Berthold Vogel
Mittelweg 36
Eurozine
Mittelweg 36
2004-09-15
Der Nachmittag des Wohlfahrtstaats
Zur politischen Ordnung gesellschaftlicher Ungleichheit
Nach Jahren, in denen der Staat darauf bedacht war, den sozialen Status und die Sicherheit - besonders der Mittelschicht - zu bewahren, wird nun der Wohlfahrtstaat einer neuen Definition unterzogen. Der Staat gibt hierin seine Rolle als Bewahrer der sozialen Sicherheit auf. Als Folge davon entstehen neue Formen der Ungleichheit, die durch
eine Art "prekären Wohlstand" und soziale Unsicherheit charakterisiert sind.
Berthold Vogel argumentiert, dass die politische Soziologie sich dieser neuen Herausforderungen annehmen, und stärker als bisher die Neustrukturierung der sozialen Klassenverhältnisse und Ungleichheiten analysieren muss.
Die moderne Gesellschaft, so der Staatsrechtler Ernst Forsthoff in
seiner Schrift "Der Staat der Industriegesellschaft" (Forsthoff 1971), kennzeichnet
ihre "Staatsbedürftigkeit". Dieses Diktum aus den 70er Jahren
des vergangenen Jahrhunderts mutet auf den ersten Blick merkwürdig an.
Müssen wir in Zeiten, in denen die wirtschaftliche Globalisierung die politische
Handlungsfähigkeit des Nationalstaats beschränkt, in denen in
weiten Kreisen der Bevölkerung das Ressentiment gegen staatliche Bürokratie
und Beamtenschaft fest etabliert ist, und in denen der einzelne,
beispielsweise in der Figur des "Arbeitskraftunternehmers", zur Kampfeinheit
des Sozialen wird, nicht das strukturelle wie ideologische "Verschwinden
des Staats" konstatieren? Und ist nicht in einer funktional gegliederten
Gesellschaft, die nach systemtheoretischer Überzeugung weder
Spitze noch Zentrum kennt, die kritische, auf Unterscheidung zielende
Redeweise von "Staat" und "Gesellschaft" überholt? Je nach Sichtweise
und Standpunkt geraten in der politischen, publizistischen und wissenschaftlichen
Auseinandersetzung der Staat, das öffentliche Gemeinwesen
und das Gemeinwohl entweder zu fremdartigen, gestrigen Institutionen,
die noch als Ruinen vergangener Zeiten den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Fortschritt heute blockieren. Oder sie werden als aussterbende
Institutionen betrauert, die dem Druck kapitalistischen Profitstrebens
und herrschender neoliberaler Ideologien weichen müssen.
Auf den zweiten Blick zeigt die Diskussion um eine neue Architektur
des Wohlfahrtsstaats, die hierzulande unter dem Titel "Agenda 2010"
einen weiteren politischen Anlauf nimmt, daß die Frage nach der "Staatsbedürftigkeit
" auf die gesellschaftliche Tagesordnung zurückkehrt. Der
Staat als Denkkategorie des Sozialen etabliert sich neu. Während im Globalisierungsfieber
und im New-Economy-Hype der "Roaring Nineties"
(Stiglitz 2004) noch uneingeschränkt der Primat des Ökonomischen die
Debatte um den gesellschaftlichen Wandel dominierte, läßt die aktuelle
Kontroverse um die prekäre Gegenwart und unsichere Zukunft des Wohlfahrtsstaats
den eminent politischen Charakter der gesellschaftlichen
Ordnung erneut hervortreten. So erkennt sich am Nachmittag des Wohlfahrtsstaats
die Gesellschaft in ihrer "Staatsbedürftigkeit" wieder. Die
Diskussion der 90er Jahre um die Erosion und die Irrelevanz des Staates
verliert allmählich an Präsenz und Kraft. Hierfür gibt es gute empirische
Gründe. Denn soziale und berufliche Gefährdungen verharren nicht mehr länger in den beklagenswerten Randlagen der Armut und Ausgrenzung,
sondern sie entwickeln sich mehr und mehr zu Alltagserfahrungen der gesellschaftlichen
Mitte. Vieles spricht dafür, daß die Neuordnung staatlicher
Interventionen und Bestandsgarantien in der Arbeitswelt, der Rentensicherung,
der Gesundheitsvorsorge oder der Eigenheimförderung
nicht nur soziale Randlagen verfestigt, sondern auch den mittleren Lagen
der Gesellschaft zu schaffen macht. Kurzum, die "arbeitnehmerische
Mitte", die ihren sozialen Aufstieg und ihre Statusstabilität in nicht
geringem Maße dem Ausbau des Wohlfahrtsstaats zu verdanken hat, registriert
in diesen Tagen des Reformeifers ihren Bedarf an staatlich garantierter
Statussicherung und sorgender Verwaltung.
Zur Frage nach der Quantität und Qualität der "Staatsbedürftigkeit"
der Gesellschaft tritt im Zuge der Neugestaltung des Wohlfahrtsstaats
auf diese Weise die Frage nach den Strukturen der Gesellschaft, nach
Klassen und Schichten, nach sozialer Differenz und Ungleichheit hinzu.
Die finanzielle, institutionelle und normative Gestalt wohlfahrtsstaatlicher
Politik hat Folgen für das Strukturgefüge der Gesellschaft. Es geht
um die Rolle staatlicher Politik bei der Formung von Lebenschancen und
der Strukturierung des sozialen Ungleichheitsgefüges. Der Wohlfahrtsstaat,
der über Jahrzehnte hinweg gerade in den mittleren Soziallagen der
öffentlichen Dienste, der technisch-sozialen Berufe, der industriellen
Facharbeiter und Fachangestellten als soziale Aufstiegsmaschine und Statussicherungsinstanz
wirkte, verändert seine Gestalt. Der sozialstrukturelle
Dreiklang von Statuserhalt, Wohlstandssicherung und Deklassierungsvermeidung
gerät mehr und mehr zum Basso continuo in der Debatte um die Neujustierung
der Wohlfahrtsstaatlichkeit.
Die "Staatsbedürftigkeit" der Gesellschaft bedarf der Neubestimmung.
Mithin gilt es, weit stärker als bislang geschehen, in zeitdiagnostischer
und sozialanalytischer Absicht, soziologische Befunde zum Wandel der
Sozialstruktur mit politikwissenschaftlichen und staatsrechtlichen Überlegungen
zur künftigen Gestalt von Staatlichkeit und politischer Steuerung
zu verknüpfen. Hierzu bedarf es der Formulierung und Ausarbeitung
einer politischen Soziologie sozialer Ungleichheit (Kreckel 1997)
im Sinne einer wohlfahrtsstaatlichen "logic of stratification" (Esping-
Andersen 1990). In diesem Rahmen möchte der vorliegende Beitrag
einige Anmerkungen liefern. Die Anmerkungen beleuchten erstens den
Diskussionsstand zur veränderten Architektur der (Wohlfahrts-)Staatlichkeit.
Sie unterziehen zweitens Begriffe und Konzepte der Sozialstrukturanalyse
einer kritischen Prüfung. Sie markieren drittens Felder sozialstrukturellen
Wandels, hier insbesondere die Metamorphosen der Erwerbsarbeit.
Und sie geben abschließend Hinweise für eine erweiterte soziologische
Perspektive auf die Entwicklung sozialer Ungleichheit und die Neuordnung
wohlfahrtsstaatlicher "Daseinsvorsorge" (Forsthoff 1971).
