Stefanie Schüler-Springorum
Stefanie Schüler-Springorum/Mittelweg 36
Eurozine
MIttelweg 36
Mittelweg 36 5/2004 (German version)
2005-01-11
"Sei still oder hau ab!"
Nachbarschaften im Baskenland
Seit dem 11. März 2004 ist alles anders. An diesem Tag hielt zwar nicht die ganze Welt den Atem an, wohl aber Madrid, Spanien und all jene, die sich, aus welchen Gründen auch immer, dieser Region Südeuropas verbunden fühlen. Nach dem Schock über die schnell zutage tretende Dimension des Terroranschlags auf mehrere Nahverkehrszüge der spanischen Hauptstadt stellten sich alle dieselbe Frage: Wer war es? War es ETA?
/XML/infobox/bordermakingbox.htmGanz abgesehen vom allzu dreisten Versuch der politischen Instrumentalisierung des Attentats, der, so scheint es, der Partei des scheidenden Ministerpräsidenten Aznar drei Tage später den sicher geglaubten Wahlsieg kostete,Vgl. Ulrike Borchardt, The Political Instrumentalisation of Terrorism: The Case of Spain, Vortrag auf der Annual Conference of the Law and Society Association, Chicago 2004. gingen die privaten Antworten auf diese Frage in den ersten Stunden quer durcheinander. Viele, auch im Baskenland, trauten der "heimischen" Terrororganisation einen Anschlag solchen Ausmaßes durchaus zu, andere widersprachen vehement und nicht wenige berichteten später von einem Gefühl klammheimlicher Erleichterung, als sich herausstellte, daß das Massaker in den Vorortzügen wohl auf ausländische Terrorkonten ging. Erleichterung warum? Vermutlich, weil durch den wahllosen Mord an fast zweihundert Pendlern die Einschätzung der ETA als einer aus aktueller Perspektive geradezu "altmodischen", ethnisch-nationalistisch argumentierenden und damit letztlich in politisch-taktischen Dimensionen operierenden Gruppe völlig aus den Fugen geraten wäre.Vgl. die eindrucksvolle Analyse des davon klar zu unterscheidenden, religiös motivierten Terrorismus bei Mark Juergensmeyer, Terror im Namen Gottes. Ein Blick hinter die Kulissen des gewalttätigen Fundamentalismus, Freiburg 2004. Inwieweit eine solche Erleichterung tatsächlich berechtigt war, sei dahingestellt. Für die Beschreibung des baskischen Konflikts als eines Nachbarschaftskonflikts interessiert viel mehr der erste Teil der beschriebenen Gefühlsmischung: daß nämlich nicht wenige der ETA einen derartigen Anschlag zunächst durchaus zugetraut hatten. Die darin zum Vorschein kommende Zerstörung der sozialen Textur der baskischen Gesellschaft, das schwindende Vertrauen in zivilgesellschaftliche Selbstverständlichkeiten soll im Mittelpunkt der folgenden Analyse stehen. Sie beginnt auf der kleinstmöglichen Ebene von Nachbarschaft, auf dem Spielplatz eines 6000 Einwohner zählenden Städtchens in der Provinz Vizcaya im August 2002: Dort spielt, beaufsichtigt vom Großvater, der zweijährige Sohn der jungen Stadträtin Idoia Correa Fernandez. Als die Mutter dem Kind abends die Windeln wechselt, findet sie einen Zettel mit einer ihr geltenden Todesdrohung. Correa ist Mitglied der Sozialistischen Partei des Baskenlandes (PSE), einer Minderheit im Rat ihrer Heimatstadt, die von einer baskisch-nationalistischen Mehrheit regiert wird. Wie noch zu zeigen sein wird, hat sie allen Grund, diese Drohungen ernst zu nehmen. Gleichzeitig verweist ihre Geschichte auf die verschiedenen Aspekte von "Nachbarschaft" im baskischen Konflikt: Nachbarschaftliches Wissen lieferte die Kenntnis darüber, daß dies Kind der Sohn der Stadträtin ist, und ein Mindestmaß von Bekanntschaft war vermutlich nötig, um so dicht an den Jungen heranzukommen, ohne Verdacht zu erregen. Und schließlich ist die nachbarschaftliche Nähe auch die größte Drohung: "Du bist allein, wir wissen, wo Du allein bist und wir werden Dich kriegen. Pim, Pam, Pum", steht auf dem Zettel.El País, 25. August 2002. "Pim, Pam, Pum" ist ein beliebter Slangausdruck für "Schüsse/ Erschießen".
Was ist hier passiert? Wann und wie haben derartige, an Mafiafilme erinnernde Szenen Einzug in die idyllische Landschaft des Baskenlandes und seine weniger idyllischen Industriegürtel gehalten? Um diese Entwicklung zu erklären, muß man die historische und aktuelle politische Entwicklung Euskadis betrachten, so der baskische Name für die heutige spanische autonome Region Baskenland mit ihren drei Provinzen Vizcaya, Guipúzcoa und Álava.Aus nationalistischer Perspektive zählen auch Navarra und die baskischen Provinzen Frankreichs ("Euskadi Norte") zu "Euskadi", einem erst Ende des 19. Jahrhunderts geprägten Begriff. Aus nachbarschafts-theoretischer Sicht ist dabei zunächst einmal eine simple Tatsache von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Das Baskenland ist sehr klein, mit 7000 km2 knapp halb so groß wie Schleswig Holstein. Die etwas über zwei Millionen Einwohner verteilen sich auf die beiden Großstädte Bilbao und San Sebastian, die Hauptstadt Vitoria und eine große Anzahl mittlerer und kleinerer Städtchen.
