nation in Waffen unentbehrlich für die moderne Kriegsführung wurde, erfuhr der Krieg zugleich seine Demokratisierung. Einerseits dynamisierte diese Entwicklung die neue nationale Legitimation staatlichen Handelns, andererseits provozierte sie neuartige Ansprüche der Staatsbürger auf gleichberechtigte Anerkennung und politisch-soziale Teilhabe an der Nation. Das komplexe Verhältnis von Krieg und Nation entfaltete sich mithin in der Tektonik staatlicher Bedürfnisse und partizipatorischer Ansprüche. Vgl. im Überblick Alan Forrest, "The Nation in Arms I: The French Wars", in: Charles Townshend (Hrsg.), The Oxford History of Modern War, Oxford 2000, S. 55-73; David French, "The Nation in Arms II: The Nineteenth Century", in: ebd., S. 74-93; vgl. allgemein Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des "Militarismus" in Deutschland, 4 Bde., München 1952ff.; sowie Werner Gembruch, Staat und Heer, hrsg. von Johannes Kunisch, Berlin 1990; vgl. zum vormodernen Kontext Johannes Burkhardt, "Der Dreißigjährige Krieg als moderner Staatsbildungskrieg", in: GWU 45/8 (1994), S. 487-99; Johannnes Kunisch, (Hrsg.), Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, Berlin 1986; sowie ders., Fürst - Gesellschaft - Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates, Köln 1992; zum Verhältnis zwischen Krieg und Nationsbildung vgl. die Beiträge von Ute Frevert, Rudolf Jaun, Hew Strachan, Stig Förster und Dietrich Beyrau im ersten Abschnitt "Militär und Nationsbildung" in Ute Frevert (Hrsg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 17-142; sowie für Deutschland die Beiträge von Georg Schmidt, Horst Carl und Nikolaus Buschmann in: Dieter Langewiesche und Georg Schmidt (Hrsg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 33-111. Diese Tektonik aber hatte für die Ausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen weitreichende Folgen, und zwar je spezifische in unterschiedlichen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeiten.
Zugleich ging in die Kriegsdeutung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts der gedankliche Horizont des Bürgerkriegs ein, und zwar als konstitutiver Bestandteil der Aufklärung. Absolutismuskritik schloß dabei keinesfalls bellizistische Elemente aus; entscheidend war die Legitimation des Krieges durch Verweis auf die Teilhabe des aufgeklärten Bürgers. Der französische Philosoph Abbé Mably sah den Grund für die Eroberungskriege des 18. Jahrhunderts im Despotismus der Regierungen. Einen revolutionären Bürgerkrieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker begriff er entsprechend als regelrechte Wohltat, als "bien", und legitimierte in diesem Zusammenhang ausdrücklich die "nation militaire". Gabriel Bonnot, Abbé de Mably, Des droits et des devoirs du citoyen, Kell 1789, S. 93f. Mit der Französischen Revolution gelangten solche Überlegungen auf eine völlig neue Wirkungsebene, indem der neue Revolutionsbegriff zunächst das Deutungsmuster des Bürgerkrieges aufnahm. Im Fortgang der Revolution trat dann aber das Muster von Nationalismus und zwischenstaatlichem Nationalkrieg immer mehr hervor und überlagerte die Vorstellung eines revolutionären und internationalen Bürgerkrieges aller Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Damit stand der Nationalkrieg argumentativ zwischen dem tradierten Staatenkrieg der vorrevolutionären Ordnung Alteuropas und dem universalen Bürgerkrieg. Vgl. Johannes Kunisch und Herfried Münkler (Hrsg.), Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1999. Zugleich übernahm der Staat den aus der Selbstorganisation der Gesellschaft im Namen der Nation zielenden Impuls und kanalisierte ihn: Den Aufgeboten der Freiwilligen von 1792 folgte die zielgerichtete levée en masse. Vgl. zuletzt Daniel Moran und Arthur Waldron (Hrsg.), The People in Arms. Military Myth and National Mobilization since the French Revolution, Cambridge 2003.
Das Deutungsmodell des universellen Bürgerkrieges aller Unterdrückten gegen alle Unterdrücker, das einen wesentlichen Bestandteil des aufgeklärten Programms gegen den etablierten Absolutismus dargestellt hatte, verwandelte sich in den zwischenstaatlichen Nationalkrieg, der Staat und Gesellschaft in neuer Weise auf die übergeordnete Größe der Nation ausrichtete. Damit traten externe Feindbilder, die Abgrenzung der Nation gegenüber einem äußeren Feind, in den Vordergrund. Insofern lassen unmittelbare Kriegserfahrungen oder durch Kriegsdeutungen und -antizipationen generationell vermittelte bellizistische Erfahrungen den Zusammenhang zwischen Zivilität und Gewalt nicht als antagonistisch erscheinen: Solange die im Krieg erfahrene Gewalt durch die Berufung auf die Nation als einer höherwertigen Leitkategorie legitimiert war, blieb sie durchaus kompatibel mit dem Programm gesellschaftlicher Selbstorganisation und freiheitlicher Verfassung.
Eine einfache Oppositionierung zwischen zivilgesellschaftlichen Forderungen, zumal die Hoffnung auf Partizipation und selbstverantwortliche Organisation von Interessen, und bellizistischen Nationskonzepten läßt sich also nicht a priori behaupten. Diese Entgegensetzung war keine Voraussetzung, sondern das Ergebnis eines historischen Lern- und Deutungsprozesses, der auf das engste mit der Erfahrungsgeschichte europäischer Nationalstaaten und Nationalismen verknüpft ist. Zumal auf der Ebene der politischen Theoriebildung zeigte sich dieses ausgesprochene Nebeneinander von zivilgesellschaftlichen und bellizistischen Deutungselementen. In das Deutungsmuster der Zivilgesellschaft ging nicht allein das von Hegel herausgearbeitete System der Bedürfnisse ein, sondern auch das zumal im anglo-amerikanischen Raum entwickelte Ideal der am klassischen Republikanismus orientierten Bürgerbeteiligung. Diese aktive Bürgerbeteiligung konkretisierte sich zumal in der Bürgermiliz, die von Machiavelli und Ferguson, aber auch von Rousseau im Gegensatz zu stehenden Söldnerheeren besonders hervorgehoben wurde. Bereits in seinem Entwurf zu einer polnischen Verfassung von 1762 betonte Rousseau das Nebeneinander von republikanischer Bürgergesinnung und Patriotismus: "Tout vrai républicain suça avec le lait de sa mère l¹armour de sa patrie, c¹est-à-dire, des loix et de la liberté." Jean-Jacques Rousseau, "Considérations sur le gouvernement de Pologne et sur sa reformation projettée" (1772), in: Ders., Oeuvres complètes, hrsg. von B. Gagnebin et al., Paris 1959-1969, hier: Bd. 3, S. 966. Der Nationalcharakter, so Rousseau in seinem Entwurf für eine korsische Verfassung von 1765, sei jedoch nicht vorgegeben, sondern durch entsprechende Erziehung zu erzielen. Dazu gehörte nicht allein der Bürgereid, sondern auch die Verpflichtung zum Opfertod für die Nation. Im Rahmen der volonté générale erschien die mit dem Staat zusammenfallende Nation als Kollektivwesen, mit dessen Interessen sich alle Einzelwillen identifizierten und für das die einzelnen Bürger bereit sein sollten zu sterben: "Je m¹unis de corps, de biens, de volonté et de toute ma puissance à la nation corse pour lui appartenir en toute propriété, moi et tout ce qui dépend de moi. Je jure de vivre et mourir pour elle." Jean-Jacques Rousseau, "Projet de constitution pour la Corse" (1765), in: Ders., Oeuvres (wie Anm. 11), Bd. 3, S. 913.