1. Vom "sorgenden Staat" zum "gewährleistenden Staat":
Politische Ordnungsmuster und Steuerungsformen des Sozialen
Die Staatswissenschaft, die im 19. Jahrhundert am frühen Morgen
des Wohlfahrtsstaats eine kurze Blüte als wissenschaftliche Disziplin
und politische Ordnungslehre erlebte, kehrt in den späten Nachmittagsstunden
des Wohlfahrtsstaats zurück. Während in den 80er Jahren die
transatlantische Aufforderung Skocpols "Bringing the state back in"
(Skocpol 1985) im alten Europa nur zögerliche Aufnahme fand, erlebt
das Denken über den Staat und "vom Staat her" (Günther 2004) zu Beginn
des 21. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Renaissance (Jessop 2003).
Das wissenschaftliche Schrifttum gewinnt an Breite (Schuppert 2003,
Peuckert 2002) und die Institutionalisierung staatswissenschaftlicher Forschung
und Lehre schreitet voran - ob im Rahmen des Sonderforschungsbereichs
"Staatlichkeit im Wandel" an der Universität Bremen, durch
die Etablierung staatswissenschaftlicher Fragestellungen am Wissenschaftszentrum
Berlin oder in der Neugründung der Hertie School of Governance,
die auf die Ausbildung einer staatswissenschaftlich geschulten
Verwaltungselite zielt. Wenn allerdings heute über Staatlichkeit nachgedacht
wird, dann ist in historischer Perspektive mit Blick auf die Staatswissenschaft
der disziplinären Gründerväter Robert von Mohl und Lorenz
von Stein unstrittig, daß wir mit einem grundlegend veränderten Staatswesen,
einer neuen Kontur der Staatsordnung und einer weitaus größeren
Vielfalt der Staatsaufgaben konfrontiert sind. Doch mit einer Auflösung
des Staats als spezifisch neuzeitliche Form politischer und sozialer
Ordnung, die für Theoretiker sozialer Systeme (Willke 1997: 347ff.) oder
"transnationaler Staatlichkeit" (Beck 2003: 52ff.) eine ausgemachte Sache
zu sein scheint, hat das nur wenig zu tun. Dementsprechend dezidiert
fällt das staatsrechtliche Urteil aus, das auf einem Ernst-Forsthoff-Kolloquium
gesprochen wurde: "Der leidige Streit um das Absterben des
Staats ist insoweit unerheblich. Der heutige Staat mag zwar den Staatsvorstellungen
aus der Zeit der Religionskriege bis hin ins Kaiserreich nicht
mehr entsprechen. Aber er ist nicht tot" (Ronellenfitsch 2003: 74).
Angesichts dieses (auch in seinen nationalen Grenzen) noch recht
"lebendigen" und nach wie vor "arbeitenden Staats" (Lorenz von Stein)
diskutiert nun in weitgehend friedlicher Aufgabenteilung die juristische
Staatsrechtslehre die Formveränderungen der Staatlichkeit, die Verwaltungswissenschaften
thematisieren neue Verfahren des Managements öffentlicher
Aufgaben sowie die Vor- bzw. Nachteile der zunehmenden
Privatisierung staatlicher Leistungen und die Politikwissenschaft, aber
auch die politische Soziologie denkt über neue Konzepte der Steuerung
nach (vgl. Benz 2001; Blanke u. a. 2001; Mayntz 1997). Im Mittelpunkt
steht dabei oftmals eine Phasentypik moderner Staatlichkeit bzw. moderner
Staatsfunktionen. Offe favorisiert beispielsweise ein dreiteiliges Phasenschema:
von der "kumulativen Akquisition von staatlich-öffentlichen Zuständigkeiten für eine umfassende und vorausschauende Daseinsvorsorge"
(Offe 1990: 174), über einen Trendbruch in der "Anhäufung staatlicher
Zuständigkeiten" (ebd. 175), zur resignativen "De-Eskalation von Steuerungsansprüchen,
staatlichen Zuständigkeiten und öffentlichen Verantwortlichkeiten
" (ebd. 176). Eine ähnliche Entwicklung beschreibt Mayntz
mit Blick auf die Karriere der politischen Planungs- und Steuerungsdebatte
(Mayntz 1995): von den bisweilen euphorischen, aber jedenfalls
offensiven Planungstheorien bzw. -praxen der späten 60er und frühen
70er Jahre zur steuerungstheoretischen Abgeklärtheit und Defensive des
Modells "akteurszentrierter Institutionalismus" heute.
Hinter dieser Problematisierung der Steuerungsmöglichkeiten bzw.
der Regulationsansprüche des Wohlfahrtsstaats (vgl. auch Jessop 1996)
verbirgt sich freilich nicht alleine die Demut ehemaliger sozialwissenschaftlicher
Steuerungsoptimisten, sondern die grundlegende Tatsache,
daß sich der Wohlfahrtsstaat der umfassenden Daseinsvorsorge in einer
tiefgreifenden finanziellen, politischen, sozialen und auch ideologischen
Steuerungskrise befindet. In diesem breitgespannten Horizont finanzieller
Erschöpfung, demographischer Gefährdung, globaler Arbeitsmärkte
und sozialmoralischer Neuorientierung bewegt sich seit einigen Jahren
die Diskussion um ein neues Leitbild und um neue soziale Ordnungsvorstellungen
des Wohlfahrtsstaats: vom "sorgenden Staat" (de Swaan 1993)
oder "Vorsorgestaat" (Ewald 1993) zum "gewährleistenden" (Schedler
2000; Schuppert 2001), "ermöglichenden" (Göring-Eckardt 2003) oder
"aktivierenden" Staat (Blanke/von Bandemer 1999; Damkowski/Rösener
2003; Lamping u.a. 2002).
Das Modell des "(vor)sorgenden Staats" und die damit verknüpfte
Idee von Wohlfahrtsstaatlichkeit prägte über Jahrzehnte die westeuropäische
und die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft in konstitutiver
Weise. Nach dem Fall der Mauer erlebte dieses Modell im Zuge der politischen
Vereinigung Deutschlands eine letzte kurze Blüte, die allerdings
auch dessen finale finanzielle Erschöpfung zur Folge hatte. Was charakterisiert
dieses staatliche Modell sozialer Ordnung? Die staatliche
(Vor)Sorge zielte in diesem Modell stets auf mehrere Felder des Sozialen:
auf die Minimierung sozialer Risiken und die Dämpfung sozialer Ungleichheiten
durch staatliche Garantien der Statussicherung in den erwerbsbiographischen,
gesundheitlichen und altersbezogenen Wechselfällen
des Lebens; auf die Absicherung beruflicher Karrieren und die
Öffnung sozialer Aufstiegsperspektiven durch schulische, betriebliche
und universitäre Bildung; auf die Bereitstellung qualifizierter und disziplinierter
Arbeitskräfte; auf die klare Trennung von beruflichen und
privaten Arbeitswelten, d. h. auch auf die repressive Toleranz von Nichterwerbstätigkeit.