Folgt man dem nationalistischen Mythos, so ist bis weit in vorchristliche Zeiten zurückzugehen, um die Einzigartigkeit und Besonderheit dieser Region wirklich zu verstehen. Hier soll jedoch ein knapper Rückblick in die Zeit der Aufklärung und des Unabhängigkeitskriegs von 1808 genügen, der das Ende jenes Ancien Régimes besiegelte, das den baskischen Provinzen ihre traditionellen und sehr weitgehenden Autonomierechte garantiert hatte, die sogenannten "fueros". Für die spanischen Liberalen, denen Europa die bis dato modernste Verfassung (Cádiz 1812) verdankte, waren die baskischen Provinzen dagegen Bollwerke der aristokratisch-katholischen Reaktion und die Abschaffung ebendieser Sonderrechte war Teil ihres Programms. Der ein Jahrhundert andauernde politische Konflikt zwischen Monarchisten und Liberalen gipfelte in zwei Bürgerkriegen (1833-39, 1872-76), den sogenannten Karlisten-Kriegen, die vorwiegend im Baskenland ausgefochten wurden. An deren Ende stand schließlich die (nie ganz vollständige) Abschaffung der "fueros", aber auch die strukturelle Schwächung der Liberalen und des spanischen Nationalstaats. Neueren Forschungen zufolge war es diese traditionelle Schwäche des spanischen Nationalismus (und nicht seine Aggressivität), die die Nationalismen an den Rändern der Iberischen Halbinsel beförderte.Vgl. Ludger Mees, "Civil Society oder ethnische Zwangsjacke. Neuere Forschungen zur Geschichte, Theorie und Aktualität des Nationalismus im Baskenland", in: Neue Politische Literatur 47 (2002), S. 403-421, S. 411; auch ders., "Der spanische 'Sonderweg'. Staat und Nation(en) im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts", in: Archiv für Sozialgeschichte 40 (2000), S. 29-66, bes. S. 31-42. Hinzu kam, daß gerade diese Regionen, also Katalonien und das Baskenland, zu Zentren der Industrialisierung wurden und einem dementsprechend dramatischen sozialen und demographischenWandel ausgesetzt waren, der nicht zuletzt von der Masseneinwanderung billiger Arbeitskräfte aus ärmeren Gegenden Spaniens gekennzeichnet war. Aber während die katalanische Nationalbewegung sich schon in ihrer formativen Phase auf die lokale Bourgeoisie stützen konnte, blieb diese im Baskenland streng monarchistisch, konservativ oder später faschistisch, auf jeden Fall aber national-spanisch orientiert. Der baskische Nationalismus dagegen und die ihn tragende Partei, der 1895 gegründete PNV (Partido Nacionalista Vasco), war zu Beginn vor allem im städtischen Kleinbürgertum verwurzelt und konnte sich dann rasch in die konservativ-katholischen, früher karlistischen, ländlichen Gegenden ausdehnen. Kurz gesagt, die baskische Reaktion auf die Moderne unterschied sich nur wenig von der im übrigen Europa: Der baskische Nationalismus der Jahrhundertwende war anti-liberal, anti-urban, antiindustriell, anti-sozialistisch und gleichzeitig streng katholisch und fremdenfeindlich. Die baskische Version von Utopie zielte auf die "Wiederherstellung" der glorreichen Vergangenheit eines freien Euskadi ab, was konkret die Wiedereinsetzung der "fueros", Souveränität und nationale Einheit ohne "Fremde" bedeutete, die als "Nichtbasken" damals noch leicht an ihren Nachnamen zu erkennen waren.Vgl. zur Entstehung des baskischen Nationalismus ebd., S. 53-57; Javier Corcuera Atienza, La patria de los vascos. Orígines, ideología y organización del nacionalismo vasco (1876-1903), Madrid 2001 (Erstauflage 1979), zum inhärenten Rassismus dort S. 48-50 und S. 422-431; und die deutlich andere Akzente setzende Interpretation von Mees, Sonderweg, a. a. O.; zur Geschichte des PNV siehe Santiago de Pablo, Ludger Mees, José Antonio Rodriguez, El péndulo patrióticoia del Partido Nacionalista Vasco, 2 Bde., Barcelona 1999/2001.
Angesichts solcher ideologischen Vorgaben wird klar, warum das Bündnis der rechts-nationalistischen baskischen Regierung mit der zunächst von einer Mitte-Links-Koalition regierten Spanischen Republik eher eine Vernunftehe denn eine Liebesheirat war. Die Republik (mit Ausnahme der Rechtsregierung während des bienio negro 1934/35) stand den Autonomievorstellungen der Regionen offener gegenüber und verabschiedete schließlich die entsprechenden Statuten für Katalonien im September 1932 und für Euskadi im Oktober 1937 - also schon im Bürgerkrieg, der wenige Monate später bereits das Ende der ersten Regierung des autonomen Baskenlandes unter José Antonio de Aguirre brachte. Mit der Eroberung und Besatzung durch die Truppen der putschenden Generäle setzte auch dort der brutale Rachefeldzug der Sieger ein, dem in ganz Spanien Hunderttausende zum Opfer fallen sollten.Wissenschaftlich fundierte Versuche, die Opferzahlen zu verifizieren, finden sich bei Santos Juliá u. a., Víctimas de la Guerra Civil, Madrid 1999; Emilio Silva, Santiago Macías, Las Fosas de Franco, Los republicanos que el dictador dejó en las cunetas, Madrid 2003. Besonders hart traf es die beiden abtrünnigen Regionen, Katalonien und das Baskenland: Jedwede Äußerung politischer Autonomiebestrebung wurde unterdrückt, jegliche kulturelle Eigenständigkeit negiert, und beide Regionen wurden politisch und infrastrukturell systematisch benachteiligt. Der baskische Nationalismus brauchte fast zwei Jahrzehnte, um sich von dieser dramatischen Niederlage zu erholen und sich, vor allem unter dem Schutz der katholischen Kirche, neu zu formieren. Aber mittlerweile war eine neue Generation herangewachsen, die sowohl die gemäßigte Politik der baskischen Exilregierung als auch die bequeme Anpassung der vom Franco-Regime profitierenden lokalen Eliten verachtete. Stark beeinflußt von den antikolonialen Befreiungsbewegungen der Nachkriegszeit, verstand sich die 1959 gegründete Untergrundbewegung ETA (Euskadi ta Askatasuna = Baskenland und Freiheit) als