Edvardas Gudavicius
Laima Kanopkiene
Bronys Savukynas
Michael H. Kohrs
Kulturos barai
Eurozine
Kulturos barai
2003-07-30
Historische Wahl: Europa oder graue Zone?
Laima Kanopkiene und Bronys Savukynas sprechen mit Prof. Dr. Edvardas Gudavicius
Ein Stimmungsbild von Litauen vor dem Referendum zum EU-Beitritt. Welche Erwartungen und welche Vorurteile haben die Menschen gegenüber der Europäischen Union? Welche Persönlichkeiten verstehen es, die Menschen für oder gegen die EU einzunehmen? Gibt es triftige Argumente gegen einen Beitritt oder sind es bloß Demagogen, die dagegen Stimmung machen?
Bronys Savukynas: In den vergangenen zwei Monaten haben Politiker und Medien begonnen, über den Beitritt Litauens in die Europäische Union zu reden und zu schreiben. Kulturos barai behandelt das Problem schon seit fast zwei Jahren; wir organisieren Essay-Wettbewerbe: Der vorjährige hieß "Euro-Integration und Kulturpolitik", der diesjährige ist schon breiter angelegt - "Ein sich wandelndes Litauen in einem sich wandelnden Europa". Ich denke, wenn man einen Blick auf diese Erscheinung oder dieses Problem wirft, erheben sich zwei grundlegende Fragen aus denen natürlich viele kleinere Fragen entstehen. Die erste wäre zur historischen Bedeutung der bevorstehenden Volksabstimmung: Wird Litauen in der Lage sein, die von der Geschichte gebotene Gelegenheit zu nutzen, ein vollwertiges Subjekt der Geschichte zu werden? Gibt es eine positive Alternative zur Eurointegration? Selbst die Euroskeptiker haben es nicht fertig gebracht, eine solche Alternative vorzulegen. Im Club Santara-Sviesa gab es ein Gespräch zum Thema der Eurointegration und es stellte sich heraus, dass die Gegner des EU-Beitritts keinerlei Alternativen mit Perspektive formulieren konnten. Für sie ist es am besten so, wie es ist. Das ist eine naive und kurzsichtige Haltung, denn wenn Litauens Situation so bleibt wie jetzt, ist bei den rapiden Veränderungsprozessen sowohl im Westen als auch im Osten (Integrationsprozesse vollziehen sich ja auch im Osten) das Schicksal Litauens unschwer zu erahnen - das Dahinvegetieren eines Blümchens am Wegesrand. Die zweite Frage, über die man sprechen müsste, wäre: Was für eine Gesellschaft haben wir, welche Haltung nimmt sie gegenüber der Eurointegration ein und wie mag die Volksabstimmung im Mai ausgehen? Vielleicht könnten Sie als Historiker etwas sagen über die Bedeutung der Volksabstimmung im Kontext der für die Geschichte Litauens schicksalsträchtigen Ereignisse seit den Zeiten von MindaugasDer litauische Fürst Mindaugas versuchte Mitte des 13. Jh. mit rücksichtslosen Mitteln, die Litauer zu einigen. Verbündet mit dem Deutschen Orden wurde M. 1253 durch den Papst offiziell zum ersten und einzigen litauischen König erklärt. Der Versuch, die Litauer zu christianisieren schlug aber fehl, M. wurde 1263 ermordet. [Anm. d. Übersetzers] bis heute? Wann begann die Einigung Europas (wahrscheinlich schon mit dem Römischen Imperium?) und wann schlug Litauen den Weg nach Europa ein (wahrscheinlich mit dem ersten Versuch, das ganze Land zu christianisieren, also zur Zeit Mindaugas?). Scheint es nicht so, dass in der historischen Retrospektive die bevorstehende Volksabstimmung von allen Entscheidungen Litauens die wohl wichtigste sein wird - dem Land wird die Chance gewährt nicht nur geographisch, sondern in jeder Hinsicht Teil Europas zu werden, und so den durch die Geschichte bedingten Rückstand zu überwinden. Nach Václav Havel ist es das Wichtigste, "sich in seinem und dem richtigen Teil der Welt oder Europas zu befinden."
Edvardas Gudavicius: Ich würde die Plätze der Fragen vertauschen wollen.
B. S: Ohne Zweifel ist die zweite Frage die wichtigere.
E. G: Ich denke, und ich hatte viele Gelegenheiten, mich davon zu überzeugen, dass leider die ernsthaften Argumente für ein Litauen als Teil Europas nur an der intellektuellen Oberfläche schweben. Und nur dort. Wir können reden wie wir wollen, aber Ideen werden zu einer Macht, wenn die Massen von ihnen erfasst werden, wie Lenin sagte. Und was bei der Volksabstimmung die Massen sagen werden, weiß niemand.
B. S: Zumindest haben einige Wahlresultate gezeigt, dass sich die Prognosen nicht bewahrheitet haben.
E. G: Eben! Wenn daher von Euroskeptikern die Rede ist, erhebt sich bei mir gleich die Frage: Euroskeptiker auf welchem Niveau denn? Intellektuelle oder die Massen? Die intellektuellen Euroskeptiker sind aus zwei Gründen "ungefährlich": Erstens sind es nicht viele, zweitens sind sie nicht in der Lage (und hier spreche ich schon nicht nur über die Euroskeptiker, sondern auch über die Eurooptimisten) die Massen "anzustecken", sie sprechen unter sich, führen Beweise unter ihresgleichen. Aber die Massen entscheiden alles. Sie stellen wirklich die Euroskeptiker. Und ihnen kann man nichts einhämmern.