Der Leitbegriff und der Orientierungspunkt des "sorgenden
Staates" war der "Arbeitnehmer", der die Sozialpartnerschaft pflegte
und sozialen bzw. beruflichen Aufstiegswillen demonstrierte. Kurzum, im Modell des "sorgenden Staats" verbindet sich ein universaler gesellschaftlicher
Integrations- und Interventionsanspruch mit selektiven sozialstrukturellen
Konsequenzen. Insbesondere die bildungs- und aufstiegsorientierten
(Fach-)Arbeiter- und Angestelltenmilieus profitierten in zweifacher
Hinsicht vom Ausbau des "sorgenden Staats". Der "sorgende Staat"
garantierte ein hohes Maß sozialer Sicherung und eröffnete neue berufliche
Tätigkeitsfelder und Karrieren. Die Expansion des Bildungs- und
Sozialwesens, des Gesundheitssystems, der Pflegeeinrichtungen und der
Sozialversicherungen fungierte als berufliche und soziale Aufstiegsleiter.
Mit der Politik des "sorgenden Staats" etablierte sich als Ausweis seiner
formativen sozialen Kraft eine neue Mittelschicht (Vester et al. 2001:
407ff., Zunz et al. 2002).
Die neue Architektur wohlfahrtsstaatlichen Handelns orientiert sich
hingegen - in Reaktion auf die finanziellen, politischen und normativen
Steuerungskrisen - mehr und mehr am Modell des "Gewährleistungsstaats
" bzw. des "aktivierenden Staats", der keine soziale Statussicherung,
sondern nur noch eine staatlich-institutionelle Grundausstattung bei vermindertem
Personaleinsatz "anbietet" bzw. "gewährleistet". Den Bürgern
werden nun Chancen ermöglicht, die zu nutzen allerdings ihre Aufgabe
ist. "Schlagwortartig lassen sich die Änderungen dahingehend beschreiben,
daß der Staat immer weniger für bestimmte Ergebnisse einsteht, insbesondere
für die direkte Erfüllung von Bedürfnissen der Bürgerinnen
und Bürger. Statt dessen schaltet er zunehmend andere (insbesondere
Private) in die Problemverarbeitung ein, gewährleistet aber die Funktionsfähigkeit
dieses Weges der Problemverarbeitung (.. .). Der erfüllende
Wohlfahrts- und Interventionsstaat wird durch den ermöglichenden Gewährleistungsstaat
überlagert und ersetzt" (Hoffmann-Riem 1999: 221f.).
Die Konzeption des "Gewährleistungsstaats" beschränkt sich freilich
keineswegs alleine auf die Felder der Erwerbsarbeit und der sozialen
Sicherung. Auch im Bereich öffentlicher Güter (z.B. der Strom- oder
Wasserversorgung), des öffentlichen Verkehrswesens oder des Bildungswesens
tritt der Staat im Zuge von Privatisierungen Aufgaben an Dritte
(private Unternehmen oder Stiftungen) ab, ohne als "gewährleistender
Staat" jedoch auf hoheitliche Funktionen zu verzichten (Grande 1997).
In all diesen Fällen geht es um neue Arrangements des Staatlichen, um
die Einrichtung von Netzwerken und den Aufbau kooperativer Verhandlungssysteme,
um die Selbstregulierung und Mediatisierung der öffentlichen
Sphäre (vgl. Esser 1998). In paradigmatischer und sozialstrukturell
folgenreicher Weise kommt dieser Modellwechsel im Verhältnis von
Staat und Gesellschaft in der grundlegenden Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik
und des Sozial(leistungs)rechts zum Ausdruck (Blanke 2004).
Diese Neuorientierung staatlichen Handelns, die einen veränderten Regulationsmodus
des Sozialen repräsentiert, trifft in ihrer entschiedenen
und konsequenten Abkehr vom Prinzip der Statussicherung in besonderem Maße die bislang gesicherte Mitte der Gesellschaft - darunter auch
die sozialen Aufsteiger, "deren Eltern immer nur die Fabrik kannten"
(Neckel 2000: 177), und die von der Expansion des "sorgenden Staats"
profitieren konnten.
Doch der wohlfahrtsstaatliche Modellwechsel kann nur schwer als
Einbahnstraße zu immer weniger Staat, als generelle "Überforderung des
Staats" (Ellwein/Hesse 1997) oder als prinzipieller Verzicht auf staatliche
Intervention beschrieben werden. Gerade die Eingriffe des Staats
in die Sphäre der Erwerbsarbeit, insbesondere in den Randlagen von
Arbeitsmarkt und Beschäftigungssystem, waren noch nie so mannigfaltig
wie heute. Wer hierfür Belege sucht, dem genügt ein Blick auf die
aktuelle Entwicklung von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Arbeitslose
werden im Zuge gesetzlicher Neuregelungen aufgefordert, zunächst ihre
Vermögensbestände aufzubrauchen, bevor sie staatliche Unterstützungsleistungen
erhalten, qualifizierte Facharbeiter werden von den Arbeitsagenturen
in die Leiharbeit gedrängt, Familien müssen vom Job-Mix
im staatlich geförderten Niedriglohnsektor existieren, der berufliche
Bestandsschutz bei der Arbeitssuche ist aufgehoben, und nur noch kurzzeitig
Arbeitslosen wird der Weg in weiterbildende und arbeitsschaffende
Maßnahmen geebnet. Sind das Beispiele für staatlichen Interventionsverzicht
und Steuerungspessimismus? Gewiß nicht. Die Aufzählung aktueller
staatlicher Interventionsfelder gibt uns vielmehr einen Hinweis darauf,
daß der gewährleistende Staat und dessen programmatische Abkehr
vom Statussicherungsprinzip mit einer Ausweitung von Kontrollpraktiken
und Zwangsmaßnahmen in den sozialen Randlagen einhergeht. Die
sozialmoralisch im Zentrum der Gesellschaft aufgeladene und rechtlich
normierte Forderung des gewährleistenden Staats nach "Selbstaktivierung
" und "Eigenverantwortung" wird in der Peripherie von neuen Formen
des sozialpolitischen Autoritarismus (Dahrendorf 2000: 167) flankiert.
Der Übergang vom "sorgenden Staat" zum "gewährleistenden" Staat
entfaltet mithin sehr ungleiche Wirkungen an unterschiedlichen Orten
der Gesellschaft. Der Entzug der Statussicherung hat in der Mitte der
Gesellschaft andere Konsequenzen als in deren Randlagen - dort geht
es um die Prekarität des Wohlstands, hier um die Verfestigung der Armut,
dort geht es um den Entzug der Statusstabiliät, hier um die verschärfte
Kontrolle sozialer und materieller Abhängigkeiten. Insofern zeigt sich,
daß in der Diskussion um neue Konzepte der Staatlichkeit keineswegs
nur verfahrenstechnische Fragen politischer Steuerung zur Verhandlung
stehen. Diese Diskussion zielt vielmehr auf die politische Durchsetzung
veränderter Ordnungsvorstellungen für jeweils spezifische gesellschaftliche
Zonen (Lessenich 2003a: 215). Mit anderen Worten: Die Neukonzeption
staatlicher Politik hat zentralen Einfluß auf die Gliederung der
Gesellschaft, sie formt und differenziert Lebenschancen. Neue Ungleichheiten
treten hervor. Die sozialstrukturelle Frage kommt ins Spiel.
2. Von der Exklusion zur Vulnerabilität.
Von der Armut zum prekären Wohlstand. Sozialstrukturelle Perspektiven
Der Kern veränderter (Wohlfahrts-)Staatlichkeit und eines markant
neuen Zuschnitts des Politischen ist die schrittweise Abkehr vom Statussicherungsprinzip.
