Peter Pilz
Peter Pilz
Wespennest
Eurozine
Wespennest
2003-12-16
Pferde im Lumpenparadies
Nationalrat und Amerikanisierung
Peter Pilz mit seiner Sichtweise über den österreichischen Nationalrat und seiner engen Verflochtenheit mit der Regierung. Pilz meint, dass diese, seiner Ansicht nach fatale Konstellation und die gesetzlichen Vorgaben parlamentarische Arbeit unmöglich machen und fordert die Durchsetzung einer Reform, die dem Parlament größere Freiheiten und Unabhängigkeit von der Regierung zugesteht.
1. Paradies
Newt Gingrich und Rudolf Scharping haben eines gemeinsam: Sie sind politisch über etwas gestolpert, was nur in ihren Heimatländern und in fast allen anderen westlichen Demokratien für Rücktritte reicht. Sie hatten ein gemeinsames Pech: Sie waren keine Österreicher. Gingrich hätte noch viel nehmen und Scharping hätte noch viel fliegen und baden können - bei uns in Österreich säßen beide nach wie vor fest im Amt.
In Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA tritt man dort zurück, wo man in Österreich kurz zur Seite tritt. Hier wartet man, bis ein Hochwasser, ein Anschlag, ein Hitzerekord oder ein sportlicher Triumph das eigene schlechte Bild aus den Medien verdrängt. Dann ist die Luft wieder rein. Schüssel, Böhmdorfer, Haider und Grasser wissen, dass man ab und zu von der Bildfläche verschwinden muss.
Das Pech von Scharping und Gingrich hat einen Namen: politische Verantwortung. Bei ihnen zu Hause ist klar, dass diese politische Verantwortung nicht erst an der Schwelle zum Kriminal beginnt. In Österreich ist das anders. Dort, wo die Regierungsbank schon ins erste Zwielicht getaucht ist, geht sie in die Anklagebank über. Dazwischen ist nichts. Jenseits der strafrechtlichen Verantwortung ist die normale politische Verantwortung unbekannt. Das Parlament regelmäßig und vorsätzlich belügen; Freunde aller Art begünstigen; laufende Gerichtsverfahren beeinflussen - das ist ein ebenso kurzer wie willkürlicher Auszug aus der Liste der üblichen Delikte des politischen Kavaliers. Sie bleiben folgenlos. Nichts wird untersucht, weil Untersuchungsausschüsse nur von der Regierungsmehrheit eingesetzt werden können. Nichts hat Folgen, weil sich Kanzler und Parteivorsitzende niemanden "herausschießen" lassen. Weil man für nichts geradestehen muss, steht kaum jemand gerade. Man fühlt sich wie im Lumpenparadies. 2. Parlament
Ein dreifaches Gewicht entscheidet über die Qualität parlamentarischer Demokratie: Stärke und Unabhängigkeit der Justiz, der Medien und des Parlaments. Im Lumpenparadies gibt es kaum Kontrolle. Neben politisch vorsichtigen und finanziell abhängigen Medien und einer handzahmen Justiz garantiert das ein verlässliches Regierungsparlament.
Es gibt eine Vorstellung vom Parlament, die so selbstverständlich wie der österreichischen Kultur fremd ist. Das Parlament bildet als gesetzgebende und kontrollierende Körperschaft neben der Justiz das zweite, größere Gegengewicht zur Exekutive - zur Regierung und zur öffentlichen Verwaltung. Demokratie funktioniert dann am besten, wenn alle drei Gewalten in einem fein austarierten Gleichgewicht weitgehend unabhängig voneinander, aber auf eine gemeinsame Art ihre Rollen wahrnehmen. Die gemeinsame Art ist dabei nicht mehr als das penible Beachten von Grundsätzen und Regeln. Das klingt nach wenig. In Österreich ist es noch nie soweit gekommen.