B. S: Vielleicht sind das nicht Euroskeptiker, sondern Euroignoranten, denn die meisten sind weder daran interessiert, etwas zu wissen, noch sich in etwas zu vertiefen... Sie sind regelrecht misstrauisch.
E. G: Was macht es für einen Unterschied, wie wir es nennen. Und sie sind nicht misstrauisch, sondern feindselig.
Laima Kanopkiene: Wahrscheinlich kommt diese Feindseligkeit aus dem Nicht-Wissen.
E. G: Das glaube ich nicht wirklich.
L. K: Aber wissen die Leute genug, als dass sie sich motiviert dem Beitritt Litauens in die EU widersetzen könnten? Und umgekehrt: Wissen sie genug, um sich bewusst zu entscheiden, dafür zu stimmen?
E. G: Die meisten wollen sogar nichts wissen. Das ist ein blindes Sich-Abgrenzen. Ein solches Verhalten nennen die Engländer, glaube ich, protest vote. Sie protestieren. Manchmal scheint es mir sogar, dass sie dann dafür stimmen würden, wenn gegen den EU-Beitritt agitiert würde.
B. S: Und wo kommt das her? Aus dem Misstrauen gegenüber den Politikern.
E. G: Einverstanden.
B. S: Wenn die im Parlament vertretenen Parteien für die EU sind, dann stimmen die, die diesen Parteien misstrauen und dieses Misstrauen zum Ausdruck bringen wollen, dagegen.
E. G: Ja, aber das ist die Folge, nicht der Grund. Der Grund ist ganz einfach. Ich habe einmal ein geflügeltes Wort gehört nach dem Titel des Filmes "Niemand wollte sterben" - niemand wollte arbeiten. Das ist das Wesentliche. Die sozialistische Lebensweise, die verloren ist und nach der man sich so sehnt.
B. S: Ja, aber ist wirklich von dieser Sehnsucht nach der sozialistischen oder genauer sowjetischen Lebensweise auch die kritische Masse erfasst, die das Resultat der Volksabstimmung bestimmt? Daran würde ich sehr zweifeln. Ja, es gibt eine ganz bestimmte Schicht, das streite ich nicht ab, aber wenn sie dominieren würde, wer weiß, ob Litauen überhaupt davon träumen könnte, dass es in die EU aufgenommen wird; und wir sind schon bis zur Volksabstimmung gekommen - also waren die Reformen nicht ganz so fruchtlos. Natürlich gibt es noch immer nicht wenige, die sich nach dem sowjetischen "Paradies" sehnen, besonders auf dem Dorf und in kleinen Städtchen, denn am meisten stocken die Reformen am Land.
E. G: Nicht nur auf dem Dorf und nicht nur in den kleinen Städtchen hängt diese Sehnsucht, denn woher kommt sonst die Sustauskiade? Natürlich, eben auf dem Dorf und in kleinen Städtchen findet die Demagogie von solchen wie Sustauskas Vytautas Sustauskas, *1945, Vorsitzender der Freiheitsunion Litauens, machte durch radikal populistische Aktionen (u. a. durch Verhinderung einer Ballveranstaltung der Österreichischen Botschaft nach Vorbild des Opernballs) von sich reden, stilisiert sich als Vertreter der Armen und fiel durch kaum verhohlene antisemitische Äußerungen auf. Seit 1995 Mitglied des Stadtrats in der zweitgrößten litauischen Stadt Kaunas, wurde im März 2000 für viele überraschend zum Bürgermeister der Stadt gewählt. Im Oktober 2000 gab er dieses Amt zu Gunsten eines per Direktmandat erworbenen Sitzes im Parlament auf. [Anm. d. Übersetzers] den besten Boden, aber ich meine, dass rund 60% der Bewohner Litauens ähnliche Ansichten haben...