Dieser "Modellwechsel" in der staatlichen Daseinsfürsorge
ist für die Entwicklung des sozialen Strukturgefüges von zentraler
Bedeutung. Allein die sozialstrukturelle Debatte hat davon noch
nicht allzuviel bemerkt. Zu sehr ist sie auf der einen Seite in die statistische
Messung und Quantifizierung sozialer Ungleichheit vertieft, und
zu sehr ist sie auf der anderen Seite in kategoriale Debatten verstrickt.
Wert und Würde dieser Mühen sind nicht in Zweifel zu ziehen. Gleichwohl
ist manche diagnostische Beschränkung zu beklagen. Ein Beispiel
hierfür ist die soziologische und sozialpolitische Debatte um Exklusion
und Inklusion (zuletzt Schwinn 2004). Das in dieser Debatte entworfene
dichotome Bild einer "Innen-Außen"-Spaltung der Gesellschaft löste
seit den 90er Jahren sowohl die Vorstellung einer geschichteten Mittelstandsgesellschaft
altbundesrepublikanischer Prägung ab, als auch die
Diagnose einer postmodernen bzw. postindustriellen Verflüssigung der
Sozialstruktur. "Exklusion und Inklusion", aber auch "Ausgrenzung und
Einbindung" oder "Überflüssige und Integrierte" sind mittlerweile wohletablierte
Kategorienpaare sozialstruktureller Gliederung und Ordnung
(vgl. Kronauer 2002; Vogel 2001). Dieser Neuzuschnitt der Sozialstrukturanalyse
ist produktiv, er weist auf neue soziale Spaltungen hin, er
thematisiert Armut und Marginalität in neuer Weise und liefert ein erweitertes
Verständnis aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen (Paugam
2004). Doch dieser Zugewinn an Erkenntnis fordert auch seinen Preis.
So drohen die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Prozesse aus
dem Blick zu geraten, die das "Innen" und das "Außen", das "Zentrum"
und die "Peripherie" aneinanderbinden. Zudem suggeriert das Bild einer
"Innen-Außen"-Spaltung der Gesellschaft das Vorhandensein eines stabilen
und homogenen gesellschaftlichen Zentrums. Schließlich lenkt die
Dichotomie von "Innen" und "Außen" die Aufmerksamkeit in erster
Linie auf die Fluchtpunkte der Exklusion: auf Armut, dauerhafte Arbeitslosigkeit
und verstetigte Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung.
Diese Verlagerung der Aufmerksamkeit hat gute empirische Gründe,
aber die Analyse der Entwicklung sozialer Ungleichheit darf sich nicht
allein mit dem Verweis auf die Expansion und Abspaltung sozialer und
materieller Randlagen begnügen. Der Begriff der Exklusion ist keine sozialstrukturanalytische
Kategorie (Castel 2000a: 11), er ist eine Metapher
des sozialen Wandels. Als Metapher verweist Exklusion auf die Krisen
zentraler gesellschaftlicher Integrationsinstanzen: Wohlfahrtsstaat und
Arbeitsmarkt. Doch die Exklusionsdebatte öffnet unseren Blick nicht für
die Grauzonen und die Übergangsphasen des sozialstrukturellen und
sozialpolitischen Wandels: d. h. für die allmähliche Erosion und Gefährdung sozialer Stabilität, für die Prekarität des Wohlstands, für die Verwundbarkeit
beruflicher Positionen und gesellschaftlicher Beziehungen
und für die Folgen des politischen Entzugs sozialer Sicherungen und Bestandsgarantien.
Wenn der wirtschaftliche Strukturwandel die Kernbereiche
der Arbeitswelt erreicht, wenn die Neujustierung der wohlfahrtsstaatlichen
Politik mehr und mehr auf die Mitte der Gesellschaft zielt
und wenn infolgedessen stabile Status- und Wohlstandspositionen fragil
werden, dann ist es unabdingbar, den soziologischen Blick aus dichotomen
Schemata zu befreien und ihn zu erweitern - von der Exklusion
zur Vulnerabilität, von der Armut zum prekären Wohlstand.
Worauf zielen die Begriffe "Vulnerabilität" und "prekärer Wohlstand"?
Zunächst zum Begriff der Vulnerabilität. Mit diesem Begriff kommen jenseits
der bewährten sozialstrukturellen Indikatorik die gefühlte soziale
Ungleichheit und Unsicherheit ins Spiel. Akteure in unsicheren, fragilen
sozialen Lagen und Positionen geraten in den Blick. Vulnerabilität subjektiviert
strukturelle soziale Gefahren und Risiken. "Vulnerability is not
the same as poverty. It means not lack or want, but defencelessness, insecurity,
and exposure to risk, shocks and stress (. . .). Vulnerability here
refers to exposure to contingencies and stress, and difficulty in coping
with them" (Chambers 1989: 1). Darüber hinaus öffnet der Begriff der
Vulnerabilität den Horizont soziologischer und sozialanthropologischer
Diskussion und Theoriebildung, der insbesondere mit den Namen
Simmel, Popitz und Plessner verbunden ist, und den Latzel in folgender
Weise umreißt: "Zur Quelle von Verletzungen können sowohl der eigene
Körper, die Außenwelt wie das Verhältnis zu anderen werden.
(. ..) Erfahrungen
von Verletztwerden bzw. Verletztsein können dann als Erfahrungen
der Bedrohung, Störung oder Zerstörung der mit der leiblichen
Existenz gegebenen Beziehungen gelten: des Verhältnisses zu sich selbst,
der Kontrolle über den eigenen Körper, der Basisregeln und Gewissheiten
der Lebenswelt, des Grundvertrauens auf die Respektierung körperlicher
wie seelischer Integrität, der Aussicht auf Hilfe, der Kontinuität
räumlicher Vertrautheit und zeitlicher Vorhersehbarkeit" (Latzel 2003:
134). Der französische Sozialhistoriker Robert Castel führt den Begriff
der Vulnerabilität schließlich in die sozialstrukturelle und sozialpolitische
Debatte ein. Der zentrale Bezugspunkt sind hier die Metamorphosen
der sozialen Frage, also die "fundamentale Aporie, an der eine Gesellschaft
das Rätsel ihrer Kohäsion erfährt und das Risiko ihrer Fraktur
abzuwenden sucht" (Castel 2000: 17). Castel identifiziert drei Zonen
des sozialen Lebens: die Zone der Integration, der Vulnerabilität und der
"desaffiliation", d.h. der Abkoppelung oder Ausgrenzung. Diese Zonen
unterscheiden sich je nach dem, wie gesichert die Stellung in der Erwerbsarbeit
und wie stabil bzw. solide die Einbindung in soziale Netze ist. Mit
Blick auf die organisatorische und rechtliche Prekarität der Beschäftigung,
auf die Lockerung oder den Verlust sozialer Beziehungen und die Neujustierung staatlicher Politik spricht Castel von einer Ausweitung der
Zone der Vulnerabilität. In dieser Verwendungsweise des Begriffs steckt
Vulnerabilität eine Zone sozialer Wahrscheinlichkeiten ab, in der es um
Abstiegs- und Deklassierungsdrohungen, um Aufstiegs- und Stabilitätshoffnungen,
aber eben nicht um Exklusionsgewißheiten geht.