Immanuel Kant äußerte sich zwar kritisch zu den mit stehenden Heeren geführten Staatenkriegen seiner Gegenwart: "Durch Neigung bilden sich kleine Gesellschaften, durch Bedürfnis bürgerliche und durch Krieg Staaten." Immanuel Kant, "Handschriftlicher Nachlaß", in: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 29 Bde., Berlin1900-1983, hier: Bd.15, S. 607. Andererseits erschien der Krieg ihm auch als Mittel der Förderung des zivilisatorischen Fortschrittes: "Auf der Stufe der Cultur also, worauf das menschliche Geschlecht noch steht, ist der Krieg ein unentbehrliches Mittel, diese noch weiter zu bringen; und nur nach einer (Gott weiß wann) vollendeten Cultur würde ein immerwährender Friede für uns heilsam und auch durch jene allein möglich sein." Der Krieg könne "ungeachtet der schrecklichsten Drangsale, womit er das menschliche Geschlecht belegt", als "Triebfeder" wirken, "alle Talente, die zur Cultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln ". Immanuel Kant, "Mutmaßlicher Anfang des Menschengeschlechts" (1786), in: Ders., Schriften (wie Anm. 13), Bd. 8, S. 121; sowie ders., "Kritik der Urteilskraft" (1790), S. 83, in: ebd., Bd. 5, S. 433. Solche Kriegsdeutungen antizipierten einen eigenen bürgerlichen Bellizismus in Deutschland, auf den nach den Erfahrungen der 1860er und 1870er Jahre zurückgegriffen werden konnte. Auch Hegel betonte die "Notwendigkeit des Krieges [...], der (weil in ihm die freie Möglichkeit ist, daß nicht nur einzelne Bestimmtheiten, sondern die Vollständigkeit derselben als Leben vernichtet wird, und zwar für das Absolute selbst oder für das Volk) ebenso die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Differenz gegen die Bestimmtheiten und gegen das Angewöhnen und Festwerden derselben erhält, als die Bewegung der Winde die Seen vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Stille wie die Völker ein dauernder oder gar ein 'ewiger Frieden' versetzen würde". Georg Wilhelm Friedrich Hegel, "Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts ", in: Sämtliche Werke, hrsg. von H. Glockner, 20 Bde., Stuttgart 1927-1930, hier: Bd. 1, S. 487. Auch in seiner Rechtsphilosophie betonte er das sittliche Moment des Krieges "nicht als absolutes Übel und als eine bloß äußerliche Zufälligkeit". Im Frieden dehne sich "das bürgerliche Leben mehr aus, alle Sphären hausen sich ein, und es ist auf die Länge ein Versumpfen der Menschen; ihre Partikularitäten werden immer fester und verknöchern". Georg Wilhelm Friedrich Hegel, "Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse" (1821), in: Werke (wie Anm. 15), Bd. 7, S. 324.
Deutsche Liberale des Vormärz und erst recht nach 1848/49 wandten sich nicht gegen den Nationalkrieg als solchen, sondern lehnten die aus dem Absolutismus hervorgegangene Organisation stehender Heere ab, dem sie das Ideal einer Miliz politisch verantwortlicher Staatsbürger entgegenstellten. Carl von Rotteck reagierte 1816 auf die neue Erfahrung des Krieges, als er einerseits die Auswirkungen einer allgemeinen Wehrpflicht kritisierte und Ausnahmen für die gebildeten und besitzenden Stände forderte und andererseits den drohenden Militärdespotismus anprangerte. Seine Fragen "Soll der Schutz des Staates fortan einem stehenden Heer, soll er der Nationalmiliz anvertraut bleiben? Wollen wir die Nation selbst zum Heer oder wollen wir die Soldaten zu Bürgern machen?" antizipierten ein Grundproblem aller zukünftigen Nationalstaaten, denn sie formulierten den bürgerlichen Partizipationsanspruch auch in der Sphäre des Militärischen gegenüber dem potentiellen staatlichen Militärdespotismus. Seine Antwort lief auf die Abschaffung stehender Heere und die Etablierung einer Nationalmiliz hinaus, in der nicht Soldaten und Söldner, sondern freie Nationalstreiter kämpfen sollten: "Die Abschaffung der stehenden Heere [...] wäre [...] die Fülle des himmlischen Segens; es wäre die Ankündigung einer bleibenden Herrschaft des Rechtes und der Humanität, der innern und äußern Freiheit und des Friedens." Carl von Rotteck, "Ueber stehende Heer und Nationalmiliz" (1816), in: Ders., Sammlung kleinerer Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1829, S. 189ff., 207f. und 214f.
Der hier angedeutete Zusammenhang zwischen Massenmobilisierung, neuartig legitimiertem Gewaltbegriff in Nationalkriegen und politischen Partizipationsansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft blieb nicht ohne Folgen für die Ausbildung zivilgesellschaftlicher Elemente. In den Nationalkriegen des 19. Jahrhunderts war es zumal der Machtstaat, der sich der in den Revolutionskriegen erwiesenen enormen Mobilisierung der Gesellschaft im Namen der Nation bediente und diese Mobilisierung organisierte und institutionalisierte, so vor allem durch das Mittel der Wehrpflicht. Vgl. Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001. Der in den Revolutionskriegen entfachte nationale Bellizismus schien das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft insofern zu überbrücken, als Staat und Gesellschaft im Namen der Nation zusammenwirken sollten. Diese Legitimation staatlicher und gesellschaftlicher Gewalt verhieß die Einheit einer homogenen Kriegergemeinschaft zum Schutz der von außen und innen bedrohten Nation. Im Nationalkrieg ließen sich die dynamischen Interessenantagonismen der bürgerlichen Gesellschaft auf einen gemeinsamen Zielhorizont, eben auf die Nation hin projizieren.