L. K: Sie sind ein radikaler Pessimist.
B. S: 60% sind ganz klar zuviel! Würden nicht 40% reichen?
E. G: Na, schauen Sie aber mal, wer gewählt wird! Eine andere Sache ist, dass diese Gewählten ihre Wähler dann enttäuschen. Die gesamte Neue Union hat vor nicht allzu langer Zeit ihre Wähler enttäuscht. Und das ist die Regel. Aber sie enttäuschen ihre Wähler und werden sie enttäuschen, denn wenn sie gewählt werden wollen, müssen sie zu populistischen Methoden greifen, d. h. etwas versprechen, was nicht zu machen ist. Ich habe nicht gesagt, ob sie das verstehen oder nicht verstehen, ich sehe nur, dass niemand Argumente hören will, wichtig ist zu hören, dass man bekommt, was man will, und dass mit denen abgerechnet wird, auf die man zornig ist.Ich gebe einmal ein klassisches Beispiel für solches Verhalten, auch wenn das zu einer anderen Zeit in einer anderen Gesellschaft passiert ist. So werden die Maghreb-Staaten, die Staaten Westafrikas und allgemein die Staaten des Mittelmeerraums eingeschätzt. Wie war das? In den Städten konzentrierte sich die Elite. Diese Elite beutet die Bewohner der Wüste aus und unterdrückt sie. Es ist das Mittelalter, die konfessionelle Epoche, der Glaube entscheidet alles. Die Unzufriedenheit, maskiert in einer passenden religiösen Form, bricht aus und die Unzufriedenen beseitigen die verhassten Führer. Es kommen Führer aus der Wüste, nun richten sie sich in den Städten ein, werden schnell zur neuen Elite und machen genau dasselbe. Wütende Aufständische stürzen sie wieder, setzen wieder ihre Führer auf den Thron, aber auch die machen bald dasselbe. Und dieses Karussell dreht sich, dreht sich und dreht sich. Die gesamte Geschichte des Maghreb verlief so, bis die Kolonisatoren kamen. So ist es auch mit all diesen Parteien in Litauen: sie werden unterstützt, sie kommen an die Macht. Na, warum nicht einmal über den roten Teppich schreiten? Aber sie machen dasselbe, was ihre Vorgänger an der Macht gemacht haben. Und die Sozialpolitik wird übernommen. Kapitalisieren wir uns! Aber das Wesentliche ist, was für Jungchen zu Kapitalisten werden. Vor dem Hintergrund all dieses Durcheinanders sieht diese ganze Masse, die in früheren Zeiten wenigstens einige soziale Sicherheit hatte, dass sie dem eigenen Schicksal überlassen ist. Früher bekamen sie monatlich wenigstens ihre paar Groschen, hatten ein Dach über dem Kopf, wenn es auch hindurchtropfte, konnten betrunken nach Hause kommen und sich selbst schaden. Aber dieses Dach war garantiert. Und bei der Arbeit lief es darauf hinaus, dass man simulierte. Dies wurde allgemeiner Brauch. Man lebte auf Kosten seiner Kinder. Und jetzt ist dieses Leben abrupt eingebrochen. Aber, zu ihrem Unglück, sind sie nicht rechtzeitig gestorben, und es hat auch sie erwischt - die Rechnung wird nicht ihren Kindern, sondern ihnen präsentiert. Wer ist schuld? Litauen. Als es abhängig war, war es besser. Eine Formel: "Mir ging es unter den Russen besser". Und wir können herumdeuten, wie wir wollen, was wir wollen, aber hier liegt der Grund, daher kommt dieser protest vote, und niemand kann diese Grenzen überschreiten, ob wir nun über Eurointegration oder irgendwas anderes sprechen. Ich wundere mich, wie Adamkus 1997 gewählt worden ist. Wenn auch um ein Haar, aber doch wurde er gewählt. Und jetzt ist es normal, alles ist in seine gewohnten Bahnen zurückgekehrt... Und wenn über die gesprochen wird, die nicht gewählt haben, dann sage ich, dass wenn auch die gewählt hätten, wäre nicht Paksas gewählt worden, Präsident wäre Veselka geworden...
B. S: Gibt es Hinweise dafür, dass es lange so sein wird?
E. G: Normalerweise sprechen Historiker nicht über das, was sein wird, aber ich versuche, auf Ihre Frage zu antworten. Vielleicht wird es so sein, oder Herr Uspaskichas Viktor Uspaskich, *1959, russischer Herkunft, parteilos, im Oktober 2000 als Direktkandidat in Kedainiai, wo er mit seinen Firmen über großen Einfluss verfügt, in das Parlament gewählt. Kontrolliert den Konzern "Vikonda", wo u. a. Konserven hergestellt werden. Versuchte per Volksabstimmung zu erreichen, dass Kandidaten nur noch per Direktmandat in das Parlament gewählt werden können. [Anm. d. Übersetzers] oder irgendjemand anderes schafft Ordnung und es gibt einen Volksretter, eine Meinung. Alles ist neumodisch: früher waren 99% dafür, heute sind die Zahlen korrigiert, wie das Beispiel Tschetschenien zeigt: 95%.
B. S: Dann meinen Sie, dass irgendein umtriebiger Ankömmling, wie ein zu Reichtum gekommener Schlosser, die schwerfälligen Massen in Bewegung bringen kann, nur nicht die eigenen Aufklärer?
E. G: Ich sage nur, dass alle Diskussionen, all diese "Beschwörungen" im intellektuellen Bereich hängen bleiben, sich nirgends tiefer oder breiter durchsetzen und die Resultate der Volksabstimmung nicht entscheiden werden.
B. S: Na, ich wäre nicht so ein völliger Pessimist und würde nicht den größten Teil der Gesellschaft jenen zurechnen, die sich immer noch nach dem sowjetischen "Paradies" sehnen.