Der Begriff des prekären Wohlstands etablierte sich zunächst in der
Armutsforschung. Er ist der Titel einer Studie über den sozialstrukturellen
Zusammenhang von Einkommens- und Lebenslagen (Hübinger
1996). Mitte der 90er Jahre machte der Sozialwissenschaftler Werner
Hübinger auf der Grundlage einer sozial- und einkommensstatistischen
Untersuchung auf eine expandierende Einkommenszone aufmerksam,
die zwischen Armut und gesicherten Wohlstandspositionen angesiedelt
ist. Das Auskommen mit dem Einkommen fällt in dieser Zone schwer.
Prekärer Wohlstand markiert einen gefährdeten Lebensstandard, und er
signalisiert: Die Mitte der Gesellschaft ist in ihrer Stabilität bedroht,
soziale Unsicherheit und materielle Restriktionen finden sich nicht erst
in den verarmten und langzeitarbeitslosen Randlagen der Gesellschaft.
Prekärer Wohlstand ist zudem ein relationaler Begriff, der sich durch
soziale Abstände definiert und der auf ambivalente Erfahrungen und
Selbstdefinitionen verweist - eben auf das Spannungsverhältnis von Prekarität
und Wohlstand. Seit kurzem ist der Begriff des prekären Wohlstands
auch offizielle Einkommenskategorie im Datenreport des Statistischen
Bundesamtes (Statistisches Bundesamt 2002: 580ff.). Der Einkommenszone
des prekären Wohlstands werden vom Statistischen Bundesamt
diejenigen Haushalte zugerechnet, deren Einkommen sich zwischen 50
Prozent und 75 Prozent des arithmetischen Mittels der monatlichen
Haushaltsnettoeinkommen bewegen. Etwa ein Viertel aller Haushalte ist
dieser Einkommenszone zuzurechnen, allerdings zwei Drittel all jener
Haushalte, in denen fünf und mehr Personen leben (Statistisches Bundesamt
2002: 588f.; vgl. auch Groh-Samberg 2004).
Beide Begriffe nehmen eine fragile, prekäre, materiell und sozial unsichere
Zone in den Blick, in der es zwar noch nicht um Armut und
Arbeitslosigkeit, um Marginalisierung und soziale Ausgrenzung geht,
aber wo der erreichte Lebensstandard und die errungenen beruflichen
und sozialen Positionen dennoch nicht sicher sind. In dieser Zone der
Gesellschaft steht die Frage von Auf- und Abstieg, von Stabilisierung
und Destabilisierung, von Sicherheit und Unsicherheit zur Diskussion;
in dieser Zone gleicht die Lebens- und Haushaltsführung einem fragilen
Kartenhaus, das nur geringer Erschütterung bedarf, um in sich zusammenzustürzen.
Die materiellen und sozialen Ressourcen sind knapp und deren
Verwendung ist genau kalkuliert, so daß der (auch kurzfristige) Verlust
des Arbeitsplatzes, eine länger währende Erkrankung, unerwartete finanzielle
Anforderungen oder familiäre Probleme gravierende soziale Folgen
besitzen können. Als Prozeß- und Wahrscheinlichkeitsbegriffe verändern Vulnerabilität und prekärer Wohlstand die Sichtweise auf die Grundlagen
der sozialen Ungleichheitsordnung. Anstelle der statistischen Verteilung
sozialer Lagen kommen nun Biographien und Erwerbsverläufe ins Spiel,
statt Individuen rücken Familien und Haushalte in den Mittelpunkt.
Die soziologische Betrachtung der Sozialstruktur wendet sich auf diese
Weise von den Randlagen in das Zentrum der Gesellschaft, hin zu den
Quellen und Ausgangspunkten sozialer Exklusions- und Abstiegsprozesse,
materieller Armut und Marginalität.
Vulnerabilität und prekärer Wohlstand erweitern das sozialstrukturelle
Vokabular. Sie erlauben einen differenzierten und problemadäquaten
Blick auf die sich herausbildenden Ungleichheitsstrukturen in Zeiten
neuer politischer Ordnungsmuster des Wohlfahrtsstaats. Und sie leisten
wertvolle Dienste als heuristische Instrumente zur Diagnostik des Wandels
der arbeitnehmerischen Mitte der Gesellschaft, der "sozialen Zentralkonstellation
" (Castel 2000: 318). Die Sozialstrukturanalyse kehrt auf
diese Weise zu einem Thema zurück, dessen empirische Klassifikation sie
seit jeher in besonderem Maße herausgefordert hat: die Mitte. Die Beschreibung
und Diagnostik der deutschen Gesellschaft erfolgte immer
wieder von ihrer Mitte her. Das gilt für die populäre Charakterisierung
der westdeutschen Sozialordnung als "nivellierte Mittelstandsgesellschaft"
(Schelsky 1965) oder auch für die Typisierung der DDR als das "Land
der kleinen Leute" (Gaus 1983). Selbst die spätbundesrepublikanische Beschreibung
der "Risikogesellschaft" (Beck 1986) findet ihre Ausgangspunkte
in den mittleren Lagen und Milieus. Zwar handelte es sich in all
den genannten Beispielen stets mehr um Etiketten zur Charakterisierung
des Sozialgefüges und des Sozialklimas (vgl. Braun 1989) und weniger
um empirische Befunde der Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung.
Doch ihr zeitdiagnostischer Wert als Kategorien gesellschaftlicher Selbstbeschreibung
ist unbestritten. Im Rahmen der Diskussion um soziale
Vulnerabilität und prekären Wohlstand bietet sich diese Traditionslinie
als Bezugspunkt aktueller Analysen des Wandels der sozialen Mitte an.
Denn es ist ja gerade die Erosion der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft
", der definitive Untergang des "Landes der kleinen Leute" und
die Ausbreitung sozialer Risiken, die heute den sozialstrukturellen Dreiklang
von Statuserhalt, Wohlstandssicherung und Abstiegsvermeidung erzeugen.
Das Ende lange Zeit gültiger Beschreibungsmuster sozialer Mentalitäten
und Strukturen kündigt sich in den Nachmittagsstunden des
Wohlfahrtsstaats an. Welche empirischen Indikatoren finden wir hierfür?
3. Mitte(n) im Abstieg?
Der soziale Ort der Vulnerabilität und des prekären Wohlstands
Prekarität des Wohlstands setzt Wohlstand voraus, und nur Menschen,
die Statussicherheit kennen, fürchten deren Vulnerabilität. Wenn wir also
über Perspektiven und Konzepte der Wohlfahrtsstaatlichkeit sprechen, wenn wir soziale Ungleichheit und sich verändernde Sozialstrukturen
zum Thema machen, wenn wir die Begriffe der Vulnerabilität und des
prekären Wohlstands in die sozialstrukturelle Debatte einführen, dann
geht es in erster Linie um das Arbeiten und das Leben in der Mitte der
Gesellschaft, um Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste, um die Bewahrung
von Wohlstand und Sicherheit. Die Bezugspunkte dieser sozialen
Mentalitäten und Orientierungen sind - neben dem "wohlfahrtsstaatlichen
Arrangement" als Statusgarant - die Familie und die mit ihr
verknüpften Strategien der Statusreproduktion; die Bildung und das Versprechen
auf Statusverbesserung; der Konsum und die Haushaltsführung
als Eckpunkte symbolischer Positionsgewinne und die Erwerbstätigkeit
als Grundlage beruflicher und sozialer Karrieren, als sozialer Platzanweiser
und Türöffner zum wohlfahrtsstaatlichen Leistungssystem. In
seinem Aufsatz "Der Staatsbürger und die Klassen" fixierte Dahrendorf
das Thema der sozialen Mitte am Beispiel der "Dienstklassen", die als
spezifischer Typus der "neuen Mittelklasse" in besonderer Weise die
"soziale Zentralkonstellation" repräsentieren (Dahrendorf 1965: 107).