Pluralität der Ausgangsbedingungen und Erfahrungsmuster: Preußen-Deutschland, Großbritannien und Nordamerika
In idealtypischer Konkretion erschienen Wahlrecht und Wehrpflicht des Staatsbürgers als zwei Seiten desselben nationalen Deutungsmusters. Anders als der um Eingrenzung der Bataillen bemühte Kabinettskrieg des Ancien régime, hob der Nationalkrieg die Separierung zwischen Militär und Gesellschaft potentiell auf. Das führte dem Staat in Form neuer Armeen ein neues Machtinstrument zu und hatte langfristig enorme Konsequenzen für die Begründung und Rechtfertigung staatlicher Gewalt im Namen der Nation. Aber ergab sich daraus notwendig auch die Beschränkung und Verzögerung zivilgesellschaftlicher Entwicklungspotentiale? Was die vergleichende Analyse des Zusammenhangs zwischen Gewalterfahrungen, Kriegsdeutungen und Nationskonzepten zeigt, ist eher eine spezifische Ambivalenz, ein Nebeneinander von Partizipationsverheißung und Selbstorganisation von Interessen mit dem Ziel der Teilhabe an der Nation einerseits und der Gewaltbereitschaft andererseits. Die Berufung auf die Nation erlaubte beides: Sie legitimierte staatlich institutionalisierte Gewalt in einem bisher unbekannten Ausmaß, aber sie ließ auch neuartige Kanäle und Foren tatsächlicher oder projizierter Teilhabe und Teilnahme entstehen. Kriege und die Aneignung von Kriegserfahrungen waren grundlegende Bestandteile dieses Prozesses. Bereits die zeitgenössischen Kriegsdeutungen verwiesen auf diese grundsätzliche Ambivalenz. Die kontinentaleuropäischen Regierungen setzten daher bis 1870 und zumal nach den Erfahrungen mit den Ansätzen einer französischen levée en masse 1870/71 alles daran, die Eskalation des National- und Volkskrieges zu verhindern. Im folgenden seien unterschiedliche historische Erfahrungsmuster im Verhältnis von Zivilgesellschaft, Bellizismus und Nationalismus zumindest angedeutet. Dabei sollen für Preußen-Deutschland, Großbritannien und die Vereinigten Staaten nicht nur unterschiedliche Ausgangsbedingungen deutlich werden, sondern vor allem das spannungsreiche Nebeneinander von Kriegserfahrungen und Partizipationserwartungen im Namen der Nation.
Preußen-Deutschland: Kriegserfahrungen als Partizipationschance - die Ambivalenz des Volkskrieges
Preußen zog die Konsequenz aus der Erfahrung der Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts am weitestgehenden mit der Einführung der Wehrpflicht ohne Stellvertretung. Weil aber hier im ausgesprochenen Gegensatz zum revolutionären Frankreich die Berufung auf die Staatsbürgernation fehlte, die es in Frankreich zumindest in der Fiktion gab, konnte der Staat, später der preußische Machtstaat, für den bürgerlichen Bellizismus die beherrschende Orientierungslinie werden. Vgl. Ute Frevert, "Das jakobinische Modell. Allgemeine Wehrpflicht und Nationsbildung in Preußen-Deutschland", in: Dies. (Hrsg.), Militär (wie Anm. 7), S. 17-47. Das verknüpfte sich mit der den deutschen Liberalen eigenen Orientierung an einem Zusammenwirken von reformfähigem Staat und Gesellschaft zur Abwehr einer gewaltsamen Revolution. Das lange Festhalten am vormodernen Ideal einer gleichsam politikfreien, mindestens aber einer über der Parteipolitik stehenden societas civilis sive res publica verwies dabei nicht allein auf die Prägekraft des aufgeklärten Reformabsolutismus, sondern auch auf die konkrete Erfahrung von Reformstaatlichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts, mit der sich der französischen Erfahrung zwischen 1789 und 1815 eine 'Revolution im guten Sinne' (Hardenberg) entgegenhalten ließ. Die Rolle des preußischen Machtstaates als erfolgreicher Kriegsstaat 1864, 1866 und 1870/71 vertiefte diese Orientierung der Liberalen am Staat und am Ideal der 'friedliche Koexistenz' von Staat und Gesellschaft. Vgl. Jörn Leonhard, Liberalismus - Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001, S. 431f.
Bereits die Erfahrung der italienischen Konflikte von 1859/61 führte in Deutschland zu einer schärferen Konturierung des Nationalkriegs. Dabei wurde vor allem der Gegensatz zu den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts betont. Gegenüber der monarchischen Grundmaxime des Ancien régime, die Bataillen als Kriege mit relativ kleinen militärischen Einheiten vom Bürger möglichst fernzuhalten, basierte der National oder Nationenkrieg auf der Verabsolutierung und Universalisierung eines externen Feindbegriffes: "Der Nationenkrieg sieht in jedem Gliede des feindlichen Volkes einen Feind, der bekämpft oder wenigstens unschädlich gemacht werden muß." Julius Weiske (Hrsg.), Rechtslexikon für Juristen aller Teutschen Staaten enthaltend die gesamte Rechtswissenschaft, Bd. 6, Leipzig 1845, S. 221. Zumindest in der Projektion schloß dies konkurrierende innergesellschaftliche Orientierungsmuster wie Region oder Konfession aus und machte den Nationalkrieg als integratives Deutungsmuster besonders attraktiv. Dabei trat die ursprüngliche Vorstellung des Krieges als gleichsam internationaler Bürgerkrieg, als Befreiung unterdrückter Völker im Namen der Humanität gegenüber machtstaatlichen Motiven zurück. Hinter diesen standen, wie es in einer verbreiteten bildungsbürgerlichen Enzyklopädie der 1860er Jahre hieß, zunehmend nationale Interessen, die jedoch ausdrücklich voluntaristisch gedeutet wurden: "Soll nämlich der Krieg mit der ganzen Kraft der Nation geführt werden, so muß er auch aus dem Willen der Nation hervorgegangen sein." Berner, "Artikel Krieg, Kriegsrecht (Politisch und völkerrechtlich)", in: Johann Caspar Bluntschli und Carl Brater (Hrsg.), Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 6, Stuttgart 1861, S. 105. Kriege, so schien es 1886, würden "einzig und allein für große und gerechte nationale Interessen [...] geführt werden". Löbel, "Krieg", in: Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber (Hrsg.), Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, Leipzig 1886, S. 381.