E. G: Ich bin in jeder Hinsicht Pessimist und schieße manchmal gehörig daneben, das streite ich nicht ab... Aber ich kann nicht anders denken. Auf der anderen Seite glaube ich, dass es möglich ist, mit allen zu reden, ohne sie zu belügen und etwas zu versprechen, was es wirklich nicht geben wird. Es gibt ein Beispiel, aus jener Zeit allerdings: Als ich in einer Fabrik als Abteilungsleiter arbeitete, ist es mir gelungen, ohne betrügerische Versprechungen und ohne Drohungen drei Streiks einzudämmen. Ich habe also mit der Masse der Arbeiter Kontakt gehabt, und historisch gesehen ist das immer dieselbe Masse. Aber in den entwickelten Ländern hat sich diese Masse stark verändert, zu Stalins Zeiten sagte man, dass es die "missgeartete Arbeiteraristokratie" ist, denn "sie hängt am Haken der Kapitalisten" usw. Nur verschwieg man, dass diese "Aristokratie" 60% der gesamten Arbeiterklasse ausmachte. Das Wesentliche liegt woanders - angefangen mit den Chartisten, als es zum Durchbruch kam und an die Stelle von eindeutiger Gegnerschaft mit Massenausbrüchen und sich ergießendem Zorn, dass man ausgebeutet wird, eine ganz andere Gegnerschaft antrat: "Ah, ihr kauft unsere Arbeit? Dann bezahlt auch mehr dafür." Und wie kann man das erreichen? Wo liegt die Macht? Die Massen müssen sich einfach organisieren. Und das ist schon eine ganz andere Position, das ist ein Verständnis von einem guten Leben - ich kann verdienen. Früher arbeitete man, weil einen der hungrige Bauch dazu zwang. Die Arbeit war Katorga, Zwang, nichts anderes. Und nun wurde die Arbeit ein Mittel, ein gutes Leben zu erreichen. Alle entwickelten Gesellschaften sind jetzt auf diesem Prinzip aufgebaut. Auch intellektuelle Arbeit wird verkauft. Schon Wilson hat einmal gesagt: Wenn gesagt wird, dass die Laboristen die Arbeiterpartei sind, muss man schauen, welcher Arbeiter - nicht der Arbeiter als Klasse, sondern der Arbeitenden, ohne zu schauen, wer wie viele Prozentpunkte ausmacht. Wir schreiten in eine Epoche, wo die Arbeiter mit dem Kopf, nicht mit den Händen arbeiten. Die Arbeit wird zum Mittel beim Streben nach einem guten Leben. Die Jugend ist am empfänglichsten für diesen Wandel, sie lockt er an. Natürlich wird es auch einen Klassenkampf geben, er bekommt nur andere Formen, aber sein Wesen ändert sich nicht. Aber wann werden wir ein Verständnis auf diesem Niveau erreichen? Und als am 9. Februar 85% der Menschen für ein unabhängiges Litauen stimmten, stimmten nicht weniger als 60% von ihnen für ein besseres Leben. Und was kam dabei heraus? Man wollte das beste, und das Ergebnis war wie immer...
B. S: Aus dem von Ihnen skizzierten Bild unserer Gesellschaft, d. h. der zukünftigen Teilnehmer an der Volksabstimmung, entsteht der Eindruck, dass es keineswegs klar ist, ob der EU-Beitritt Zustimmung findet.
E. G: Genau das befürchte ich auch. Ich gehöre zu den so genannten Agitatoren für die EU. Wir fahren durch Litauen. Das erste Treffen fand in Siauliai statt...
B. S: Dort ist Murza Mindaugas Murza, *1973, Vorsitzender der hauptsächlich in Siauliai agierenden, rechtsradikalen Nationaldemokratischen Partei Litauens, Mitglied des Stadtrates in Siauliai. [Anm. d. Übersetzers] der größte Euroskeptiker.
E. G: Mit Murza habe ich mich auch getroffen. Ich würde sagen, Murza ist höflich, kultiviert, aber in seiner unmittelbaren Umgebung gibt es dreiste, dumme Männer. Mich und Radzvilas nannten sie flüsternd Zionisten. Leider haben sie das nicht öffentlich und laut gesagt, ich hätte ihnen sofort erwidert dass ich natürlich ein Zionist bin, denn die Röcke der Mädchen gefallen mir besser als die Hosen der Männer... Hier liegt ein Wortspiel vor: im Litauischen heißt Zionist "sionist", "sijonas" heißt Rock, so dass ein "Sionist" auch ein Rockliebhaber sein könnte. [Anm. d. Übersetzers] Aber Murza mit seiner kleinen Anhängerschar in Siauliai spielt, das kann man wohl sagen, keine Rolle. Dafür herrschen dort Veselka und Karbauskis. Ramunas Karbauskis, *1969, Vorsitzender der Bauernpartei Litauens, seit 1996 Parlamentsmitglied, gehörte als Vertreter der Agrarlobby zu den Euroskeptikern. [Anm. d. Übersetzers] Außerdem hat man mir gesagt, dass in Panevezys die Menschen noch zorniger, noch enttäuschter sind. Na, ich habe das so genommen, wie man es mir erzählt hat, aber später konnte ich mich davon überzeugen, dass es genau umgekehrt ist. In Panevezys sind die Leute wenigstens gekommen, sie waren wenigstens bereit zu fragen, und einen Fragenden kann man noch mit Argumenten überzeugen, man kann seine voreilige feindselige Haltung ins Wanken bringen. Und dort war man nicht mal bereit, überhaupt zu erscheinen. Darin liegt das Wesentliche. Außerdem ist Siauliai eine sehr viel mehr links orientierte Stadt als Panevezys. Wir waren an einigen Plätzen: in der Fachhochschule trieb man die Studenten zu dem Treffen, in den Kasernen die Soldaten. Wenn die Menschen zusammengetrieben werden, entwickelt sich nur schwer ein Gespräch, zumindest zu Anfang ist es etwas unangenehm. Wenn aber ein Treffen mit "der Allgemeinheit" organisiert wird, kommen überhaupt nur etwa 30 Menschen! Die einfachen Leute haben wir nicht zu sehen bekommen. Und wie soll man mit ihnen sprechen? Und sprechen muss man unbedingt und man kann es wohl auch, aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Ich kann niemandem etwas versprechen. Ich habe nur sehr einfaches Argument: Ihr wollt besser leben? Wenn ja, dann ist hier eine reelle Chance, das zu versuchen. Ob ihr das versucht oder nicht, ihr habt das Recht zu wählen. Ich glaube, dass man genau dieses Thema ausbreiten muss. Klar, alles hängt vom Auditorium ab: was man dir sagt, wo sie zuhören, was ihnen wichtig ist und Ähnliches.