Die "Dienstklassen" bringen als soziales Produkt der erweiterten Aufgaben
staatlicher Daseinsvorsorge den Typus des "Status-Suchers" hervor.
Dessen Mentalitäten, Moral und Manieren strahlen auf die übrige Gesellschaft
aus. Soziale Statussuche wird, so Dahrendorf, zum hegemonialen
Lebensmuster in entwickelten wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaften.
An diesen Orten im sozialen Raum, den Orten steter Statussuche,
sind soziale Vulnerabilität und prekärer Wohlstand lokalisiert. Im konfliktreichen
Kräftefeld von Staat, Markt und sozialen Beziehungen konstituieren
sie sich. Die Metamorphosen der Erwerbsarbeit spielen dabei
für den Gestaltwandel der gesellschaftlichen Mitte, für die Vulnerabilität
ihrer sozialen Positionen und für die Prekarität ihres Wohlstandes fraglos
die zentrale Rolle. Die Welt der Erwerbsarbeit, der Betriebe und Unternehmen
erfährt seit einiger Zeit grundlegende Wandlungen. Industrieund
arbeitssoziologische Studien zeichnen präzise neue Konzepte der
Unternehmensorganisation und der betrieblichen Personalplanung und
-rekrutierung nach. Der verstärkte Einsatz von Leiharbeit, die Ausweitung
der befristeten Beschäftigung und der sogenannten Scheinselbständigkeit,
die Expansion der Gruppenarbeit und der Trend, Arbeitsabläufe projektförmig
zu organisieren, die Zergliederung von Unternehmen in Costund
Profitcenter, die Auslagerung und Ausgründung bestimmter betrieblicher
Aufgaben (vom Wachdienst über die Logistik bis zur Kantine),
die Hierarchisierung von Betrieben in Endfertiger und Zulieferer - alle
diese Stichworte geben uns Hinweise auf eine grundlegend veränderte
Physiognomie des Erwerbslebens (vgl. Schumann 2003; Martin/Nienhüser
2002; Oschmiansky/Oschmiansky 2003). Die skizzierten Prozesse konzentrieren
sich freilich keineswegs allein auf den privaten Sektor. Geradezu
eine Vorreiterrolle im Wandel der Arbeitswelt spielt der staatliche Sektor bzw. der öffentliche Dienst. "Flexibilisierte oder auch atypische
Beschäftigungsformen (sind) im öffentlichen Dienst verbreiteter als angenommen
und (haben) in den letzten Jahren deutlich zugenommen"
(Ahlers 2004: 80). Die Ökonomisierung des Politischen (Pelizzari 2001)
ist ein Projekt der Politik. Von einer Konfrontation "Staat" versus "Markt",
die auf abweichende Ordnungsvorstellungen des Sozialen verweist, kann
nur schwer die Rede sein. Es sind doch gerade staatliche Agenturen, die
intensiv auf die Einführung von Marktprinzipien drängen - in allen
Feldern wohlfahrtsstaatlicher Politik und insbesondere in der öffentlichen
Verwaltung selbst (Blanke u. a. 2001).
Eine zentrale Folge der internen und externen Neuausrichtung betrieblichen
Handelns ist der Verlust der sozialintegrativen Kraft der privaten
und öffentlichen Unternehmen. Die Kalkulierbarkeit betrieblicher
und beruflicher Karrieren (und damit: sozialer Positionsgewinne) verliert
mehr und mehr ihre arbeitsrechtliche und organisatorische Basis.
Die vertragliche Gestaltung der Beschäftigungsverhältnisse wird spezieller,
variabler und personalisierter. Die betrieblichen Strategien interner Flexibilisierung
führen zu einer stärkeren Individualisierung der Arbeitsverhältnisse
und -beziehungen. Die Strategien externer Flexibilisierung - die
Eingliederung der Unternehmen in Netzwerkstrukturen - dekollektivieren
die Organisation der Arbeit. Insgesamt gilt hinsichtlich der Stabilität und
der Perspektiven von Beschäftigungsverhältnissen, aber auch hinsichtlich
ihrer rechtlichen Form und Gestaltung, daß die sozialen Ungleichheiten
innerhalb der Betriebe wachsen und daß sich soziale Selektionsprozesse
verschärfen (vgl. am Beispiel der Leiharbeit: Vogel 2003). Der Betrieb als
homogene organisatorische Einheit, die auf unterschiedlichen Hierarchieund
Qualifikationsstufen kollektive Stabilität und individuelle Karrieren
anbietet, ist Vergangenheit (Kotthoff 2002). Und noch weitere Aspekte
des arbeitsweltlichen Wandels sind im Kontext der Frage nach sozialer
Vulnerabilität und prekärem Wohlstand von Belang: einerseits die "Vermarktlichung
" des Arbeitshandelns und der Arbeitsorganisation. Wenn
die rechtliche und soziale Einheit des Betriebes zerfällt, dann genügt es
nicht, "arbeiten zu können, man muss auch seine Arbeit aushandeln, sich
selbst evaluieren, kurz ðsich verkaufenÐ können" (Balazs/Faguer 1992).
Andererseits die Expansion der Zone der Niedrigeinkommen - bisweilen
auch "working poor" genannt (Strengmann-Kuhn 2001) - und soziale
Phänomene der Mehrfachbeschäftigung (Rouault 2002) oder der Scheinselbständigkeit
(Reindl 2000). In den Nachmittagsstunden des "sorgenden
" Wohlfahrtsstaats differenziert und pluralisiert sich dessen soziale
Leitfigur: der unbefristet und vollzeitig erwerbstätige, tariflich entlohnte
und sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer. An seiner Stelle betreten
zahlreiche neue Figuren die gesellschaftliche Bühne, beispielsweise der
auf seine soziale und berufliche Durchsetzungsfähigkeit vertrauende
Arbeitskraftunternehmer (Voß/Pongratz 2003), der konzessionsbereite und den "Marktverhältnissen" unterworfene Arbeitsspartaner (Behr 2000),
die beschäftigungspolitischen Neuschöpfungen der "Ich-AG" und des
"Mini-Jobbers" und der zum Hoffnungsträger sozialdemokratischer Arbeitsmarktpolitik
avancierte Leiharbeiter. Das Angebot der Ware Arbeitskraft
ist vielfältiger geworden. Eine zentrale Triebfeder dieser Vervielfältigung
ist hierbei die grundlegende Neuausrichtung des Arbeitsrechts und
der Arbeitsmarktpolitik, die in der "Negation des vertragsrechtlichen Sonderstatus
des Arbeitrechts", d. h. in der juristischen Negation der Disparität
und Machtasymmetrie der Vertragsparteien des Arbeitsverhältnisses
zum Ausdruck kommt (Blanke 2004: 8). Der Begriff des Arbeitnehmers
wird arbeitsrechtlich neu bestimmt, dessen Fixpunkt ist nicht mehr das
Normalarbeitsverhältnis. Vielmehr geht "mit der Zunahme und der rechtlichen
ðNormalisierungÐ atypischer Beschäftigungsverhältnisse eine allmähliche
Umdeutung der juristischen Interpretation des Arbeitsvertrages
einher (. . .), die das Arbeitsrecht seiner Sonderstellung beraubt, auf der
es sich als soziales Schutzrecht der abhängigen Arbeit entfalten konnte"
(Blanke 2004: 3). Die aktuelle Entwicklung des Arbeits- und Sozialrechts
repräsentiert ein Lehrstück sozialer und rechtlicher Vulnerabilität.