Sosehr Militär und Kriegsdeutung nach 1871 in den Dienst der inneren Nationsbildung gestellt wurden, so fragil blieb diese Konstellation, wie die durch den totalen Krieg ausgelöste politisch-gesellschaftliche Legitimationskrise nach 1914 bewies. Das deutete sich bereits in zeitgenössischen Kriegsdeutungen nach 1871 an: Der Nationalkrieg, stärker noch der Volkskrieg mit seiner potentiellen Entfesselung der Volksmassen im Zeichen neuer politisch-sozialer Partizipationsansprüche, konnte die überkommene Position des Staates als zentrales Lenkungsorgan in Frage stellen. So sehr sich der Staat bemühte, das Potential der bewaffneten Gesellschaft durch Lenkung und Organisation, vor allem im Prinzip der Wehrpflicht zu kanalisieren, so deutlich blieb die Furcht vor der Entfesselung revolutionärer Energien im Volkskrieg, der eben auch ein Erbe des Bürgerkrieges war. In dem Ausmaß, in dem damit der traditionelle Primat des Politischen von gesellschaftlichen Interessen mindestens herausgefordert, wenn nicht bereits unterminiert wurde, ließ diese Perspektive genuin innenpolitische Konflikte, zumal solche sozioökonomischen Ursprungs, deutlicher hervortreten. Helmuth von Moltke bemerkte1890: "Aber [...] die Fürsten und überhaupt die Regierungen sind es wirklich nicht, welche in unseren Tagen die Kriege herbeiführen. Die Zeit der Kabinettskriege liegt hinter uns -, wir haben jetzt nur noch den Volkskrieg, und einen solchen mit allen seinen unabsehbaren Folgen heraufzubeschwören, dazu wird eine irgend besonnene Regierung sich sehr schwer entschließen. Nein, [...] die Elemente, welche den Frieden bedrohen, liegen bei den Völkern. Das sind im Innern die Begehrlichkeit der vom Schicksal minder begünstigten Klassen und ihre zeitweisen Versuche, durch gewaltsame Maßregeln schnell eine Besserung ihrer Lage zu erreichen [...] Von außerhalb sind es gewisse Nationalitäts- und Rassenbestrebungen, überall die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Das kann jederzeit den Ausbruch eines Krieges herbeiführen, ohne den Willen der Regierungen und auch gegen ihren Willen." Helmuth von Moltke, "Rede im Reichstag vom 14. Mai 1890", in: Reinhard Stumpf (Hrsg.), Kriegstheorie und Kriegsgeschichte. Carl von Clausewitz und Helmuth von Moltke, Frankfurt am Main 1993, S. 504-507, hier: S. 504f. Der entfesselte Volkskrieg als Erbe des Revolutionszeitalters würde sich, so die Erwartung, nicht mehr staatlich lenken und kanalisieren lassen. Die militärstrategische Entscheidung für den "kurzen" Krieg der Zukunft ließ sich somit auch als Versuch deuten, weitergehende politisch-soziale Partizipationsforderungen zu verhindern und damit die Tektonik des Nationalstaates zu bewahren. Das erhellt, warum der Erste Weltkrieg, der nach dem Scheitern des Schlieffen-Plans nur noch als industrieller Massenkrieg zu führen war, eine ungeahnte Legitimations- und Loyalitätskrise für den deutschen Nationalstaat bedeutete.
Diese defensiv-skeptische Reaktion spiegelte nicht zuletzt auch ein Unbehagen an der durch Kriegserfahrung und bellizistischen Diskurs ermöglichten kollektiven Teilhabe an der Nation wider, die sich durch das Vereinswesen auch über die unmittelbare Kriegsteilnahme hinaus verstetigen ließ. Nicht zuletzt die Erfahrung der deutschen Nationalkriege der 1860er und 1870er Jahre trug erheblich zu einem Aufschwung der Kriegervereine im Zweiten Kaiserreich bei. Mit knapp drei Millionen Mitgliedern im Jahre 1913 stellten sie noch vor den sozialdemokratischen Gewerkschaften die größte Massenorganisation dar. Vgl. Thomas Rohrkrämer, Der Militarismus der "kleinen Leute". Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, München 1990. Das vermittelte bellizistische Nationsbild der in den Kriegervereinen organisierten Arbeiter, Angestellten und Handwerker, sosehr es sich an vorgegebenen Machtstrukturen orientierte, war auch ein Vehikel der Partizipation an der Nation auf dem Weg der Selbstorganisation. Es gab nicht allein die gleichsam "von oben" vermittelte Erwartung der Ein- und Unterordnung des einzelnen unter die kriegsbereite Nation, sondern auch die Perspektive "von unten", der in den Vereinen und im Rahmen des bellizistischen Diskurses erfahrbaren gleichberechtigtenTeilhabe am Nationalstaat. Wiederum gerät der Zusammenhang zwischen Wehrpflicht und Wahlrecht in den Mittelpunkt. Vgl. Bernd Ulrich, Jakob Vogel und Benjamin Ziemann (Hrsg.), Untertan in Uniform. Militär und Militarismus im Kaiserreich 1871-1914. Quellen und Dokumente, Frankfurt am Main 2001, Einleitung, S. 9-28. Insofern läßt sich nicht nur ein "doppelter Militarismus", sondern auch ein "doppelter Bellizismus" konstatieren, eine traditionelle machtstaatlich fixierte Kriegsdeutung und eine distinkt bürgerliche, die die Wertnormen der bürgerlichen Gesellschaft mit denen des neuen Nationalstaates zu verbinden suchte, zugleich aber auf ein voluntaristisches Nationsbild abhob. Vgl. zum Begriff Stig Förster, Der doppelte Militarismus. Deutsche Hochrüstungspolitik zwischen Status-quo-Sicherung und Aggression 1890-1913, Stuttgart 1985. Vor diesem Hintergrund ist schließlich zu fragen, inwiefern die Deutung von Kriegserfahrungen im Kaiserreich einen "synthetischen Militarismus" begünstigten, der "ein 'Relais' zwischen Adel und Bürgertum" darstellte und durch den gemeinsamen Rekurs auf die im Krieg zu sich selbst gekommene Nation den Interessenausgleich zwischen beiden Schichten ermöglichte. Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913, München 2001, S. 506.