B. S: Anders gesagt, man muss die Haltung des konkreten Publikums spüren und versuchen, ihre Sprache zu sprechen. Und das fällt unseren Intellektuellen schwer. Von der Strategie und Taktik der Agitation für die Volksabstimmung hängt in großem Maße ab, welche Resultate es geben wird. Ich sehe nicht, dass die Euroskeptiker eine sehr starke Agitation betreiben, außer lauten Erklärungen ohne ernsthaftere Argumentation.
L. K: Aber das ist eben die "klassische" Taktik des Populismus. Es kann nur trösten, dass die Populisten selbst recht ermattet wirken und bis jetzt noch nicht so attraktive Losungen präsentiert haben, wie diejenigen, mit denen sie das Volk unlängst bei den Wahlen überschüttet haben. Es kann aber sein, dass sie sich die durchschlagende Dosis an populistischer Demagogie für die letzten Tage der Agitation aufsparen, wenn es nicht mehr möglich sein wird, Gegenargumente vorzulegen (diese Methode hat sich übrigens bei den letzten Wahlen besonders bewährt)...
B. S: Die grundlegenden Postulate der Eurointegrations-Gegner sind schon deutlich geworden. Das vielleicht Wichtigste ist die Drohung, dass, wenn wir uns im offenen Raum Europas befinden, wir unsere nationale Eigenart verlieren. Ihr Verständnis von nationaler Eigenart ist recht seltsam, denn sie halten sie für irgendetwas ewig Gegebenes, eine Konstante. Dabei ist doch die Eigenart in ständigem Wandel, und dieser Wandel ist nur gut für sie. Auch die Werte der nationalen Kultur ändern sich: kann man vielleicht das litauische kulturelle Verständnis am Ende des 19. Jh. (ein plastisches Beispiel - die Litauer von Gerveciai oder Pelesa), in den 40er Jahren des 20 Jh. (die Menge der so genannten DP's in den Vereinigten Staaten) Als "Displaced Persons" wurden nach dem 2. WK Menschen bezeichnet, die durch Flucht oder Vertreibung ihre frühere Heimat verloren hatten. [Anm. d. Übersetzers] und am Anfang des 21 Jh.? Das sind drei unterschiedliche Verstehensweisen, denn auch die litauische Kultur dieser Zeiträume unterscheidet sich. Welches Gegenargument könnte am wirksamsten sein gegen Selbstisolation? Kann Abgeschlossenheit ein Wert werden? Legen wir es darauf an, zum ethnographischen Museum zu werden?
E. G: Ich gebe das banalste Beispiel: wie schätzte die Gesellschaft Russlands die Reformen Peters I ein?
B. S: So, wie die Sustauskas-Anhänger den Beitritt Litauens zur EU einschätzen...
E. G:Die Massen schätzten sie so ein wie Sustauskas, aber die Eliten schätzten sie ein wie Juozaitis, Ozolas und andere. Die Elite Russlands nannte Peter I einen Antichristen, einen Gesandten des Teufels - er kehrte aus dem Westen, aus Holland zurück und machte sich daran, die Fundamente Russlands zu zerstören. Mit welchem Resultat? Dank der Europäisierung wurde Russland zur Weltmacht. Und trotzdem behielt es seine Eigenart, es ist Russland, nicht Holland oder irgendein anderes europäisches Land. Die Schlussfolgerung wäre folgende: Peter I schuf eine andere russische Eigenart, er tauschte die euroasiatische durch die europäische, aber trotzdem russische aus. Hat Russland dadurch gewonnen oder verloren? Auch wenn es ein autoritärer Staat war, aber wir sprechen jetzt nicht über die Staatsordnung. Wir sprechen darüber, dass sich uns die gleiche Frage stellt: ob wir eine europäische litauische Eigenart schaffen möchten oder eine Strohschuheigenart, verzeihen Sie den Ausdruck, konservieren? Wo liegen die größeren Chancen, seine Eigenart zu behalten - wenn man den ersten oder den zweiten Weg verfolgt? Ich wiederhole schon etliche Male den gleichen banalen Vergleich: könnten wir das Internationale Olympische Komitee davon überzeugen, das litauische RipkaLitauisches Feldspiel. [Anm. d. Übersetzers] in das Programm der Olympischen Spiele