nationalrevolutionäre und sozialistische Volksbewegung, wobei diese beiden Richtungen immer wieder in heftige ideologische Konflikte gerieten. Und da es meist die Vertreter des linken, "sozialistischen" Flügels waren, die interne Kämpfe mit individuellen Austritten oder kollektiven Abspaltungen beendeten, gewann die nationalistische Linie im Laufe der Zeit immer mehr an Einfluß. Nach außen hin vertrat die ETA das Konzept der Stadtguerilla und ging Ende der 60er Jahre zu selektiven Anschlägen gegen besonders verhaßte Vertreter des Franco-Regimes über. Aktionen wie der Mord an dem für seine brutalen Foltermethoden berüchtigten Polizeioffizier Melitón Manzanas im August 1968 oder das geglückte Attentat auf Francos designierten Stellvertreter Carrero Blanco im Dezember 1973 führten zu einem mächtigen Prestigegewinn dieser nun radikalsten Fraktion des antifranquistischen Widerstands. Die in ihren letzten Zügen liegende Diktatur antwortete mit noch mehr Polizeigewalt, Folter und Todesurteilen und verschärfte die Repression in ganz Euskadi, was alle, nicht nur ETA-Anhänger, traf, und erneut zu einer wachsenden Solidarisierung der Bevölkerung mit der ETA führte. Dieses taktische Kalkül - im ETA-Slang: die "Spirale Aktion-Repression" sollte noch lange nach Francos Tod erfolgreich funktionieren.Vgl. zur Geschichte der ETA und ihren internen Konflikten vor allem in den 70er Jahren Robert P. Clark, The Basque Insurgents. ETA 1952-1980, London 1984; José Maria Garmendia, Historia de ETA, San Sebastian 1996 (Estauflage 1979/80); Gregorio Morán, Los Espanoles que dejaron de serlo, Madrid 2003 (Erstauflage 1981) sowie die Interpretation aus radikalnationalistischer Perspektive bei Ortzi, Historia de Euskadi: el nacionalismo vasco y ETA, o. O., o. J. Der Publizist Gregorio Morán hat kürzlich noch einmal darauf hingewiesen, daß die berühmte friedliche "Transition" Spaniens im Baskenland ganz anders erlebt wurde: So war eines der wichtigsten Themen dort die Frage der Amnestie für die politischen Gefangenen, die schließlich 1978 durchgesetzt wurde (und bezeichnenderweise ist kaum einer der damals entlassenen ETA-Mitglieder wieder zum bewaffneten Kampf zurückgekehrt). Gleichzeitig riefen die baskischen Nationalisten zum Boykott der Abstimmung über die neue, demokratische Verfassung Spaniens auf, was zu einer Stimmenthaltung von 55 Prozent führte. Daß die Verfassung 1978 also von weniger als einem Drittel der baskischen Wähler unterstützt wurde, wird bis heute in den politischen Diskussionen betont. Auch das ein Jahr später unterzeichnete "Statut von Gernika", das den Basken weitgehende Autonomierechte, allerdings keine Unabhängigkeit einräumte, wurde zwar mit großer Mehrheit, jedoch ebenfalls bei hoher Stimmenthaltung, diesmal von rund 40 Prozent, ratifiziert. Die ETA begleitete die politischen Umwälzungen mit einer Welle terroristischer Gewalt, die ihre maximalistischen Forderungen unterstreichen sollte: Im Jahr der Verfassungswahlen wurden 58 Menschen ermordet, die Verhandlungen des Autonomiestatuts wurden von 78 Toten begleitet, und ein Jahr später starben 96 Menschen bei Anschlägen.Vgl. Morán, S. xix-xxxvi; sowie die Analysen von Peter Waldmann, Militanter Nationalismus im Baskenland, Frankfurt am Main 1990; ders., "Mitgliederstruktur, Sozialisationsmedien und gesellschaftlicher Rückhalt der baskischen ETA", in: Politische Vierteljahresschrift 22 (1981), S. 45-68; einen konzisen Überblick bietet Walther L. Bernecker, Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, München 1988, S.163-173, 236-249.
Diese widersprüchliche Entwicklung - politischer Fortschritt einerseits und wachsende Gewalt andererseits - sollte sich in den 1980er Jahren fortsetzen und radikalisieren. Die seit 1980 regierende Baskische Nationalistische Partei begann mit dem im Autonomiestatut vorgesehenen Aufbau eigener Institutionen, wie baskischen Schulen und Universitäten, einer eigenen Polizei nebst eigenem Gerichtswesen, baskischem Fernsehen und Verlagen. All diese Errungenschaften sind seit mehr als 20 Jahren Teil eines Prozesses modernen nationbuildings, der eigentlich, wie etwa in Katalonien, eine Erfolgsstory sein könnte - wäre da nicht die allgegenwärtige Gewalt, wie sie die baskische Realität bis heute prägt. ETA setzte ihre blutige Kampagne mit immer wahlloseren Attentaten fort und unterstrich die Kompromißlosigkeit ihres Engagements durch die öffentliche Hinrichtung ehemaliger Mitglieder, die ins Zivilleben zurückgekehrt waren.Als dramatischste Ereignisse in diesem Zusammenhang gelten in der öffentlichen Wahrnehmung der Bombenanschlag auf einen Supermarkt in einem Arbeiterviertel Barcelonas am 19. Juni 1987 mit 21 Toten und 40 Verletzten sowie die Ermordung von Dolores González Cataraín (Yoyes) am 10. September 1986 in Ordizia. Gleichzeitig wurde ihr 1979 gegründeter, politischer Arm Herri Batasuna in den 1980er Jahren regelmäßig von 12 bis 18 Prozent der Wähler unterstützt, was nicht zuletzt auf die offensichtliche personelle und teilweise auch "methodische" Kontinuität im Polizeiapparat zurückgeht: Bis in die 1980er Jahre hinein wurde im Baskenland gefoltert. Als noch desaströser für das Image der jungen spanischen Demokratie im Baskenland sollte sich die Existenz einer paramilitärischen "Gegen"-Terrorgruppe erweisen, deren schon damals gemutmaßte staatliche Unterstützung in mehreren Prozessen gegen die Verantwortlichen in Polizei und Innenministerium später aktenkundig wurde.Auf das Konto der vornehmlich im französischen Baskenland operierenden GAL (Grupos Antiterroristas de Liberación) gehen 27 Tote, darunter mindestens ein Drittel "irrtümlich" Ermordeter; vgl. Paddy Woodworth, "Why do they kill? The Basque Conflict in Spain", in: World Policy Journal 18 (2001), S.1-12.