Großbritannien: Von der peripheren Kriegserfahrung der Empire-Nation zum 'war service' des Weltkrieges
In Großbritannien fehlte zunächst die konkrete Erfahrung des National- und Volkskrieges, die eher als kontinentaleuropäische Phänomene rezipiert wurden. Dagegen wurde hier die Erfahrung der kolonialen Small Wars für das 19. Jahrhundert bestimmend. Vgl. die begriffsprägende zeitgenössische Studie von C. E. Callwell, Small Wars. A Tactical Textbook for Imperial Soldiers, London 1896, ND Novato/Ca. 1990. Die ganz andere, reale und imaginierte Bedrohungssituation ließ auch andere Feindbilder entstehen, die sich charakteristisch von denen des europäischen Kontinents unterscheiden. Hinzu trat als Ausgangsbedingung das früh gescheiterte absolutistische Experiment im 17. Jahrhundert. Daraus entwickelte sich eine einzigartige Konstellation, in der nicht der absolutistische Anstaltsstaat, sondern die fragile Verfassungsbalance von King, Lords and Commons bestimmend wurde. Zugleich wurde, in ostentativer Abgrenzung zu kontinentaleuropäischen Erfahrungen, die Abneigung gegen stehende Heere und sichtbaren Militarismus als Symbol absolutistischer Neigungen zu einem Topos der Whig interpretation of history. Diese Deutungskategorie darf aber nicht einfach als Abbild der Wirklichkeit verstanden werden. Gerade in Großbritannien fällt die Restriktion zivilgesellschaftlicher Errungenschaften in Kriegsphasen auf, so insbesondere die Suspendierung der Habeas-Corpus-Rechte in den Revolutionskriegen bis 1815.
Großbritannien erfuhr eine nationale Ideologisierung von Militär und Krieg in einer paradoxen Weise zugleich früher und später als die kontinentaleuropäischen Gesellschaften: früher durch die im Rahmen der Kriege gegen Spanien und Frankreich seit dem 16. Jahrhundert ausgebildeten antikatholischen Feindbilder, später durch die neue Rolle der Armee als Klammer von Union und Empire seit den 1850er Jahren. Vgl. Linda Colley, Britons. Forging the Nation 1707-1837, London 1992. Einerseits prädestinierten die relative räumliche Abwesenheit des Militärs in Großbritannien und das Kolonialreich die Projektion einer anglisierten Zivilisationsmission der Armee. Andererseits immunisierte dies die Armee aber nicht vor den Folgen der Industrialisierung, wie der Burenkrieg zeigte. Vgl. W. E. Cairnes, The Absent-Minded War, London 1900; L. S. Amery, The Times History of the War in South Africa 1899-1902, 7 Bde., London 1900-1909; sowie H. O. Arnold Forster, The Army in 1906: A Policy and a Vindication, London 1906. Der relativ späten bellizistischen Aufladung britischer Nationsvorstellungen lag hier aber nicht der Nationalkrieg oder die Antizipation des Volkskrieges zugrunde - die Wehrpflicht wurde eben erst unter dem Zwang des Weltkrieges 1916 eingeführt -, sondern rekurrierte auf die Erfahrungen von Krimkrieg, Indian Mutiny in den 1850er Jahren und auf den maritimen Rüstungswettlauf nach 1890 und die weitverbreitete Panik vor einer Invasion vor 1914. Vgl. R. J. Q. Adams und Philip P. Poirer, The Conscription Controversy in Great Britain 1900-1918, Basingstoke 1987, S. 16ff. Entscheidend ist vor diesem Hintergrund auch der Wandel der Liberalen, die sich mit der veränderten Valenz der Armee als Klammer von Union und Empire durchaus anfreunden konnten. Neben Gladstones zivilgesellschaftlichen Konfliktlösungsmodellen stand eben auch der koloniale Bellizismus eines Joseph Chamberlain, der zugleich soziale Reformen einforderte. Vgl. Hew Strachan, "Militär, Empire und Civil Society: Großbritannien im 19. Jahrhundert ", in: Frevert (Hrsg.), Militär (wie Anm. 7), S. 78-93; Michael Paris, Warrior Nation. Images of War in British Popular Culture, 1850-2000, London 2000; Edward M. Spiers, The Army and Society, London 1980; Gwyn Harries-Jenkins, The Army in Victorian Society, London 1977; sowie Alan Ramsay Skelley, The Victorian Army at Home, London 1977.
Die Popularität der Armee als unifizierende Klammer des Empire fand ihren Niederschlag anders als in den kontinentaleuropäischen Gesellschaften nicht in einem Kult der Nation in Waffen, die das Paradigma des Volkskrieges nach 1870 in Frankreich und Deutschland generierte, sondern eher in den paramilitärischen Aktivitäten zahlreicher lokaler Freiwilligenverbände, in denen bürgerliche Schichten und Handwerker auch nach der Jahrhundertwende noch eindeutig dominierten, also genau jene gesellschaftlichen Gruppen, die am seltensten in der Armee dienten. Auch Jugendorganisationen wie die Boys Brigade und die Boy Scouts wirkten im Sinne einer gesellschaftlichen Militarisierung bei gleichzeitig relativer Abwesenheit des Militärs in der gesellschaftlichen Praxis. Vgl. Strachan, Militär (wie Anm.33), S.90; Hugh Cunningham, The Voluntary Force: a Social and Political History 1859-1908, London 1975; Ian F. W. Beckett, Riflemen Form: a Study of the Rifle Volunteer Movement 1859-1908, Aldershot 1982; sowie Hew Strachan, History of the Cambridge University Officers Training Corps, Tunbridge Wells 1976.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs intensivierte diese partizipatorische Dimension eines bellizistischen Nationsverständnisses. Für den modernen Nationalismus hatten Wahlrecht und Wehrpflicht unmittelbare und konstitutive Bedeutung, und beide Aspekte wurden durch die Herausforderung des Krieges virulent. Vgl. Liah Greenfeld, "Nationalism and Democracy. The Nature of the Relationship and the Cases of England, France and Russia", in: F. D. Weil et. al., Research on Democracy and Society, Bd. 1, London 1993, S. 327-51; Roger Brubaker, Citizenship and Nationhood in France and Germany, Cambridge/Mass. 1992, S. 21ff.; Ute Frevert, "Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit", in: Thomas Kühne (Hrsg.), Männergeschichte - Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt am Main 1996, S. 69- 87; sowie zuletzt Sven Oliver Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002. In Großbritannien zog der Kriegsausbruch schon bald eine entsprechende Diskussion um one rifle, one vote nach sich. In der konservativen Presse forderte man, allen Matrosen und Soldaten das volle Wahlrecht zuzugestehen. Dies hatte für ein Land, in dem 1916 zum ersten Mal die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde und in dem eine traditionelle Skepsis gegenüber dem Militär herrschte, weitreichende Folgen, dokumentierte aber eindrücklich die Interdependenz zwischen militärischem Dienst und politischer Partizipationsverheißung als Konstituenten der Nation im Krieg. Wie die Diskussionen 1916/17 zeigten, ging es dabei schon bald auch um das Frauenwahlrecht und das Wahlrecht für Arbeiter. Eine einseitige Bevorzugung der militärischen gegenüber der Heimatfront ließ der industrielle Massenkrieg nicht mehr zu. In den Organen der Liberal Party und der Labour Party wurde das Prinzip des war service herausgehoben, das nicht mehr allein auf die kämpfende Truppe, sondern auch auf die Heimatfront angewandt werden konnte. Der People Act von 1918 gestand allen Soldaten und Matrosen das Wahlrecht ab 19 Jahren zu, allen übrigen Männern mit 21, allen Frauen mit 30 Jahren. Kriegsdienstverweigerern entzog man das Wahlrecht für die Dauer von fünf Jahren. In dieser Perspektive ließ der nationale Dienst, der war service, die politische Partizipationsverheißung des britischen Kriegsnationalismus Wirklichkeit werden. Vgl. M. Pugh, Electoral Reform in War and Peace 1906-18, London 1978; sowie S. S. Holton, Feminism and Democracy. Women's Suffrage and Reform Politics in Britain 1900-1918, Cambridge 1986.