aufzunehmen? Wahrscheinlich käme niemand überhaupt auf diesen Gedanken, denn alle würden darüber lachen. Aber wir haben viele nicht litauische Spiele gelernt - Basketball und das auch noch so gut, das ihm heute der nationale Stolz gilt. Wo ist da unsere nationale Eigenart? Warum stürzen wir uns auf Basketball, statt unser nationales Ripka zu vervollkommnen? Erinnert das nicht an das Geschrei der Euroskeptiker... Wir können uns natürlich von allen und allem abgrenzen, aber ich fürchte, dass unsere gemauerte Wand schlecht sein wird, denn für eine bessere haben wir nichts und können sie auch gar nicht bauen. Und werden wir dann nicht verletzlicher sein? Und schützen wir dann unsere Souveränität? Souveränität ist nur eine bestimmte Möglichkeit, rechtlich gesehen nur eine bestimmte Form dieser Möglichkeit. Aber niemals und nirgendwo wird ein Gesetz vollständig umgesetzt. Es wird ignoriert, umgangen, verzerrt usw., das hängt schon von den Zielen und Plänen des potenziellen Gesetzesbrechers ab... Es gibt keine vollkommenen Gesetze und niemand hält sie vollkommen ein. Das heißt, man muss über den realen Prozentsatz der Gesetzesbefolgung nachdenken. Genau so verhält es sich auch mit der Souveränität. Man kann souverän sein, diese Souveränität kann in der Verfassung sehr schön festgeschrieben sein und in internationalen Verträgen sehr schön klingen, aber praktisch kann man dennoch eine Bananenrepublik sein, und das sagt alles. Der eigentliche Kern liegt darin, wie unabhängig man ökonomisch ist, inwieweit man seine geopolitische Lage nutzen kann, auf welchem kulturellen Niveau man steht usw. Es reicht nicht, irgendeinen Vertrag zu unterschreiben, man muss ständig daran arbeiten, dass er auch eingehalten wird. Und wieder entsteht die Frage der Möglichkeiten. Und die Antwort ist recht einfach: alles hängt davon ab, ob ich in dem Club, dem ich beigetreten bin, eine Stimme habe oder nicht. Man kann jammern, dass diese Stimme nicht alles entscheidet, aber es gibt dazu nur eine Alternative - überhaupt keine Stimme zu haben, d. h. dem Club gar nicht beizutreten. Man kann den Euroskeptikern zustimmen, dass es bestimmte Einschränkungen gibt. Aber wenn man über Einschränkungen spricht, muss man auch über Möglichkeiten sprechen. Das ist das gleiche wie mit den Rechten und den Pflichten - wenn man nur über eins von beiden spricht, ergibt sich unvermeidbar ein verzerrtes Bild.
B. S: In diesem Fall wird deutlich gesagt, wie stark und wo die Souveränität eingeschränkt wird. Aber in dem anderen Fall, wenn wir Einzelgänger, ein nicht assoziierter Staat bleiben, wird diese Souveränität noch stärker eingeschränkt, ohne die Grenzen zu nennen.
E. G: Eben. Deswegen müsste man auch nicht über das sprechen, wie was formell festgelegt ist, sondern wie es in Wirklichkeit sein wird, welche Möglichkeiten es geben wird. Außerdem gibt es noch eine Möglichkeit, die Chiracs Geschrei, dass die Kandidatenländer eine Möglichkeit zum Schweigen verpasst hätten, schön aufgezeigt hat. Wir sind klein, aber viele, und wenn wir uns zusammenschließen, wird unsere Stimme in diesem Club ausreichend stark und einflussreich sein. Es ist also offensichtlich, dass vor diesem Hintergrund unsere Souveränität eine gewisse Stütze erhält. Und alleine, wenn auch stolz und unabhängig, wie erreicht man es, dass seine Stimme gehört wird? Und mit wem schließt man sich zusammen? Wo sucht man Verbündete?
B. S: Ein weiterer wichtiger Aspekt der Eurointegration ist die Wirtschaft. Vielleicht diskutieren wir hier nicht in aller Breite, was in dem einen oder anderen Fall auf die litauische Wirtschaft zukommt. Mich würde mehr interessieren, ob Sie, Herr Professor, meinen, dass die Wirtschaft der für die Entscheidung bestimmende Faktor sein wird?