Justiz und Exekutive genießen gegenüber dem Parlament einen Vorteil. Die Verfassung garantiert der Justiz am Papier, die Regierungsparteien garantieren der Regierung in der Realität Unabhängigkeit von den beiden anderen Gewalten. Das Parlament wird von einer Regierungsmehrheit beherrscht. Der Fall, dass die eigene Nationalratsmehrheit der Regierung das Misstrauen ausspricht, gilt zu Recht als kaum denkbar. Es klingt paradox: Dort, wo das Parlament die Regierung wählt, ist es gerade dadurch schwächer. Der Grund dafür ist einfach. Wenn es zum Wechsel kommt, kommen und gehen Parlamentsmehrheit und Regierung immer gemeinsam. Sie sind aneinander gebunden.
Es gibt andere Systeme. Wird der Regierungschef direkt gewählt und ist es damit auch möglich, dass er einer "kritischen" Mehrheit im Parlament gegenübersteht, kann auch in gleichfärbigen Zeiten die Distanz zwischen Regierung und Parlament spürbar und wirksam bleiben. Niemand in Washington kann sich Kongress und Senat an der kurzen Leine des Präsidenten vorstellen. Niemand in Wien kennt ein Parlament ohne Beißkorb und Leine.
Solange die Regierung in Österreich vom Nationalrat gewählt wird, bleibt es bei dieser Bindung. Der Umstand, dass es diese Bindung gibt, erklärt aber nicht, warum sie in Österreich die engste aller möglichen ist. Ein halbes Jahrhundert nach der Gründung der Zweiten Republik ist ihr Parlament noch immer keine eigenständige Gewalt.
183 Abgeordnete, rund 200 Beamte der Parlamentsverwaltung, 328 Mitarbeiter der Abgeordneten und der Klubs - das ist die gesamte Gesetzgebung des Bundes. Allein in der Rechtssektion des Innenministeriums arbeiten 373 Beamte. Die gesamten Planstellen des Parlaments inklusive Gebäudeerhaltung und Haustechnik betragen 374. Von Rechten und Aufgaben her ist der Nationalrat ein Riese, von seinen Mitteln her ein Zwerg.
In der Regel steht normalen Abgeordneten ein Mitarbeiter zur Verfügung. Das reicht, um den Tagesablauf pannenfrei zu organisieren. Für Recherchen, Analysen, Strategieentwicklung und die Erarbeitung von Gegenentwürfen sind Abgeordnete auf parlamentsfremde Ressourcen angewiesen. Das schafft Abhängigkeiten - von Ministerien, Kammern oder Gönnern.
In der geschriebenen Verfassung steht das Parlament neben, leicht über der Regierung. In der Realverfassung ist der österreichische Nationalrat deren Organ. Als Gesetzesbeschlussabteilung nimmt er Regierungsvorlagen wie Weisungen zur Abstimmung entgegen. Aufstehen, Niedersetzen. Was vorne in das Parlament kommt, verlässt es hinten in kaum veränderter Form. Der behutsame Transport der Materien durch Ausschüsse und Plenum heißt "parlamentarische Arbeit".
Die Kultur des Hauses ist von Unterwürfigkeit geprägt. Es ist normal, dass Minister in den Ausschüssen Fragen von Abgeordneten nicht beantworten. Erinnert der Abgeordnete den Minister an seine Pflicht zur Auskunft, weisen Regierungsabgeordnete das Ansinnen sofort zurück. Die Informationspflicht gilt als Gnadenrecht. In der Regel ist der Minister ungnädig.
Ausschüsse arbeiten zwei Stunden, dann ist Schluss. Jeder hat für das Frage-Antwort-Ritual die zwei Stunden eingeplant. Die Regierungsabgeordneten spielen eine wichtige Rolle. Mit abgesprochenen Fragen geben sie dem Minister die Chance, einen großen Teil der Zeit totzureden. Wer nach den zwei Stunden mutwillig weiterfragt, begeht einen unfreundlichen Akt. Milde Vorsitzende lassen "noch eine Frage" zu.