Nordamerika: Vom Erfahrungsumbruch des Bürgerkrieges zur Projektion des 'new type of democracy' im Ersten Weltkrieg
In den Vereinigten Staaten fehlte sowohl die Erfahrung des lang andauernden Revolutionskrieges als auch die der persistenten Small Wars im Rahmen eines globalen Kolonialreiches. Hier fand die Ideologisierung des Krieges zunächst ex negativo, nämlich in der Mythisierung des Unabhängigkeitskampfes als people¹s war auf der Basis improvisierter Milizen gegen die britischen Söldnertruppen statt. Vgl. Stig Förster, "Ein alternatives Modell? Landstreitkräfte und Gesellschaft in den USA 1775-1865", in: Frevert (Hrsg.), Militär (wie Anm. 7), S. 94-118; sowie Jürgen Heideking, "'People's War or Standing Army?' Die Debatte über Militärwesen und Krieg in den Vereinigten Staaten von Amerika im Zeitalter der Französischen Revolution", in: Kunisch und Münkler (Hrsg.), Wiedergeburt (wie Anm. 9), S. 131-52. Auch hier ging es, wie im Falle der Abgrenzung Großbritanniens gegenüber dem Kontinent, um die Konturierung des eigenen nationalen Selbstverständnisses durch Abgrenzung gegenüber Großbritannien, so vor allem in der Berufung auf das Ideal der selbstorganisierten Bürgermiliz als Teil des klassischen Republikanismus. Die Tatsache, daß sich dieser Impuls nicht in einen bellizistischen Nationalismus verwandelte, erklärt sich aus der fehlenden externen Bedrohungssituation nach dem Krieg gegen Großbritannien 1815. So entfalteten sich institutionelle Modernisierung und nationale Ideologisierung von Krieg und Militär erst unter den besonderen Bedingungen des Bürgerkrieges von 1861, der dann aber als neuartiger Volkskrieg zumindest einige der Elemente späterer totaler Kriege antizipierte. Vgl. Mark E. Neely, "Was the Civil War a Total War?", in: Civil War History 37 (1991), S. 5-28; Stig Förster und Jörg Nagler (Hrsg.), On the Road to Total War: The American Civil War and the German Wars of Unification, 1861-1871, Cambridge 1997; Manfred F. Boemeke, Roger Chickering und Stig Förster (Hrsg.), Anticipating Total War. The German and American Experiences, 1871-1914, Cambridge 1999. Der Bürgerkrieg brachte nicht allein die Überwindung des Milizsystems und einen erheblichen Professionalisierungsschub, sondern enthielt auch bellizistische Elemente im Namen der amerikanischen Nation, sei es defensiv im Norden oder offensiv im Rahmen eines erst aus der Niederlage konkretisierten Nationalismus des Südens. Vor allem konfrontierte er die amerikanische Gesellschaft mit einem zunehmend zentralistischen Staat, der zur Mobilisierung aller Energien auch vor der Suspendierung von Freiheitsrechten und der verfassungsmäßigen checks and balances nicht zurückschreckte. Ein ausgesprochener bellizistischer Nationalismus blieb aber nach 1865 aus. Erst verspätet, während des Spanisch-Amerikanischen Krieges, wurde ein externer Krieg als homogenisierendes und integrierendes Moment gedeutet. Vgl. Richard Franklin Bensel, Yankee Leviathan. The Origins of Central State Authority in America, 1859-1877, Cambridge 1990; sowie Mark E. Neely Jr., The Fate of Liberty. Abraham Lincoln and Civil Liberties, New York 1991; vgl. zum Krieg von 1898 etwa Kristin L. Hoganson, Fighting for American Manhood. How Gender Politics Provoked the Spanish-American and Philippine-American Wars, New Haven 1998, S. 107ff.
Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges mit seinen besonderen Anforderungen ließ in den USA neue Partizipationskonzepte entstehen, die auf eine Neubestimmung des Verhältnisses von Staat, demokratischer Gesellschaft und Nation hinausliefen. Der Kulturkritiker Randolph Bourne entwarf in seinem programmatisch überschriebenen Essay Trans-National-America von 1916 die Idee eines amerikanischen Kosmopolitismus. Vgl. John Higham, "The Redefinition of America in the Twentieth Century", in: Hartmut Lehmann und Hermann Wellenreuther (Hrsg.), German and American Nationalism. A Comparative Perspective, Oxford 1999, S. 301-25, hier: S. 315. Statt Assimilation sah Bourne die doppelte Staatsbürgerschaft als eine Notwendigkeit an, um zumal dem exklusiven Nationsverständnis europäischer Provenienz in Kriegszeiten eine klare Absage zu erteilen. Dabei verwies er auf die grundsätzliche Schwierigkeit, im Sinne verbindlicher Kriterien Fremde und Amerikaner zu definieren: "We are all foreign-born or the descendants of foreign-born, and if distinctions are to be made between us they should rightly be on some other ground than indigenousness." Randolph S. Bourne, "Trans-National America", in: Atlantic Monthly 118 (Juli 1916), S. 86-97, hier zitiert nach ders., The Radical Will: Selected Writings, 1911-1918, hrsg. v. Olaf Hansen, New York 1977, S. 249; vgl. F. H. Matthews, "The Revolt Against Americanism: Cultural Pluralism and Cultural Relativism as an Ideology of Liberation", in: Canadian Review of American Studies 1/1 (1970), S. 4-31. Solch progressiver Pluralismus blieb jedoch die vereinzelte Sicht eines Intellektuellen, der Europa aus eigener Anschauung sehr gut kannte.