Und dennoch schien sich die Taktik der ETA Ende der 1980er Jahre totgelaufen zu haben. Mehrere Führungsgenerationen waren mittlerweile tot, in Gefängnissen oder im lateinamerikanischen Exil neutralisiert, und die nachrückenden Jungterroristen agierten immer planloser, weshalb ein baldiges Ende der ETA vielerorts prophezeit wurde.Vgl. die auf in den 1980er Jahren geführten Gruppeninterviews beruhende Analyse von Michel Wieviorka (The Making of Terrorism, Chicago 1988, S.147-214), die eindrucksvoll den Konflikt zwischen dem "nationalistischen" und dem "sozialistischen" Flügel seziert und auf diese Weise die zentrale Rolle terroristischer Gewalt für die Aufrechterhaltung des Mythos einer alle divergierenden Interessen vereinenden "baskischen Sache" freilegt. Tatsächlich war aber das Gegenteil der Fall. Die 1990er Jahre bescherten der baskischen Gesellschaft neue Dimensionen politischer Gewalt, wofür, so scheint es, ein ganzes Bündel von Faktoren verantwortlich war, die je nach politischem Standort ganz unterschiedlich gewichtet werden. Zum einen scheint sich die ETA nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihrer nun endgültig aus der Mode geratenen sozialrevolutionären Anteile entledigt zu haben und kämpft nur noch für die Freiheit des Vaterlandes. Dies wiederum erleichterte eine gewisse ideologische Wiederannäherung an ihre konservativen Vorväter, d. h. an die Baskische Nationalistische Partei, die parallel dazu einen Radikalisierungsprozeß durchlief. Daß nun auch gemäßigte Nationalisten in Euskadi immer häufiger von "Selbstbestimmung" und "Unabhängigkeit" redeten, hatte nicht zuletzt mit der westeuropäischen Unterstützung für die Separationsbestrebungen der kleinen osteuropäischen Nationen zu tun: Warum Lettland und Slowenien und nicht wir? Eine tatsächlich nicht ganz leicht zu beantwortende Frage.
Zum anderen bekam der baskische Nationalismus mit dem Regierungsantritt von José Maria Aznar 1996 wieder einen veritablen, weil seinerseits nationalistisch eingestellten Gegner, der sich symbolisch wie realpolitisch alle Mühe gab, die baskischen Bedrohungsphantasien anzuheizen, die die Wiederauferstehung des alten spanischen Zentralismus/ Imperialismus/Faschismus invozierten.
Mehrere dramatische Ereignisse Mitte der 1990er Jahre wirkten zudem wie ein Katalysator für diese Trends auf beiden Seiten des Konflikts: Im Jahre 1996 hatte ETA während einer Kampagne für die Zusammenlegung der Gefangenen zunächst den Gefängniswärter Ortega Lara und anderthalb Jahre später den jungen Stadtrat Miguel Angel Blanco entführt. Obwohl mehrere Millionen Menschen im Baskenland und in ganz Spanien für dessen Freilassung auf die Straße gingen, wurde Blanco nach Ablauf des Ultimatums erschossen. Drei Wochen später gelang es der Guardia Civil, Ortega Lara aus einem Erdloch zu befreien, in dem er 18 Monate festgehalten worden war. Mit den Fotos des fast verhungerten einen und der quasi öffentlichen Hinrichtung des anderen Opfers war für viele Basken ein point of no return erreicht. Die öffentliche Abscheu über diese Ereignisse richtete sich nicht nur gegen die ETA, sondern schien auch die soziale und politische Hegemonie der regierenden Nationalisten zu gefährden. Auf diese neuartige Situation reagierte man von nationalistischer Seite 1998 zunächst mit dem sogenannten "Pakt von Lizarra", der den Grundstein für eine gemeinsame Politik der nationalistischen Parteien unter Einschluß des politischen Arms der ETA legte - bei gleichzeitigem, von der ETA einseitig verkündeten "Waffenstillstand". Obgleich besagter Waffenstillstand im Dezember des folgenden Jahres ebenso einseitig wieder aufgekündigt wurde, hatte der Pakt ein vermutliches Ansinnen der ETA verwirklicht, die Radikalisierung der gemäßigten Nationalisten nämlich, die nun die staatliche "Souveränität" explizit zu ihrem politischen Ziel erklärten. Und während ETA eine neue Runde von nun nicht mehr wahllosen, sondern äußerst gezielten Attentaten einläutete, präsentierte die Baskische Nationalistische Partei 2002 ihre roadmap zur Erreichung der angestrebten Souveränität: den "Plan Ibarretxe", der unter den Stichwörtern "Institutionalisierter Dialog", "Freie Assoziation" und "Ko-Souveränität" eine unter Umständen sogar unilaterale Trennung von Spanien nach einem entsprechenden Referendum vorsieht.Vgl. Elisa Roller, "The Basque Country and Spain: Continued Deadlock?", in: Mediterranean Politics 7 (2002), S. 113-123; Walther L. Bernecker, "Ethnischer Nationalismus und Terrorismus im Baskenland" (als pdf-Datei im Internet unter: science.orf.at/science/news/109417), S. 232-235.