Ein Gremium wie der Nationalrat funktioniert durch Vereinbarungen. Aus gutem Grund heißen sie "Absprachen". Die Mandatare erfahren meist erst spät, was zwischen den Klubsekretären vereinbart worden ist. Am Beginn der letzten Gesetzgebungsperiode wurden wie immer die Ausschussvorsitze zwischen den vier Klubsekretären verhandelt. In der konstituierenden Klubsitzung erfuhr ich zweierlei: Ich war ohne mein Wissen als stellvertretender Vorsitzender des Landesverteidigungsausschusses "ausverhandelt" und der Vorsitz im Kulturausschuss war den Freiheitlichen überlassen worden. Als ich gegen Letzteres protestierte und den Klub überzeugte, gegen den freiheitlichen Kandidaten zu stimmen, fühlte sich der grüne Klubsekretär desavouiert. Er hatte, meinte er, sein Gesicht verloren. Dass der Klub selbst in der Kulturpolitik längst keines mehr hatte, fiel kaum jemandem auf.
Vorsitzende sind Besitzstände der Parteien. In größeren Klubs sind die Besitzrechte noch genauer geregelt. So konnte die SPÖ etwa nicht den Vorsitz im Kulturausschuss übernehmen, weil sie dafür den Vorsitz im völlig unbedeutenden Industrieausschuss aufgeben hätte müssen. Das ging aber nicht, weil der ÖGB-Präsident auf einem Vorsitz für sich selbst bestand - und sich in der Kultur nicht so zu Hause fühlt. Natürlich ist es denkbar, dass Mitglieder eines Ausschusses selbst bestimmen, wer den Vorsitz führt. Damit ginge aber der Proporz verloren - und damit die Sicherheit, dass jeder seinen Teil erhält.
An der Haltung der Abgeordneten hat sich kaum etwas geändert. Wenige unabhängige Persönlichkeiten stehen einer erdrückenden Mehrheit von Mitstimmern gegenüber. Die Mitstimmer sind in der Regel sachlich uninteressiert. Ihre geringe Kompetenz erleichtert ihnen die Zustimmung zu allem und jedem. Ihre Antwort auf sachliche Einwände beginnt meist mit "Sie wollen ja nur...". Dann folgt "destabilisieren", "unsere erfolgreiche Arbeit schlecht machen", "Unruhe stiften" oder "die Bevölkerung verunsichern". Manche Abgeordnete zwinkern dabei der Opposition zu.
Alles hängt davon ab, wo sich die Mitstimmer gerade befinden. Geht die Partei in Opposition, wird der Schalter auf "Nein" umgelegt. Binnen Sekunden werden Jasager zu Neinsagern - und halten einander das gegenseitig vor. Erheben etwa sozialdemokratische Neuoppositionelle einen Vorwurf gegen die Regierung, antwortet kaum jemand in der Sache. "Wie ihr an der Regierung wart, habt ihr das genauso gemacht." Schon lange fällt keinem von ihnen mehr auf, dass sie damit nur ein Vorurteil bekräftigen: alle dieselben Gauner.
Das Gewicht eines Parlaments erkennt man schnell an den Rechten, die die Opposition genießt. In kaum einer gesetzgebenden Körperschaft ist die Opposition so schwach an Rechten wie im Wiener Nationalrat. Ihr fehlen vor allem die klassischen Kontrollrechte: das Recht auf umfassende Information und auf Akteneinsicht, das Recht auf Untersuchungsausschüsse und das Recht auf ausschließlichen Gebrauch der Dringlichen Anfragen.
Wenn Abgeordnete Minister fragen, erhalten sie oft keine und immer wieder eine falsche Antwort. Lügende Minister wissen, dass ihnen keine Sanktionen drohen. Wer nicht lügt, tut das aus einem einzigen Grund: weil ihm Lügen persönlich zuwider ist.
Wenn Abgeordnete Akteneinsicht verlangen, wird ihnen das verwehrt. "Amtsverschwiegenheit" - egal, wer gerade regiert, die Aktendeckel bleiben zu. Beamte dürfen im Ausschuss nicht befragt werden. Als sich eine überforderte Außenministerin einmal im Ausschuss auf ihren Beamten ausredete, erteilte sie ihm vor versammelten Abgeordneten ein Sprechverbot. Nicht einmal in den streng vertraulichen Unterausschüssen zur Kontrolle von Staatspolizei und Heeresgeheimdiensten gibt es Akteneinsicht. Die Minister informieren nach Laune: der Verteidigungsminister meist über das, was in den Zeitungen steht, der Innenminister nicht oder falsch.