Zum Leitbild der Politiker um Roosevelt wurde nach 1910 das Programm einer national reconstruction, das durch institutionelle, politische und kulturelle Erneuerung die gesellschaftliche Kohäsion der amerikanischen Nation wieder sichern sollte, die durch den rapiden ökonomischen und sozialen Wandel seit den 1860er Jahren in den Augen vieler Zeitgenossen in Frage gestellt schien. Ideologisch präsentierte sich dieses Programm als Wiederanknüpfung an die Politik der founding fathers Hamilton und Jefferson, indem der Zusammenhang von nationaler Stärke und demokratischer Gesellschaft erneut in den Vordergrund trat. Konkretisiert werden sollte dies durch die Zentralisierung von politischen und ökonomischen Entscheidungen. Vgl. Hans Vorländer, Hegemonialer Liberalismus. Politisches Denken und politische Kultur in den USA 1776-1920, Frankfurt am Main 1997, S. 195ff. und 203ff. Hier wirkte der Kriegseintritt der USA als unmittelbarer Katalysator: denn in der Organisation der Kriegswirtschaft durch Präsident Wilson deutete sich modellhaft das Leitbild eines regulativen Staates an, der erst die Stärke der Nation verkörperte. Von der einflußreichen Gruppe der progressive intellectuals um John Dewey als wartime socialism, als Sieg organisierter politischer und ökonomischer Planung gefeiert, antizipierte die Kriegswirtschaft bereits kriegsanaloge Maßnahmen des späteren New Deal unter Franklin D. Roosevelt. Dies alles fand unter dem Dach einer Ideologisierung des Konzepts der American nation statt und enthielt auch das Versprechen politischer und sozialer Partizipationsrechte. In den Organisationen der Kriegswirtschaft bildete sich - vergleichbar der Entwicklung in Deutschland - eine spezifisch korporative Entscheidungsstruktur heraus, die einerseits auf agencies als staatlichen Sonderbehörden basierte und andererseits die wichtigsten industriellen Interessengruppen der Arbeitgeber und der Gewerkschaften einband und sie damit staatlich anerkannte. Vgl. ebd., S. 197.
Die progressive intellectuals um Herbert Croly, Walter Lippmann und John Dewey betonten nicht allein im Sinne Max Webers die Bedeutung der rationalen Organisation der entstandenen Industriegesellschaft und ihre Repräsentation durch charismatische Führungspersönlichkeiten, sie unterstrichen auch den Gesichtspunkt der nationalen Integration. Genau hier glaubten sie in der Herausforderung des Krieges eine Chance zu erkennen: denn die Prämissen der Good Administration, die Dewey in seinem Buch Progressive Democracy 1915 entwickelt hatte, ließen sich nun unter Beweis stellen. Herbert Croly, Progressive Democracy, New York 1915, S. 73; vgl. Vorländer, Liberalismus (wie Anm. 42), S. 203f. Präsident Wilson hatte die Vorbereitung des Kriegseintritts unter das nationalintegrativ konnotierte Programm einer 'military and industrial preparedness' gestellt, und der Krieg selbst sollte nun sowohl gesellschaftliche Integration wie staatlich-ökonomische Rationalität beweisen. Diese wissenschaftliche Rationalität verkörpernden Vorstellungen sollten schließlich einen new type of democracy hervorbringen, mithin ein neues Konzept der integrierten American nation umsetzen. Um so desillusionierter mußten die Vertreter der progressive intellectuals nach Kriegsende erkennen, daß der war time socialism Episode blieb und sich die mit Wilson verknüpften innen- und außenpolitischen Hoffnungen schnell zerschlugen. Vgl. Charles Forcey, The Crossroads of Liberalism: Croly, Weyl, Lippmann, and the Progressive Era 1900-1925, New York 1961; sowie Stuart Rochester, American Liberal Disillusionment in the Wake of World War I, University Park/Penn 1977.
In den Vereinigten Staaten stellte sich der Kriegsnationalismus nicht wie in den europäischen Gesellschaften als intellektuelle Kriegshysterie dar, sondern als Erwartung einer umfassenden innenpolitischen Rekonstruktion. Dieses Nationskonzept betonte nicht, wie etwa die bürgerliche Kriegszieldiskussion in Deutschland, geopolitische Annexionspläne, sondern das Ziel einer sozialen und nationalen Demokratie, um der Heterogenität der amerikanischen Einwanderergesellschaft ein neues Loyalitätsfundament zu geben. Sosehr die progressive intellectuals ein internationales und kollektives Sicherheitssystem unter Einschluß der USA favorisierten und damit zur Gruppe der idealistischen Internationalisten zählten, so sehr blieb der Fokus doch die nationale Politik der USA, die gesellschaftliche Integration und vor allem eine kulturelle Erneuerung. Lippmann betonte, erst der Krieg habe den Amerikanern "a new instinct for order and national purpose" gegeben und damit die Chance für ein 'integrated America' eröffnet.The New Republic, 19. Februar 1916, S. 62-67 Croly unterstrich die Perspektive eines national purpose, durch den jenseits materialistischer Kultur und partikularer Klasseninteressen das Gemeinwohl neu zu definieren war. Worum es hier ging, war ein Nationskonzept, das sowohl den staatslosen individualism der Pionierzeit als auch den lediglich ökonomisch begründeten Materialismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts transzendieren sollte. Vgl. Vorländer, Liberalismus (wie Anm. 42), S. 205. Die New Republic, Sprachrohr der progressive intellectuals, schrieb anläßlich des Kriegseintritts der USA im April 1917: "Never was a war fought so far from the battlefield for purposes so distinct from the battlefield."The New Republic, 21. April 1917, S. 337.
Zusammenfassung und Ausblick: Bellizismus, Nationalismus und Zivilgesellschaft
Das Ausmaß des Bellizismus von unten, die Durchdringung zumal der kontinentaleuropäischen Gesellschaften, aber auch Großbritanniens und partiell auch der USA durch bellizistische Deutungsmuster und ihre Institutionalisierung im zeitgenössischen Vereinswesen läßt sich ohne das zivilgesellschaftliche Element der gesellschaftlichen Selbstorganisation nicht erfassen. Die Form dieser gesellschaftlichen Verankerung "nationaler" Interessen und Erwartungen entsprach dem zivilgesellschaftlichen Ideal der Selbstorganisation, aber damit verbanden sich auch zutiefst bellizistische und aggressiv nach außen gewandte Deutungsmuster, die sich auf Nation, Nationalstaat oder Empire beziehen konnten.