Es gibt da nur ein Problem: Knapp die Hälfte der baskischen Bevölkerung möchte beim nationalistischen Projekt eines "freien Euskadi" gar nicht mitmachen - vielleicht, weil sich die Menschen als Spanier fühlen, vielleicht auch, weil sie gleichzeitig Basken und Spanier sein möchten, oder weil sie zwar Basken, aber keine Nationalisten sind. Hier gerät das nationalistische Projekt offensichtlich an seine Grenzen: Was soll man mit einem "Volk" tun, das die eigene Politik nicht als höchsten Ausdruck seiner volontée générale anzuerkennen bereit ist?Vgl. auch das Interview mit dem im Baskenland lehrenden Historiker Ludger Mees, "El problema del plan Ibarretxe es la falta de una mayoría que lo haga viable", 20. April 2003, in: www.ehu.es/gabinete/webcast/2003-04-20%20Bilduma%201.pdf. Die tiefe Zerklüftung der baskischen Gesellschaft wurde bei den Regionalwahlen im Mai 2001 sichtbar. Unter dem Eindruck einer dramatischen Terrorkampagne, die sich gezielt gegen exponierte und weniger exponierte Nichtnationalisten richtete, und einer dementsprechend scharfen politischen Polarisierung erlitt der politische Arm der ETA eine deutliche Niederlage, während die gemäßigten Nationalisten ihre Politik bestätigt sahen. Insgesamt lagen der nationalistische und der nichtnationalistische Block jedoch fast gleichauf.Vgl. Bernecker, Ethnischer Nationalismus, a. a. O., S. 235-239; ähnlich Roller, a. a. O., S. 118. Damit war offenkundig, daß die alte Unterscheidung zwischen "Basken" und "Fremden", zwischen "uns" und "ihnen", in einer modernen Gesellschaft nicht mehr funktionieren kann. Offiziell spricht man statt dessen vom "baskischen Volk" im diskreten Gegensatz zu "der Bevölkerung" oder "den Bürgern" des Baskenlandes (die noch davon überzeugt werden müssen, sich als ein Volk zu fühlen). Intern jedoch bezeichnet das alte Schimpfwort "españolistas" weiterhin all jene, die - mit oder ohne baskischen Familiennamen - keine Nationalisten sind.
Anders ausgedrückt: Es geht hier nicht um Ethnizität, sondern um Politik. Und es geht näherhin um eine Nachbarschaft in doppelter Hinsicht: Nachbarschaft ist einerseits der Austragungsort eines gewaltsamen Konflikts, und mit ihm steht andererseits stets die künftige Form von Nachbarschaft im Baskenland auf dem Spiel. Denn die Statistik der Wahlergebnisse spiegelt nur eine Facette der baskischen Wirklichkeit wider, während sie exakt jenen Faktor, der in demokratischen Gesellschaften normalerweise keine Rolle mehr spielt, unberücksichtigt läßt, die politische Gewalt nämlich. Sie zerstört die faktischen Nachbarschaften im Baskenland und könnte am Ende zu einer homogenen Form von Nachbarschaft führen, in der knapp die Hälfte der Bevölkerung ausgegrenzt wäre. Dabei muß man seit den 1990er Jahren zwischen zwei unterschiedlichen Formen von Gewalt unterscheiden. Zum einen handelt es sich um die terroristische Gewalt der ETA, die ihre Taktik geändert hat und nun zynisch von einer "Vergesellschaftung des Leidens" spricht. Anstatt wie bisher vor allem polizeiliche oder militärische Repräsentanten des verhaßten spanischen Staates zu ermorden, geriet der "Feind im Innern" ins Visier, d. h. all jene, die sich öffentlich dem nationalistischen Projekt entgegenstellen: Politiker, Journalisten, Richter, Professoren, Schriftsteller - seit dem Ende des "Waffenstillstands" 1999 wurden 46 Personen durch Autobomben oder Genickschüsse umgebracht.Vgl. die Auflistung nach Datum, Orten und Berufen unter: www.mir.es/oris/infoeta/ultimo.htm.
Daneben existiert zum anderen eine neue Light-Version des Terrors, "Kale borroka" (Straßenkampf) genannt, deren Protagonisten die radikalen nationalistischen Jugendorganisationen sind, die mit Vorliebe an den Wochenenden ihr Mütchen kühlen und Molotow-Cocktails gegen öffentliche Einrichtungen oder die Privathäuser des politischen Gegners schleudern. Kaum verwunderlich, daß diese Art der Einschüchterung insbesondere vor den Wahlen beträchtlich zunahm. So wurden allein 2001 offiziell 536 gewaltsame Übergriffe registriert.Die Zahl der Angriffe sank 2002 auf 353 und infolge der Illegalisierung der ETA-nahen Organisationen im ersten Quartal des Jahres 2003 auf 25, vgl. El País, 25. Mai 2003; zum rituellen Charakter vgl. Begoña Aretxaga, "Lo real: violencia politíca como realidad virtual", in: Josetxo Beriain, Roger Fernández Ubieta (Hrsg.), La cuestión vasca. Claves de un conflicto cultural y pólitico, Barcelona 1999, S. 106-117. Solchem Feierabendaktionismus läßt sich in den großen Städten aus dem Weg gehen (indem man an den Wochenenden etwa die Altstadt meidet), doch braucht es wenig Phantasie, um sich die zugespitzte Situation von Bewohnern der vielen kleinen Städtchen in der baskischen Provinz vorzustellen, wo jeder jeden kennt und weiß, wie sein Nachbar politisch urteilt. Hier werden die Attacken häufig zunächst namentlich per Graffiti angekündigt, und manchmal ist der Molotow-Cocktail nur das Vorspiel zum Genickschuß.