Anders als die meisten Landtage kennt der Nationalrat kein Minderheitenrecht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Die Regierungsmehrheit beschließt, ob untersucht wird. Der einzige Untersuchungsausschuss, den der Nationalrat in den letzten zehn Jahren beschlossen hat, befasste sich folgerichtig mit den Verfehlungen von Politikern der größeren Oppositionspartei.
"Es hat keinen Sinn, die Besten der Nation hier zu suchen; hier findet man weder Staatsmänner noch Redner. Der Saal ist voll mit Menschen von zweifelhafter oder keiner politischen Intelligenz - einige von ihnen, extrem reiche Multimillionäre, betrachten ihren Titel als Verzierung für ihre mehr oder weniger rechtschaffen erworbenen Güter - und mit Drahtziehern und lokalen Größen, die das Haus als gute Basis für ihre Intrigen und ihre Beeinflussung des öffentlichen Interesses nützen." So beschrieb 1902 ein europäischer Politikwissenschafter den Senat der USA an seinem Tiefpunkt. Wer das Plenum des Nationalrats betrachtet, wird nicht wenige Parallelen finden: Industrielle, die ihren Freunden Teile der staatlichen Industrie sichern; Multifunktionäre, die nichts so wenig stört wie die Unvereinbarkeit ihrer zahllosen Funktionen; Richter und Spitzenbeamte, die die Gewaltentrennung ignorieren und doppelt kassieren; Rechtsextremisten, die schnell ihren Eid auf die Verfassung ablegen und dann Totenreden für das Dritte Reich halten; aber vor allem Funktionäre - Menschen, die eines gelernt haben: zu funktionieren.
Wer an einem Sitzungstag um neun Uhr früh in den Plenarsaal kommt, kann fünf Minuten später die Rednerliste studieren. 100 bis 150 Abgeordnete sind von den Ordnern ihrer Klubs eingetragen. Jeder kann sich ausrechnen, wann wer spät nachts zu einem Plenum, das ihm mit Sicherheit nicht zuhört, spricht. Die meisten mühen sich durch ein vorbereitetes Manuskript, manche setzen sich den Gefahren spontaner Grammatik aus. Debatten sind Ausnahmefälle. Während ihre allein gelassenen Kollegen vom Blatt lesen, wandern die Mandatare ins Parlamentsrestaurant. Manchmal kommen sie gegen Mitternacht in großer Heiterkeit ins Plenum zurück.
Sind die Abgeordneten so faul? Kennen sie nur ihre eigenen Interessen? Schätzen sie das Parlament so gering? Sind sie wirklich die Schafe, als die sie sich durchs Haus treiben lassen? Die Fragen gehen am Problem vorbei. Dieses heißt: Die Abgeordneten haben in der österreichischen Politik nie etwas anderes kennen gelernt. Sie machen, was sie gelernt haben. Sie sitzen, bis sie zur Abstimmung aufstehen müssen. Dann sitzen sie wieder. Wenn alles ausgesessen ist, gehen sie nach Hause.
Die alten Parteien haben ihren Abgeordneten immer wenig Freiraum geboten. Kollegen wie Heinrich Neisser und Michael Graff wussten diesen Raum oft erstaunlich geschickt zu nutzen. Dieser Restraum ist vor allem in der ÖVP in den letzten zehn Jahren verschwunden. Weil gesichtlose Abgeordnete am besten funktionieren, hat man die Köpfe gleich mit entfernt. Wo Günther Stummvoll zu Recht als einer der Besten seiner Fraktion gilt, ist einfach nichts mehr da.
In der klassischen sozialpartnerschaftlichen Zweiten Republik war das Parlament im besten Fall eine Bühne, die von Parteien links und rechts des alten Filzes genutzt werden konnte. Die FPÖ fand sich auf der Bühne besser zurecht als die Grünen. Daher ging die erste politische Wende auch in ihre Richtung.