E. G: Erklären Sie den Kedainern, was Uspaskichas mit ihnen macht! Außerdem plant er über Kedainiai hinaus. Man hört schon das Motto: Die Finnlandisierung Europas, Kedainisierung Litauens. Uspaskichas ist ein genialer Mensch. In Kedainiai ist schon eine Oase des Wohlstandes geschaffen. Auf wessen Kosten? Es gibt zwei Kriterien, eins davon ist bekannt, das zweite nicht. Das bekannte Kriterium liegt darin, dass der gesamte Prozess des Handelswachstums in einer Hand konzentriert ist. Mit der Steuerung dieses Prozesses kann man den Kleinhandel dahin lenken, wo man ihn braucht - wohin man will und wohin man es zulässt. Auf diese Weise schafft man sich eine abhängige und dankbare Klientel. Diese Menschen werden nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch abhängig. Das könnte wohl auch irgendein litauischer Oligarch machen, aber bisher ist es noch keinem gelungen. Und da bestimmt wohl den außergewöhnlichen Erfolg von Uspaskichas das zweite, unbekannte Kriterium. Aber niemand verbietet es zu spekulieren und logische Schlüsse zu ziehen. Ich nehme also an, dass ein solches Phänomen nicht ohne große finanzielle Unterstützung zu errichten ist. Dann erhebt sich logischerweise die Frage: woher kommt diese Unterstützung? Und wenn man weiß, dass Russland die Geopolitik in der Welt am besten entwickelt hat und ihm für diese Sachen das Geld niemals zu schade ist, wenn auch den eigenen Bewohnern das letzte Hemd genommen wird, und das dies schon eine jahrhundertealte Erfahrung ist, muss man kein Weiser sein, um die begründete Schlussfolgerung zu ziehen, mit welchem Kapital und mit welcher Zielsetzung eine Oase des Wohlstandes geschaffen wird in "einer getrennt genommenen Region"... Das ist ein Modell, wie man Litauen friedlich in seine Hände bekommen kann, und die von Uspaskichas initiierte Volksabstimmung über die Verwaltungsreform zeigt das klar. Was macht es für einen Unterschied, ob der ökonomische Hebel angesetzt wird oder der politische oder ob beide raffiniert verbunden werden, das Ziel ist immer das selbe - eine Politik der Vergurkung Uspaskich (s. o.) hatte in einer viel diskutierten und umstrittenen Werbekampagne mit seinem Bild auf Gläsern mit eingelegten Gurken geworben. [Anm. d. Übersetzers] Litauens.
B. S: Im Kontext der Vergurkung wäre es besonders wichtig, über die historische Bedeutung der Eurointegration zu sprechen.
E. G: Wenn auch solche Weisen wie Vladas Terleckas Vladas Terleckas, Dozent am Lehrstuhl für Finanzwesen der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Vilnius. [Anm. d. Übersetzers] ausführen, dass Litauen niemals wirtschaftlich rückständig war, muss ich bei der Antwort auf Ihre Frage noch einmal wiederholen, dass die Geschichte Litauens eine Geschichte der großen wirtschaftlichen Rückständigkeit ist. So wie wir das Basketballspielen lernen mussten, um ein Basketball-Land zu werden, so mussten wir um zu überleben lernen, mit Europa zu handeln und so zu produzieren, wie Europa produziert. Unsere Geschichte ist eben dieser Lernprozess, nicht leicht, langwierig, wir mussten schon mal eine Klasse wiederholen usw. Und die Möglichkeiten zum Lernen haben eben politische Entscheidungen geschaffen oder auch nicht geschaffen. In diesem Fall hat die Übernahme des Christentums, haben die Schritte sowohl Mindaugas' als auch Jogailas in diese Richtung die Bedingungen für die Europäisierung Litauens geschaffen. Soweit wir können, Gott sein Dank, verfolgen wir Europa, und wie weit wir schon aufgeholt haben, das ist eine ganz andere Frage. Terleckas meint, dass wir nichts aufzuholen hatten, aber leider zeigt die Realität etwas Anderes. Und es ist festzuhalten, dass Esten und Letten auf ihrem Niveau, auf dem Niveau von Leibeigenen, das Aufholen besser erlernt haben. Weil ihre Lehrer andere waren. Aber Litauen hatte einen anderen Vorteil, es konnte als gesamte Gesellschaft lernen, als Staat. Später haben wir das verloren, aber eine gewisse Zeit haben wir diese Möglichkeit doch gehabt. Wesentlich ist, dass wir die Möglichkeit haben, auch in die Europäische Union wie eine gesamte Gesellschaft, wie ein Staat einzugehen. Ich würde sagen, das ist ein Geschenk Gottes, und diese Chance muss man nutzen. Und was die konkreten Realien betrifft, so kommt von der EU eine Menge Geld, wenn wir es nur richtig zu nehmen und zu nutzen verstehen. Ich nenne hier keine konkreten Zahlen, wem wie viel zugeteilt wird, weil ich davon auch nicht viel verstehe, Ökonomen könnten das besser erklären. Das Wesentliche ist: Werden wir das von Europa angebotene Geld auszuschöpfen verstehen oder nicht. Das ist alles. Wenn wir das nicht schaffen und es nicht nehmen, nehmen es andere, wie sehr uns das auch nicht gefallen mag und wie das auch den Skeptizismus der Euroskeptiker stärken mag.
B. S: Bei einem Gespräch über die Entwicklung des litauischen Bewusstseins im Gang der Jahrhunderte hat Vytautas Kavolis bei den nicht weit zurückliegenden Generationen von Litauern einen psychologischen Zug ausgemacht, den er das "verspätete Bewusstsein" nennt. Ich meine, dieser Zug korreliert auch mit dem von Ihnen behandelten historischen Verspäten. Verspätet bezeichnete Kavolis eine Bewusstsein, dass schon damals nicht der Mentalität der westeuropäischen Gesellschaft entsprach. Hat nicht gerade dieses "verspätete Bewusstsein" Litauen immer wieder bei der Europäisierung behindert? Oder wäre vielleicht in diesem Zusammenhang der Terminus von Darius Kuolys "vergewaltigtes Bewusstsein" zutreffender? Bei einer Diskussion mit Arvydas Juozaitis über die Eurointegration (KB, 2001, Nr. 10, S. 13) sagte er, dass versucht werde, Litauens Beziehungen zur Welt nach den Kategorien des vergewaltigten Bewusstseins zu modellieren, wobei man sich auf die traurige Erfahrung eines halben Jahrhunderts des Zwanges stützt und diese Schemata automatisch oder intuitiv auch auf die Gegenwart anwendet.