Als eines unter vielen möglichen Beispielen sei hier die Stadt Andoian in der Provinz Guipúzcoa herausgegriffen. Die Gemeinde hat 14 500 Einwohner und eine nationalistische Mehrheit im Rathaus, das von der ETA-nahen Batasuna regiert wird. Im Jahre 1994 fand sich hier ein kleines Häuflein baskischer Sozialisten zusammen, um eines Mitbürgers, eines pensionierten Guardia-Civil-Offiziers zu gedenken, der ein Jahr zuvor erschossen worden war. Angesichts des allgemeinen Beschweigens der Opfer und des üblen Rufs der Guardia Civil im Baskenland war die Gedenkveranstaltung eine äußerst ungewöhnliche Initiative. Ihr Initiator, der örtliche Polizist Joseba Pagazaurtundua, wurde kurz darauf selbst von der ETA bedroht. Seine Schwester, eine sozialistische Politikerin, verschaffte ihm die Versetzung in eine andere Provinz, wo er sich sicherer fühlte. Während der Phase der nationalistischen Radikalisierung des Lizarra-Pakts wurde er zurück in seine Heimatstadt versetzt, wo seine Familie erneut bedroht und angegriffen wurde. Die Übergriffe hielten Pagazaurtundua jedoch nicht davon ab, sich in der gerade entstehenden Bürgerrechtsbewegung "Basta Ya!" ("Es reicht!") zu engagieren. Im Mai 2000 erschoß man seinen Freund und antinationalistischen Mitstreiter José Luís Lopez de Lacalle, Journalist und Exkommunist, der unter Franco inhaftiert und gefoltert worden war, beim morgendlichen Zeitungskauf vor der Haustür. Bald darauf begann Pagazaurtundua unter Depressionen zu leiden, die von den Ärzten plausiblerweise auf den permanenten Bedrohungszustand zurückgeführt wurden. Im Februar 2003 wurde er ermordet, als er in einer Bar in der Nachbarschaft frühstückte. Sein Mörder betrat die Bar, trank ebenfalls einen Kaffee, erschoß sein Opfer und ging. Der Bürgermeister von Andoian weigerte sich, das Attentat auf den ihm unterstehenden Polizisten zu verurteilen. Von den Teilnehmern der kleinen Gedenkfeier im Jahr 1994 wurden zwei ermordet, einige verließen die Stadt, und die übrigen leben im Schutz von Leibwächtern.Die Schwester Maíte Pagazaurtundua wird mittlerweile selbst bedroht, vgl. die Berichte in El País, 16. Februar 2003; 9. März 2003; 14. Dezember 2003 und 1. Februar 2004.
Die Geschichte macht deutlich, warum Idoia Correa den Zettel in der Windel ihres Sohnes ernst nehmen mußte. Und sie macht zudem deutlich, in welch starkem Maße die politische Gewalt die Textur der nachbarschaftlichen Beziehungen gerade in den kleineren Städten des Baskenlandes zerstört hat. Denn um gezielte Drohungen auszustoßen, muß man das Opfer kennen, seine Wohnung, seine Familie, seine täglichen Gewohnheiten. Nicht selten werden, wie gesagt, die Namen und Adressen potentieller Opfer per Graffiti öffentlich gemacht und der oder die Bedrohte so zusätzlich stigmatisiert. Die oftmals über die direkten Nachbarn gewonnenen Erkenntnisse dienen dann, in einem weiteren Schritt, den Mördern. Und die Täter töten ihre Opfer mitten in der Stadt, unmaskiert und am hellichten Tage. Spätestens hier ist man an Szenen aus Mafia-Filmen erinnert, und tatsächlich hat eine "Omerta", ein Gesetz des Schweigens, auch lange im Baskenland geherrscht, ein politisches Schweigen, zu dem die Weigerung gehört, den Terrorismus zu verurteilen (wie Batasuna), oder das Bedauern eines "tragischen Konfliktes", der nur kraft eines politischen Dialoges aufgelöst werden kann, der natürlich die Täter mit einbeziehen muß (wie die gemäßigten Nationalisten nicht müde werden zu fordern). Aber vermutlich noch schlimmer ist jenes soziale Schweigen, das den Opfern die öffentliche Solidarität verweigert, sei es aus politischer Überzeugung oder schlicht aus Angst. In einer derart aufgeladenen Atmosphäre kann bereits ein Akt des einfachsten Mitgefühls zu einer heroischen Tat werden, wie beispielsweise der Trost, den eine nationalistische Stadträtin der Witwe eines ETA-Opfers spendete und der ihr dann selbst entsprechende Drohungen eintrug.Die Betroffene, Uxue Busca, trat bald darauf von ihrem Amt zurück, vgl. Mario Onaindia, "Zumárraga", in: Basta Ya! Contra el nacionalismo obligatorio, Madrid 2003, S.159-162; vgl. auch folgende Beiträge zu dieser eindrucksvollen Essaysammlung aus Kreisen der Bürgerrechtsbewegung: Enrique Echeburúa, "Terrorismo, miedo y vida cotidiana: una patología de la convivencia", S. 25-30; Mikel Iriondo, "Anomalías", S. 79-83, und Gonzalo Quiroga, "Yo también quiero tocar el tambor", S.163-165. Für eine frühe Analyse der sozialen Folgen des Terrors siehe Peter Waldmann, "From the vindication of honour to blackmail: the impact of the changing role of ETA on society and politics in the Basque region of Spain", in: Noemi Gal-Or (Hrsg.), Tolerating Terrorism in the West. An international survey, London 1991, S.1-32, S. 22f.
Die politische Gewalt zerstört die sozialen Beziehungen der Bedrohten. In einer leidenschaftlichen und bitteren Anklage unter dem Titel "Ausnahmezustand. Das Leben mit der Angst im Baskenland"Iñaki Ezkerra, Estado de Excepción. Vivir con miedo en Euskadi, Barcelona 2001. hat der Bilbainer Schriftsteller Iñaki Ezkerra die individuellen Auswirkungen der sozialen Isolation und die Angst der Opfer detailliert beschrieben. Sobald die Bedrohung durch ETA bekannt wird, ziehen sich die anderen zurück. In einem Land, wo sich ein Großteil des Lebens auf der Straße, in den Bars und Restaurants abspielt, schränkt die anhaltende Angst nicht nur die eigene Bewegungsfreiheit ein, sie begrenzt auch und gerade die Sozialkontakte. Wie Ezkerra sarkastisch bemerkt, verspüren die meisten Menschen wenig Lust zu einem Schwätzchen auf der Straße oder einem gemeinsamen Mittagessen mit einer Person, die permanent unter Begleitschutz steht - ganz zu schweigen von den Veränderungen, die eine dauernde Bewachung im Privatund Familienleben des Betroffenen zur Folge hat. Zur Zeit leben etwa 3000 Männer und Frauen im Baskenland und in Navarra mit Leibwächtern, in einem Land, daran sei erinnert, mit insgesamt nur etwas mehr als zwei Millionen Einwohnern.Vgl. El País, 29. Februar 2004. Die soziale Bandbreite dieser Personengruppe reicht vom einfachen Gärtner bis hin zu einem der berühmtesten Künstler des Baskenlandes, dem antifranquistischen Widerstandskämpfer Agustín Ibarrola, dessen Werk und Haus schon mehr als einmal angegriffen worden sind.Zu den Angriffen auf Ibarrola vgl. den Artikel von Manuel Vázquez Montalbán in El País, 21. Februar 2000; ähnliches auch im letzten Jahr, vgl. El País, 14. Dezember 2003.