3. Schönheit
Als im letzten Jahrzehnt der SPÖ-Regierungen die Übermacht der politischen Sozialpartnerschaft erste Brüche zeigte, begann die Zeit der Schönheit. Am Anfang war Franz Vranitzky. Vranz war schön, und diese Schönheit stand lange im Mittelpunkt der medialen Betrachtung. Nach ihm kam der schöne Viktor Klima. Seit der Wende vertritt Karl-Heinz Grasser das Schöne auf Regierungsebene.
Das Schöne verleiht dem Politiker eine Teflonschicht. Er kann vieles falsch machen, was anderen ihren unschönen Kopf kosten würde. Als Karl-Heinz Grasser angelobt wurde, hatte er Schwierigkeiten, zwischen "brutto" und "netto" zu unterscheiden. News verzieh ihm, weil die Schönheit vieles möglich macht.
Mit dem Einzug der Schönheit in die Politik sind ihre Träger zum verlässlichen Maßstab der Vertrottelung der Wähler geworden. Wer um Arbeitsplatz und Pension zittert und dann Vranze und Lieblingsschwiegersöhne wählt, ist auf dem Anspruchsniveau seiner Wochenillustrierten gelandet. Die Macht der Illustrierten wächst, weil sie erstmals autonom über das Bild des Ministers und seinen persönlichen Erfolg entscheidet. Bis zum Erscheinen von News hatte die Kronen Zeitung ein Monopol auf die Schaffung künstlicher Bilder und Geschichten. Wer für die "Krone" mit einem Tier fotografiert wurde, wusste, dass er es geschafft hatte. News hat das Konzept des erfundenen Politikers modernisiert, perfektioniert und seinen Konkurrenten aufgezwungen.
Vor der direkten Privatisierung der Politik durch Unternehmen fand ihre mediale Privatisierung statt. Mit dem Recht am eigenen Bild hat man auch das Recht an der eigenen Politik abgetreten. Als Frank Stronach nach Österreich zurückkehrte, müssen ihm die Präsidenten, Minister und Parteichefs, die für die Magazine posierten, gleich aufgefallen sein. 4. Pferde
Gegen jede Verantwortung immune Regierungsmitglieder und ein zahnloses Parlament - das ist das Erbe der Zweiten Republik. Die Wende versprach viel Freiheit, eine neue offene Bürgergesellschaft und das Ende des alten Filzes. Viele haben die Wendeparteien aus einem einzigen Motiv gewählt: Das alte System sollte beendet werden.
Seit der Wende regiert ein Block der Rechten gegen eine "linke" Opposition. Die rechte Hälfte nimmt sich das Ganze, von der Sozialversicherung bis zum ORF. In der politischen Kultur setzt sie auf Gewaltenmischung und Privatisierung.
Zwei Neuerungen haben das Lumpenparadies aufgeputzt. Der Parteianwalt sorgt als Justizminister dafür, dass von Seiten der Gerichte nichts mehr droht. Zwei Wiener Staatsanwälte sind für alle "glamourösen" politischen Fälle zuständig. Einer von ihnen hat in der Spitzelaffäre gezeigt, auf welcher Seite des Gerichts neuerdings in großen politischen Fällen das Verbrechen steht. Jetzt führt er die Causa "Grasser". Nach dem Parlament hängt endlich auch die Strafjustiz an der Kanzlerleine.
Die zweite Neuerung betrifft die Politiker selbst. Traditionelle Politiker gehörten ihrer Partei. Ihr normaler Aufstieg im Inneren der Partei wurde nicht zufällig als "Ochsentour" beschrieben. Wie Ochsen hingen sie im Geschirr der Partei und zogen den roten oder schwarzen Karren ein ganzes Politikerleben lang.
Die Ochsen haben ausgedient. Die neue Politik setzt auf Pferde. Ein Rennpferd und ein Finanzminister - das ist letztlich ein und dasselbe. Mit beiden kann man gewinnen und Geld verdienen. Beide erfüllen ihren Zweck.