Die Geschichte sozialer Vulnerabilität und prekären Wohlstands, die
hier entlang des Feldes der Erwerbsarbeit und der rechtlichen Gestaltung
der Arbeitsbeziehungen skizziert ist, kann auch an den Feldern der Familie,
der Generationenbeziehungen, des Konsums oder der privaten Haushaltsführung
weitergeführt werden (vgl. dazu Vogel 2004: 177ff.). In dieser
Geschichte spiegeln sich gesellschaftliche Prozesse wider, die den Integrationskomplex
aus Erwerbsarbeit und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Frage
stellen, die der sozialen Sicherheit und dem materiellen Wohlstand ihre
Fraglosigkeit nehmen und die die kollektiven wie individuellen Perspektiven
des Aufstiegs oder der Statusstabilität dementieren. Das vielzitierte
Modell Deutschland, das die Entwicklung des Wohlfahrtstaats eng mit
der Gestaltung der Erwerbsarbeit verknüpfte, und das die Erzählung eines
kollektiven sozialen Aufstiegs des sozialversicherten Arbeitnehmers war,
ist offensichtlich abgeschlossen. Vieles deutet darauf hin, daß nun die
politische Regulation materieller und symbolischer Verluste, sozialversicherungstechnischer
Unregelmäßigkeiten, sozialer Ab- und Seitwärtsbewegungen
und beruflicher Unsicherheiten in den Vordergrund treten.
Die Brüchigkeit sozialer Positionen, neuartige Gefährdungen des arbeitsrechtlichen
Schutzes, das Scheitern sicher geglaubter Karrieren und die
Unmöglichkeit der Fortsetzung bestimmter sozialer Arrangements werden
zum Thema. In der Diskussion um die Orte und Figurationen sozialer
Vulnerabilität und prekären Wohlstands geht es in erster Linie um die
"Minusvisionen" (Niermann 2003) der bedrohten Mittelklasse, also zum
Beispiel um Alleinverdienerhaushalte des "male-breadwinner"-Typus, die
ihr familiäres Budget in prekärer Balance zu halten versuchen, um Mehrfachbeschäftigte,
die mittels "Job-Mix" ihr Auskommen bestreiten, um Beschäftigte in Kleinbetrieben, die durch den Verzicht auf Lohn und Arbeitnehmerrechte
den eigenen Arbeitsplatz zu stabilisieren versuchen, um
berufliche Existenzen prekärer Selbständigkeit, die sich von Auftrag zu
Auftrag bangen, oder um Angestellte im öffentlichen Dienst, deren berufliche
Hoffnungen im "new public management" ihr Ende fanden.
4. Am Nachmittag des Wohlfahrtsstaats.
Für eine politische Soziologie sozialer Ungleichheit
Der hohe Mittag des (vor)sorgenden und auf unmittelbare gesellschaftliche
Intervention orientierten Wohlfahrtsstaats ist überschritten,
aber der Abend noch nicht erreicht. Am Nachmittag gibt es weder Euphorie
noch Tragödie, weder Neubeginn noch endgültigen Verlust. Die Diskussion
der aktuellen Gestalt des wohlfahrtsstaatlich geprägten Kapitalismus
thematisiert eine Zwischenzeit. Vieles meldet sich am Nachmittag
eines Zeitalters zurück - Staat, Klasse und Gemeinwohl als Strukturbegriffe
und Denkkategorien des Sozialen erleben ihre Renaissance. Freilich
bedürfen sie einer kritischen Prüfung und mancher inhaltlichen Revision.
Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft verändert ihren Charakter. Ganz
im Geiste dieser nachmittäglichen Stimmung bemerkt Henning Ritter
im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, daß "der Lebensstil des
durchschnittlichen Deutschen, der sich sehr weitgehend von der Leistungskraft
des Staates abhängig gemacht hatte", nach neuem sozialem,
materiellem und auch mentalem Halt wird suchen müssen (Ritter 2004).
Die soziologische Theoriebildung und Forschung kann es freilich nicht
bei dieser Beschreibung politischer Stimmungen und sozialer Konturen
bewenden lassen. Gefragt ist vielmehr die theoretische Formulierung
einer politischen Soziologie sozialer Ungleichheit und deren empirische
Ausarbeitung entlang der Kategorien "soziale Vulnerabilität" und "prekärer
Wohlstand". Was sind die konzeptionellen Anknüpfungspunkte
einer politischen Soziologie sozialer Ungleichheit? Was sind deren Perspektiven?
Einige abschließende Anmerkungen hierzu.
Wichtige Anknüpfungspunkte für eine sozialstrukturelle Analyse und
sozialtheoretische Diagnose des nachmittäglichen Wohlfahrtsstaats bieten
zum einen die wiederbelebten Staatswissenschaften als interdisziplinäre
"Beleuchtungstechnik" (Schuppert 2003: 29) des wohlfahrtsstaatlichen
Wandels, zum zweiten die politikwissenschaftlichen Überlegungen
zur Neubestimmung des Gemeinwohls als politisch-sozialem Leitbegriff
(Münkler/Bluhm 2001: 9ff.), zum dritten ökonomische Analysen, die
verschärfte Ungleichheiten der privaten Einkommens- und Vermögensverhältnisse
in einen analytischen Zusammenhang mit veränderten normativen
sozialen Ordnungsvorstellungen bringen (Krugman 2002), und
schließlich die institutionentheoretisch angeleitete Rechtssoziologie
(Schelsky 1980), die sich sowohl für die Verschränkung rechtswissenschaftlicher
und soziologischer Fragestellungen stark macht, aber auch
nach den sozialen Bedingungen bzw. den Voraussetzungen von Recht
und Staatlichkeit fragt. Insbesondere Schelsky hat immer wieder mit
Nachdruck auf das rechtstheoretische Defizit der deutschen Soziologie
hingewiesen. Sein Monitum, daß die Soziologie "entweder das Recht
gar nicht mehr in ihre Theoreme (einbezieht, B.V.) oder es einseitig institutionalistisch
als Mechanismus der sozialen Einordnung und Steuerung,
Kontrolle oder Konfliktlösung" (Schelsky 1980: 27) versteht, gilt
noch heute. Schelsky geht es um das "praktische Ordnungsprinzip des
Rechts", um die Gestaltung der Gesellschaft durch das Recht. Doch die
Betrachtung des Rechts als strukturierte und strukturierende Sozialbeziehung,
die im Herrschaftsmodus der Staatlichkeit ihren Rahmen findet
und die in ihren spezifischen Ausprägungen ziviler und sozialer
Rechte für die Grundlagen der öffentlichen Existenz des einzelnen sorgt,
ist hierzulande der fachsoziologischen Gegenwartsdiagnose und der Sozialstrukturanalyse
bislang weitgehend fremd geblieben - abgesehen von
den produktiven Bemühungen Kaufmanns und Lessenichs um eine Soziologie
der Sozialpolitik (Kaufmann 2002; Lessenich 2003b).