Wer solche Zustände nicht mehr erträgt, der geht. Jüngsten demographischen Erhebungen zufolge haben seit den 1980er Jahren rund 200 000 Männer und Frauen das Baskenland verlassen. Natürlich fürchteten die meisten nicht um ihr Leben. Viele werden wirtschaftliche oder sonstige Gründe für ihre Entscheidung gehabt haben, doch eine schwer quantifizierbare Anzahl unter ihnen sah sich zu dem Schritt durch ein politisches und kulturelles Binnenklima genötigt, das - ganz abgesehen von der omnipräsenten Gewalt - in immer stärkerem Maße antipluralistische und pseudo-ethnozentristische Züge aufweist. Die Tatsache, daß im gleichen Zeitraum kaum jemand nach Euskadi eingewandert ist - ganz im Gegensatz zu anderen Regionen Spaniens -, verweist nachdrücklich auf die Rolle, die der hegemoniale Nationalismus in dieser Hinsicht spielt. Gleichzeitig führt die Auswanderung einen nicht zu unterschätzenden brain drain mit sich. Unter denen, die das Baskenland aus politischen Gründen verlassen, ist die Zahl der Intellektuellen, Künstler, Schriftsteller und Professoren überdurchschnittlich hoch. Viele von ihnen leben lieber in London, New York oder - horribile dictu - Madrid, als sich den vielfältigen Beschränkungen in ihrer Heimat zu unterwerfen. Und damit auch keine Zweifel aufkommen, bringt ETA ab und zu die Alternative wieder in Erinnerung: Im Sommer 2000 wurde der ehemalige Zivilgouverneur von Guipúzcoa, Juan María Jáuregui, in einer Bar seiner Heimatstadt erschossen. Aufgrund der ständigen Drohungen lebte er seit mehreren Jahren im Ausland und war nur auf einen Besuch nach Hause gekommen.Vgl. Carlos Martínez Gorriarán, "Destierros vascos y régimen nacionalista", in: Basta Ya!, a. a. O., S. 167-174; zu Jáuregi: Ignacio Latierro, José Luis und Juan Mari, ebd., S. 95-97.
Auch sind die Konsequenzen für die politische Kultur dieses kleinen Landes nicht zu unterschätzen. Nur zwei Monate nach dem Mord an einem Richter im November 2001 hatten zehn seiner Kollegen Euskadi bereits verlassen. Da sich kaum jemand freiwillig dorthin versetzen läßt, mußte fast die Hälfte der 190 Stellen im Justizbereich mit unterqualifizierten Anwärtern besetzt werden.Vgl. El País, 13. Januar 2002. An den Universitäten, studentischen Hochburgen des Nationalismus, waren die in der antinationalistischen Bürgerrechtsbewegung aktiven Professorinnen und Professoren eine Zeitlang gezwungen, ihren Unterricht unter Bewachung abzuhalten. Manchen wurde nahegelegt, ihre akademische Lehre ganz aufzugeben und sich in eine Art intellektuellen Hausarrests zurückzuziehen.Vgl. die Fälle der Professorinnen Gotzone Mora und Edurne Uriarte sowie der Sozialistin Maite Pagazaurtundua in El País, 7. Juli 2002 und 20. Februar 2002. Am schlimmsten jedoch stellt sich die Situation in der Lokalpolitik dar, der klassischen Wiege allen Bürgersinns und demokratischen Lebens. Schon in den 1990er Jahren waren nichtnationalistische Lokalpolitiker gelegentlich ins Visier der ETA geraten, doch wuchs sich diese Praxis im Jahr 2000 zu einer regelrechten Kampagne gegen die sozialistischen und spanisch-konservativen Stadträte aus. Da der Druck und die Angst aus den genannten Gründen zumal in den kleinen Städtchen besonders hoch und groß sind, läßt sich kraft öffentlicher politischer Gewalt gerade dort die Demokratie erfolgreich unterminieren. Von den ehemals 17 Stadträten in Zumárraga waren im Januar 2002 nur noch 9 im Amt, die anderen 8 Amtsträger waren infolge der Ermordung eines Kollegen nach und nach zurückgetreten. Welche persönlichen und familiären Dramen sich hinter solchen Entschlüssen abspielen und wieviel Mut umgekehrt dazu gehört, einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachzugehen, die augenscheinlich lebensgefährlich ist, läßt sich leicht nachvollziehen.Vgl. Carlos Martínez Gorriarán, "Concejales de Pueblo: los auténticos imprescindibles", in Basta Ya!, a. a. O., S.103-106; und Onaindia, Zumárraga, ebd. Um es ganz deutlich zu sagen: 25 Jahre nach dem erfolgreichen Weg in die Demokratie werden in Spanien wieder Menschen umgebracht, weil sie der falschen Partei angehören.
Wie der 11. März dieses Jahres gezeigt hat, sind aber auch Opfer aus ganz anderen Gründen zu beklagen. Ist seither wirklich alles anders geworden? Ja und nein muß die vorsichtige Antwort wohl lauten. Fast scheint es nämlich so, als habe der Schock über die völlig neue Form des Terrors in Madrid den alten zum Verstummen gebracht. Doch trügt der Eindruck, denn das letzte tödliche Attentat der ETA lag bereits neun Monate zurück. Auch hat die Illegalisierung und Verfolgung der ETA-nahen Unterstützerszene, die von der Regierung Aznar vor allem seit 2001 mit aller Härte durchgesetzt worden war, zumindest auf einem Gebiet sehr konkrete Erfolge verzeichnet: Die berüchtigten "Straßenkampf"-Aktionen sind seit 2003 deutlich rückläufig.Im Sommer 2004 ist allerdings erneut ein leichter Anstieg zu verzeichnen, vgl. El País, 22. und 29. August 2004. Allerdings würde es kein Baske oder Spanier wagen, hier Prognosen aufzustellen, ohne schnell auf Holz zu klopfen. Es läßt sich gegenwärtig kaum ermitteln, ob die Entwicklung ein verläßliches Indiz für das schon so oft vorhergesagte Ende der ETA ist oder nur eine der vielen taktischen Atempausen in ihrer Geschichte markiert.Die kleineren Bombenanschläge, die die ETA in diesem Sommer auf touristische Ziele verübt hat (vgl. ebd.), scheinen einen eher symbolischen Charakter zu haben, im Sinne eines "Wir sind noch da", siehe dazu auch Juergensmeyer, a. a. O., S. 197, und den Artikel über die neue, relative Ruhe am Beispiel San Sebastians in El País, 29. August 2004.