Frank Stronach hat alle seine Pferde und einen Teil seiner Politiker in Häuschen und Stallungen südlich von Wien auf den Gründen seines Fontana-Clubs untergebracht. Karl-Heinz Grasser darf in Wien wohnen. In seinem Büro in der Himmelpfortgasse will er Stronach beweisen, dass er sein bestes Pferd ist.
Frank Stronach hat eine Mission. Er ist wiedergekehrt, um seiner alten Heimat den Weg zu zeigen. Am Ziel wartet ein neues System. Ohne Störung durch Interessenvertretungen führen starke, dynamische Unternehmen das Land. Ihre Vorstandssprecher und PR-Manager dienen zwischendurch als Minister.
Vizepräsident Dick Cheney gehört der Erdölfirma Halliburton.
Handelsminister Don Evans gehört Tom Brown Inc. Finanzminister Paul O'Neill gehört Alcoa. Condoleezza Rice gehört Chevron. Karl-Heinz Grasser gehört Magna. In den USA ist man es gewöhnt, dass dort, wo die Verfassung Volksvertreter vorsieht, Firmenvertreter sitzen. Im Österreich der Parteienvertreter ist das neu.
Karl-Heinz Grasser hat kein Unrechtsbewusstsein, weil er ein anderes Rechtsbewusstsein hat. In der Welt seiner Unternehmer ist man stolz, über den Gesetzen zu leben. Von Steuern bis öffentliche Aufträge, von Heeresbeschaffungen bis zu Schnäppchen im staatlichen Eigentum richtet man sich alles. Parteien haben im Zentrum dieses Systems keinen Platz. Wenn sich Karl-Heinz Grasser "KHG" als Emblem ans Revers heftet, gilt das als Angebot: KHG ist zu haben. Die neuen Politiker findet man am Markt. Der Bestbieter kann unter den Rudas, Westenthalers, Riess-Passers und Grassers wählen.
Vorläufig behält ein Teil der neuen Politiker die Parteibücher. Vorläufig dienen die meisten von ihnen als Scharniere zwischen dem neuen nordamerikanischen und dem alten österreichischen System. Auch wenn noch Verstärkungen zugekauft werden - Frank Stronach, Andreas Rudas, Karl-Heinz Grasser und Peter Westenthaler sind gemeinsam nicht stark genug, um Österreich das amerikanische System der Mietpolitiker überzustülpen. Die Chancen stehen gut, dass Österreich aus beiden Systemen das Schlechteste erhält. Verwaltung und Regierung bleiben übermächtig, Parlament und Justiz bleiben abhängig und schwach, und die Politik selbst lässt sich offen auf die Lohnlisten großer Unternehmen setzen. Der österreichische Zentralsumpf wird nicht ausgetrocknet, sondern parzelliert und privatisiert.
Wo in Europa Parteien noch unterschiedliche gesellschaftliche Interessen vertreten, repräsentieren die Spitzen der amerikanischen Politik meist nur unterschiedliche Geschäftsinteressen. Während sich Abgeordnete und Senatoren in der Mehrzahl als Lobbyisten regionaler Wirtschaftsgruppen bemühen, haben die Spitzen der Administration überregionale Verpflichtungen. Nur für Nichtamerikaner ist überraschend, wie billig amerikanische Spitzenpolitik zu haben ist.
Die Wahlbeteiligung liegt meist nur knapp über fünfzig Prozent. Fast die Hälfte der Amerikaner glaubt nicht, dass sich wählen lohnt. Wahrscheinlich gibt es für sie keine Wahl. So bleiben sie zu Hause. Von den rund 200 Millionen Wahlberechtigten haben 154 Millionen nicht George Bush gewählt. Auch an Stimmen ist der Präsident der Vertreter einer Minderheit.
Aspiranten für die amerikanische Präsidentschaft müssen drei Kampagnen erfolgreich absolvieren. Die Kampagne um die Förderer klärt, ob man an den Start darf. Die Kampagne um die Meinungsmacher entscheidet, ob man ins Rennen kommt. Die Kampagne um die Wähler macht schließlich klar, wer gewinnt. Je ähnlicher einander die Kandidaten sind, desto mehr Gewicht kommt den beiden Vorentscheidungen zu. Wer in der ersten Runde die Gesichts- und Meinungskontrolle der Geldgeber nicht übersteht, ist chancenlos. Daher ist die Paarung "harter Republikaner" gegen "weiche Demokraten" das wahrscheinlichste Ergebnis der Vorauswahl.