Anders in der französischen Diskussion. Hier finden sich vielfältige
Perspektiven einer soziologischen Diagnose des sozialstrukturellen Wandels
im und durch die Rechtsordnung des Wohlfahrtsstaats. Rechtssetzung
und Rechtsdurchführung werden hier weit stärker als in der deutschen
Debatte als sozialstrukturell formative Prozesse verstanden. Das gilt
in besonderem Maße für die Arbeiten Castels, aber beispielsweise auch
für die einflußreichen Analysen zur "Bedeutung des Rechts im neuen
Geist des Kapitalismus" bei Boltanski und Chiapello (Boltanski/Chiapello
2003: 445ff.), und nicht zuletzt in der konflikttheoretischen Sozioanalyse
Bourdieus (vgl. zum Beispiel Bourdieu 1998), die auf die kollektive
Definitionsmacht sozialer Probleme durch den Staat bzw. durch dessen
Juristen nebst Verwaltungsapparatur verweist. Ein gutes Beispiel für eine
dezidiert politische Soziologie sozialer Ungleichheit gibt Castel in seiner
jüngsten Publikation (Castel 2003). Seine empirischen Ausgangspunkte
sind die prekäre Neuorganisation des Arbeitslebens, die wachsende Unsicherheit
familiärer und nachbarschaftlicher Netzwerke, die allmähliche
Erosion "vorsorgender" und "ressourcensichernder" staatlicher Institutionen
und vor allen Dingen die "Demontage" der über lange Jahrzehnte
entwickelten und etablierten arbeits- und sozialrechtlichen Regularien.
Diese Demontage, die nach Auffassung Castels den Kern einer veränderten
Staatlichkeit ausmacht, bleibt nicht ohne Folgen für die zivilen Rechte
des einzelnen, mithin für die Bedingungen seiner Unabhängigkeit und
seiner "öffentlichen Existenz". Auf diese Weise verbinden sich soziale mit
zivilen Unsicherheiten. Die Entwertung des "Öffentlichen", die "Dekollektivierung
" der Arbeits- und Sozialbeziehungen und die "Re-Individualisierung
" der rechtlichen Konstitution des Arbeitsverhältnisses zerstören
die unterstützenden Strukturen des gesellschaftlichen Eigentums
(hierzu zählen für Castel die sozialen Sicherungssysteme ebenso wie die
Leistungsangebote des "öffentlichen Dienstes"), die notwendig sind, um
in einem positiven Sinne als Individuum existieren zu können. Eine zentrale
Aufgabe einer politischen Soziologie ist für Castel daher, neue politische
und rechtliche Regulationsformen des Sozialen zu entwerfen. Es
geht ihm um die Entwicklung eines wohlfahrtsstaatlichen Arrangements,
das auf die veränderten "Risikolagen", auf die wachsenden sozialen Ungleichheiten
und auf Entwertung des "Öffentlichen" mit einer Strategie
der rechtlichen und sozialen "Rekollektivierung" reagiert, die vor allen
Dingen die arbeitsweltliche Dynamik "negativer Individualisierung"
bremst (vgl. auch Supiot 1999). Jenseits erregter Mahnungen für einen
immerwährenden Bestandsschutz der Wohlfahrtsstaatlichkeit der westeuropäischen
Nachkriegsordnung und jenseits schlichter Destruktionsphantasien,
die im Wohlfahrtsstaat nicht mehr erkennen können als ein
Hemmnis für eine bessere (und kostengünstigere) gesellschaftliche Zukunft,
plädiert Castel für grundlegend veränderte Formen sozial- und
arbeitsrechtlicher Status- und Ressourcensicherung, ohne die Frage der
Sozialstruktur aus dem Blick zu verlieren. "Qu'est-ce qu'être protegé?",
wer in welcher Zone der Gesellschaft benötigt welche Sicherheiten, lautet
hierbei die Leitfrage.
Die politische Soziologie sozialer Ungleichheit, auf die diese abschließenden
Anmerkungen zielen, steht vor zwei zeitdiagnostischen Herausforderungen:
Sie muß im Sinne einer "logic of stratification", die
davon ausgeht, daß der Wohlfahrtsstaat - je nach rechtlicher und institutioneller
Gestalt - einen prägenden Einfluß auf soziale Gliederung
und Schichtung hat und "auf diese Weise (. . .) einen seiner Struktur und
Funktionsweise entsprechenden Gesellschaftsaufbau" (Lütz/Czada 2000:
27) entwickelt, die politische Strukturierung sozialer Klassenverhältnisse
und Ungleichheiten analysieren. Das Strukturgefüge der Gesellschaft
muß in stärkerem Maße als Ausdruck von Rechtssetzung und Staatlichkeit,
von politischer Herrschaft und Gestaltungsfähigkeit begriffen werden.
Dabei geht es nicht nur um die Frage vorhandener oder fehlender
sozialer Teilhaberechte, auf die sich die Diskussion um Exklusion und
Inklusion beschränkt, sondern zuallererst um die sozialstrukturell formative
und selektive Kraft des Wohlfahrtsstaats, dessen spezifisches soziales
Produkt die breite Zone der Mittelklassen ist. Vom Staat her denken heißt
daher immer auch, von der sozialen Mitte, ihren Arbeitsbedingungen
und Lebensformen, her zu denken. Denn dort nehmen zugleich die Prozesse
sozialer Ausgliederung und Deklassierung ihren Ausgang. Zum
zweiten muß die politische Soziologie sozialer Ungleichheit auf der
Grundlage einer Analyse von Klassenpositionen und Ungleichheitslagen
Antwortperspektiven auf die Frage liefern, unter welchen politischen und
sozialstrukturellen Bedingungen die Gewährleistung grundlegender sozialer
Rechte aufrechtzuerhalten ist (vgl. Kaufmann 2002: 21). Damit ist die normative Seite der Sozialwissenschaften angesprochen. Während sich
ein Gutteil der soziologischen Fachöffentlichkeit in nicht enden wollender
systemtheoretischer Selbstreferentialität den Kopf über den "Begriff
des Politischen" (Nassehi/Schroer 2003) zerbricht, greift in bemerkenswerter
Weise die Staatsrechtslehre - versehen mit neuem staatswissenschaftlichen
Selbstbewußtsein - den Faden einer wohlverstandenen politischen
Gesellschaftslehre auf: "Anzustreben ist die Etablierung einer
Staats- und Gesellschaftswissenschaft, die nicht nur empirisch beschreibt,
sondern auch in der Tradition der Aufklärung die politische Gesellschaft
normativ entwirft. Der Staat und die von ihm garantierte Rechtsordnung
bleiben die Adresse, unter der Fragen nach Gerechtigkeit, nach der guten
Gemeinschaft, nach Lebensbedingungen für freie und selbstbewusste
Menschen gestellt werden können." (Di Fabio 2003: 81). Die Staatsbedürftigkeit
der Gesellschaft tritt in den Nachmittagsstunden des Wohlfahrtsstaats
aus den Kulissen hervor - zu ihrem letzten Auftritt oder in
Erwartung ihrer politischen und sozialtheoretischen Neugestaltung?
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