Sehr viel eindeutiger hingegen ist die Erleichterung zu spüren, wie sie der Regierungswechsel hervorgerufen hat. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß die Partei Aznars die Wahlen drei Tage nach dem Madrider Inferno ausgerechnet aufgrund ihrer Instrumentalisierung des baskischen Konflikts verlieren sollte. Denn spätestens seit dem Gewinn der absoluten Mehrheit bei den spanischen Parlamentswahlen vor vier Jahren hatte die konservative Regierung gegenüber den Autonomiebestrebungen der Regionen eine Haltung an den Tag gelegt, die von Intransigenz wie Arroganz gekennzeichnet war und jedwede Verständigung zwischen den gemäßigten baskischen Nationalisten und der Zentralregierung (wie sie in der Regierungszeit Felipe González' existiert hatte) bereits im Vorfeld ausschloß.Vgl. Woodworth, a. a. O., S. 9-11. Der gegenwärtige Klimawechsel ist auf wohl kaum einem anderen Politikfeld derart schnell spürbar gewesen wie im Verhältnis zwischen Zentral- und Regionalregierung. Der neue Regierungschef Rodriguez Zapatero verkörpert dabei nicht nur einen deutlich anderen Politikstil, sondern versucht auch seine Chance zu nutzen, durch Verhandlungsangebote über Fragen des Autonomiestatuts zumindest eines so schnell wie möglich zu erreichen: Er will die gemäßigten baskischen Nationalisten wieder in das "demokratische Lager", das jedwede Kooperation mit der ETA ablehnt, hinüberziehen.So seine Ankündigung gleich nach den Wahlen, vgl. El País, 21. März 2004; und die Berichterstattung über die Treffen mit dem baskischen Ministerpräsidenten Ibarretxte und dem neuen Präsidenten des PNV, Josu Jon Imaz, die nach sechsjähriger Pause wieder Dialogbereitschaft signalisieren, El Correo, 9. September 2004. Inwieweit solche Vorstöße wirklich gelingen können, wird sich zeigen, immerhin aber birgt der sich gerade vollziehende Generationswechsel im PNV Chancen für einen Stilwechsel in sich. Letztlich wird es natürlich nicht um demokratische Lippenbekenntnisse gehen, sondern um die grundsätzliche Frage, inwieweit sich ein nationalistisches Projekt überhaupt für pluralistische Gesellschaftsstrukturen öffnen kann, eine Frage, die im übrigen das ganze, in diesem Zusammenhang so gerne beschworene "Europa der Regionen" betrifft.
Die ausschlaggebende Antwort liegt im künftigen Umgang mit dem politischen Gegner beschlossen. Die dezidierten Nichtnationalisten, ob sie sich nun "Konstitutionalisten", "Dissidenten" oder "Bürgerrechtler" nennen, haben sich seit den Massendemonstrationen nach dem Mord an Miguel Angel Blanco im Jahre 1997 langsam zu einer politischen Gemeinschaft formiert mit eigenen Symbolen, Slogans und öffentlichen Demonstrationen.Neben "Basta Ya!" sind das "Foro de Ermua" (benannt nach der Kleinstadt, aus der der ermordete Stadtrat stammte) und das katholische "Foro de El Salvador" (benannt nach dem Aussöhnungsprozeß in El Salvador) die bekanntesten Organisationen. Dafür, daß sie sich dem nationalistischen Projekt offen verweigern, haben sie seitdem einen hohen Preis gezahlt. Für die Wiederherstellung einer zivilgesellschaftlichen, nachbarschaftlichen Normalität im Baskenland - von "Heilung" oder "Aussöhnung" wagt man kaum zu sprechen - bedarf es deshalb nicht nur eines definitiven Endes der Gewalt, sondern der öffentlichen Anerkennung ihrer Leiden, vor allem des Leids der direkten Opfer des Terrorismus.Vgl. z. B. Antonio Beristaín, S. J., "Las víctimas siguen olvidadas" und Mikel Azurmendi, "La verdad de las victimas", beide in: Basta Ya!, a. a. O., S. 85-93. Es versteht sich von selbst, daß der einflußreichen katholischen Kirche des Baskenlandes und den gemäßigten Nationalisten dabei Schlüsselrollen zufallen, von denen freilich weiterhin unklar bleibt, ob sie sie ausfüllen können - oder wollen.Vgl. die skeptische Einschätzung des Philosophen Fernando Savater, "La democracia del miedo", in: El Correo, 5. September 2004. Zur Rolle der Kirche im Baskenland vgl. das cum ira et studio verfaßte zweite Buch von Iñaki Ezkerra, ETA pro nobis. El pecado original de la Iglesia vasca, Madrid 2002. Nicht auszuschließen ist freilich, daß sich die Geschichte ganz andere Wege sucht, jenseits der großen Pläne und Gesten. Eine kleine Nachricht im sommerlichen Kulturteil von El País vermeldet, im baskischen Fernsehen laufe seit ein paar Monaten eine Serie, die sich über das baskische Labyrinth und seine tragischen Auswüchse lustig macht, über die Rebaskisierung der Sprache, die Anpassungsversuche der Einwanderer und den Mikrokosmos der nationalistischen Szene, ja sogar über ETA.Vgl. El País, 15. August 2004. Die Sendung sei ein großer Publikumserfolg. Vielleicht liegt ja in der aristotelischen Befreiung durch das Lachen mehr Hoffnung als in so manchem politischen Projekt?