Tendenziell hatte dieser national konnotierte Bellizismus immer auch eine vermittelnde Funktion zwischen Staat und Gesellschaft, und dies in doppelter Hinsicht: Nationalkrieg und totaler Krieg blieben ohne die im Staat zentralisierte Mobilisierungs- und Organisationsgewalt kaum vorstellbar; hier wirkten Staat und Gesellschaft im Namen der Nation zusammen. Dem entsprach die Projektion einer nationalen Kriegergemeinschaft, in die sich der Interessenpluralismus der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam aufzulösen schien: Der nation armée nach 1871 entsprach 1914 die union sacrée, dem Volk in Waffen der Burgfrieden. Die Attraktivität dieser Deutungsmuster erklärt sich mithin auch aus seiner möglichen Instrumentalisierung als Gegenmodell zur heterogenen und unübersichtlichen Wirklichkeit der Bedürfnisse und Eigeninteressen, wie sie die bürgerliche Gesellschaft in entwickelten Industriegesellschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auszeichnete. Im Nationalkrieg schien sich die Einheit der Nation jenseits von Parteien und Interessenverbänden noch einmal zu erweisen. Andererseits blieb mit dem Krieg immer auch eine Hoffnung auf Ausweitung politischer und sozialer Partizipation verbunden, wie zumal die Beispiele der deutschen, britischen und amerikanischen Gesellschaft vor und während des Ersten Weltkrieges zeigten.
Wie fragil solche bellizistischen Projektionen indes waren, zeigte sich nach dem August 1914. In seinem Charakter als industrieller Massenkrieg transzendierte der Erste Weltkrieg National- und Volkskrieg und markierte damit einen fundamentalen Erfahrungsumbruch. Indem er Staat und Gesellschaft militärisch und zivil unmittelbar berührte und gleichzeitig ungeahnte Anstrengungen bei bisher unbekannten Opfern einforderte, bedeutete der totale Krieg auch die Totalisierung von Legitimation und Loyalität im Namen der Nation. Das ging über die gesteigerte Nationalisierung des Bellizismus in der Folge der Französischen Revolution und über die in den National- und Volkskriegen des 19. Jahrhunderts angelegte Demokratisierung des Krieges weit hinaus. Der 1914-1918 zutage tretende neuartige Kriegsnationalismus war deshalb offen für eine neue existentielle Konnotation, die das Motiv des nationalen Interesses hinter sich ließ. Erich Ludendorff argumentierte in den 1930er Jahren entsprechend, im modernen Krieg gehe es um die Existenz der Nation überhaupt, um Lebenserhaltung. Erich Ludendorff, Der totale Krieg, München 1935, S. 5f. Das war etwas grundlegend anderes als der absolute Krieg Clausewitzscher Definition, dem sich noch die "Wahrung der Nationalinteressen" hatten zuordnen lassen,"Krieg", in: F. A. Brockhaus, Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, Bd. 9, 11. Aufl. Leipzig 1866, S. 79. und bedingte die äußerste Steigerung des Macht- und Militärstaates nach innen: Nur durch die äußerste Zentralisierung und Mobilisierung von Ressourcen ließ sich der totale Krieg fortführen. Dazu kam die tendenzielle Universalisierung des Kriegsparadigmas durch seine Anwendung auf militärische Front und Heimat. Intermediäre Räume jenseits von Staat und Privatsphäre wurden damit verengt, zumindest temporär. Die Hypertrophie des Militärstaates wurde zumal in der zunehmend dominanten Rolle führender Militärs auch für politische Entscheidungsprozesse deutlich, und dies nicht allein in Deutschland, obgleich hier am weitgehendsten, was auch noch einmal auf die Nationalstaatsgründung von 1871 als Kriegsgeburt zurückwies.
Erst die doppelte Erfahrung von zwei totalen Kriegen hat das klassische Deutungsmuster von Nation und Nationalstaat und das ihnen zugeordnete bellizistische Legitimationspotential in Europa tiefgreifend erschüttert. Langfristig, und auf unterschiedlichen Wegen, hat dies das Nebeneinander von zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation und bellizistisch-aggressiver Gewaltdeutung im Namen der Nation in einen Gegensatz zwischen Zivilität und Gewalt, Zivilgesellschaft und Bellizismus verwandelt. Die Erschütterung des nationalen Paradigmas und seiner ideologischen Begründungszusammenhänge in der Erfahrung der totalen Kriege des 20. Jahrhunderts hat dieser Öffnung europäischer Gesellschaften für zivilgesellschaftliche Elemente zumindest wichtige Impulse gegeben, wenn sie sie nicht sogar mit ermöglicht hat.
Vor dem Hintergrund des skizzierten Vergleichs stellt sich das Verhältnis von Zivilität und Gewalt nicht einfach als Geschichte der Verhinderung zivilgesellschaftlicher Elemente dar. Vielmehr existierte auch in historisch unterschiedlichen Kontexten häufig ein ambivalentes und spannungsgeladenes Nebeneinander von kollektiven Partizipationserwartungen und Selbstorganisation von Interessen mit dem Ziel der Teilhabe an der Nation einerseits und kriegerischer Gewaltbereitschaft andererseits. Der bellizistische Rekurs auf die Nation verband beide Dimensionen miteinander, legitimierte staatlich institutionalisierte Gewalt in einem bisher unbekannten Ausmaß, aber schuf auch neue Formen tatsächlicher oder projizierter Teilhabe und Teilnahme. Daher sollten Kriege und die Aneignung von Kriegserfahrungen nicht von vornherein aus der historischen Analyse von Zivilgesellschaften herausinterpretiert oder als bloße Verhinderungsgeschichte von zivilgesellschaftlichen Entwicklungspotentialen verstanden werden.
Der Antagonismus zwischen Zivilität und Gewaltbereitschaft erscheint eher als Ergebnis eines langfristigen Lernprozesses, der auch auf den Zusammenhang von Kriegserfahrungen und Nationskonzepten sowie die argumentative Verbindung von Gewaltbereitschaft und Partizipationsverheißung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verweist. Die Tatsache, daß sich dieser Zusammenhang langfristig lockerte und schließlich partiell aufgelöst hat, hängt unmittelbar mit den europäischen Erfahrungen der Nationalkriege des langen 19. Jahrhunderts und ihrer Übersteigerung in den totalen Kriegen des kurzen 20. Jahrhunderts zusammen. Erst die langfristige Infragestellung und teilweise Delegitimation des klassischen Nationalstaates ließ auch das mit ihm verbundene Paradigma des nationalen Bellizismus zurück- und den Gegensatz zwischen Zivilität und Gewalt stärker hervortreten. Dieser Antagonismus, der heute zur präskriptiven Ausstattung des zivilgesellschaftlichen Paradigmas gehört, war nicht a priori Bestandteil des Deutungsmusters, sondern Ergebnis eines Prozesses, dessen ganze Komplexität allein der Vergleich erhellt.
*Überarbeitete Fassung eines Beitrags, gehalten auf einem Workshop der Arbeitsgruppe "Zivilgesellschaft: historisch-sozialwissenschaftliche Perspektiven" (Dieter Gasewinkel und Sven Reichawalt) am Forschungsschwerpunkt "Zivilgesellschaft, Konflikte und Demokratie" des Wissenschaftszentrums Berlin.