Je nachdem, worum es gerade geht, sind die beiden Parteien einmal fortschrittlich und dann wieder konservativ. Die Rollen sind dabei verteilt. Die Demokraten sind links von den Republikanern aufgestellt. Wenn sich die politischen Achsen des Landes in eine Richtung verschieben, schiebt das die Parteien mit. Nur dadurch entsteht der Eindruck, dass einmal die Demokraten das Land nach links und ein anderes Mal die Republikaner es nach rechts bewegt hätten.
Im Groben unterscheiden sich die demokratischen Systeme Europas von denen Nordamerikas durch das höhere Eigengewicht der Politik gegenüber den großen Unternehmen und ihren Verbänden. Von den europäischen Demokratien scheint sich Österreich neben Italien in besonderem Maße für eine Teilamerikanisierung zu eignen. Das Nachkriegssystem der miteinander verfilzten Lager ist frisch aufgerissen. Zwei Medienkartelle und ein Regierungsfernsehen formen die öffentliche Meinung. Die SPÖ als vormals dreißigjährige Kanzlerpartei torkelt orientierungslos durchs Land. Die FPÖ hat das Land nach rechts orientiert und ist daraufhin in der Regierung untergegangen. Die Grünen scheinen den Übergang von der alternativen Randpartei zur zufriedenen bürokratisierten Kleinpartei bemerkenswert ambitionslos geschafft zu haben.
Parlamentarische Demokratien verlumpen nicht durch zu viel, sondern durch zu wenig Politik. Wer alles "entpolitisiert", verschiebt damit die Politik nur aus dem öffentlichen in den privaten Bereich. Auch dort entscheiden dann wenige. Im Gegensatz zur öffentlichen Politik treffen sie ihre Entscheidungen auf eigene Rechnung. Sie sind niemandem Rechenschaft schuldig.
Das Parlament braucht nicht weniger Abgeordnete, bessere Manieren oder noch niedrigere Politikereinkommen. Es braucht eine Reform, die es stärkt und ihm Freiheiten garantiert. Es braucht ein Vielfaches an Ressourcen. Es braucht scharfe Instrumente wie das Oppositionsrecht auf Untersuchungsausschüsse. Es braucht unbeschränkten Zugang zu Information. Es braucht ein Wahlrecht, das die Wahl der Regierung von der des Parlaments trennt. Und es braucht Unvereinbarkeiten: Ein Gewerkschaftspräsident hat ebenso wenig im Nationalrat verloren wie ein bezahlter Lobbyist der Industriellenvereinigung im Finanzministerium. All das kann sich der Nationalrat mit Mehrheit selbst beschließen. Und das ist schon das Problem: Wie soll ein Gremium, dessen Mitglieder es sich am Rande der Politik behaglich eingerichtet haben, sich selbst ändern? Wie sollen ängstliche Funktionäre eine Körperschaft begründen, die freien, selbstbewussten Menschen ihren Platz bietet? Warum soll sich eine Mehrheit selbst schwächen? Wenn man den Abgeordneten die Reform überlässt, beißt sich der Nationalrat weiter in den eigenen Schwanz. Kaum jemand nimmt den Nationalrat ernst, weil er sich selbst nicht ernst nimmt.
Da die Schüssel-Haider-Regierung aller Voraussicht nach bald brechen wird, gibt es eine konkrete Chance: Nach den kommenden Neuwahlen werden die Grünen im nächsten Jahr wahrscheinlich mit SPÖ oder ÖVP über die Bildung einer Regierung verhandeln. Sie müssen dabei die Aufwertung des Nationalrats zu einer ihrer Hauptbedingungen machen. Dann kann mehr Leben ins Hohe Haus kommen. Bis dahin wird das Schöne wohl noch eine Zeit lang an seinen Sesseln kleben. www.peterpilz.at