L. K: Ich würde fragen, wie man diese "Verspätung des Bewusstseins" überwinden kann. Ökonomische, wirtschaftliche, ja sogar kulturelle Modelle kann man sich von anderen Ländern abschauen, wo sie erfolgreicher funktionieren, aber ein verspätetes Bewusstsein kann man nicht beschleunigen, und ein "fieberndes" (ein Terminus von Arvydas Sliogeris) kann man nicht mit fremder Medizin heilen... Ich fürchte, auch wenn wir formal der EU beigetreten sein werden, werden wir nicht so schnell zu Europäern, wie wir das wollten...
E. G: Ich habe die Europäische Union schon öfters als Schule bezeichnet. Ja, wir müssen schneller lernen als die anderen, härter als andere arbeiten, aber jetzt ist für uns das wichtigste, uns nicht zum Unterricht zu verspäten, denn vor der geschlossenen Tür können wir uns verspäten wie wir wollen, fiebern und fiebern, aber dann bleiben wir Autodidakten, und die anderen studieren in aller Ruhe die neuen Disziplinen des 21. Jh. Und konkret auf Ihre Frage kann mit bestimmten Beispielen antworten. Eins der Merkmale des Bewusstseins ist das nationale Bewusstsein. Welches Nationalbewusstsein haben wir, wenn ständig wiederholt wird: Mir ging es unter den Russen besser? Das zweite Beispiel bringe ich aus meinem Arbeitsgebiet. Die Geschichtswissenschaft der Länder Europas ist ein ganzes Stück weiter fortgeschritten. Auch ich versuche immer von ihnen zu lernen, aber ich schaffe es nicht, denn ich bin zu weit zurückgeblieben. Klar, diese Verbindungen mit der Wissenschaft in Europa kann man auch von außerhalb der Europäischen Union knüpfen, aber wenn Litauen dort Mitglied ist, wird es nicht nur einfacher und schneller möglich sein, Kontakte zu knüpfen, sondern wir werden auch gezwungen sein, unsere Rückständigkeit zu verringern. Man muss den Menschen nicht nach dem Mund reden - indem die Populisten das tun, verstärken sie nur die Enttäuschung, denn sie wissen selber, dass sie ihre Versprechen nicht erfüllen werden. Und wenn ich sage, die Litauer sind so und so, dann nur deshalb, weil ich sie (und damit mich selbst) als Bessere, Anständigere, Arbeitsamere sehen möchte und nicht als Enttäuschte. Ein anderes Vaterland habe ich nicht und hat keiner von uns.
B. S: Wie Vaizgantas gesagt hat: Schurken sind diese Litauer, aber ich liebe sie trotzdem... Mich verblüfft nicht so sehr der Populismus, als wie die völlig verantwortungslosen Äußerungen, besonders der so genannten Euroskeptiker, wenn einige klingende und unheilvolle Phrasen ausgestreut werden und dabei von vornherein klar ist, dass es nicht möglich ist, sie mit Argumenten zu begründen.
L. K: Zu diesen verantwortungslosen Äußerungen würde ich auch zählen, dass die Menschen eingeschüchtert werden ... Europa. Das machen nicht nur die Politiker gerne, sondern auch die Intellektuellen, und, leider, nicht nur die Euroskeptiker. Die Euroenthusiasten sündigen hier nicht weniger, wenn sie über ein blühendes, vollkommenes Europa räsonieren und strohbeschuhte Bauern aus Litauen, die nicht einmal wüssten, in welche Hand sie die Gabel bei einem luxuriösen EU-Bankett nehmen sollen. Solch leeres Geplapper verstärkt das Minderwertigkeitssyndrom, wo die Menschen auch selbst voller Furcht sind, besonders die Älteren, ihnen scheint es, dass sie nicht zu Europa passen und sich nicht anpassen können, dass sie sich dort nicht verständigen können, nichts erreichen können, nicht damit auf einen Nenner kommen. Man muss nicht die heruntermachen, die Angst haben, man muss versuchen zu verstehen, woher diese Angst kommt und wer mit dieser Angst gewollt oder vielleicht auch aus Dummheit manipuliert. Geringschätzung führt zu politischer Abkehr. Die meisten werden nicht deshalb nicht zur Abstimmung kommen, weil sie dafür oder dagegen sind, sondern deswegen, weil es für Litauer typisch ist, sich zurückzuhalten - besser entscheidet jemand anderes für sie...
E. G: So irrational ein solches Gefühl auch erscheinen mag - die Angst, ihre Grundlagen sind völlig rational: man wird arbeiten müssen, mehr und anders als bisher, mehr mit dem Kopf als mit den Händen... Ich zweifle nicht an der zum Axiom gewordenen Phrase, dass die Litauer ein arbeitsames Volk sind. Aber Fleiß ist nicht gleich Fleiß. Man wird die Richtung des Denkens ändern, modern wirtschaften müssen usw. Sehen Sie, der Wohlstand, der sich im Westen angehäuft hat, ist das Resultat von Jahrhunderten. Aber angefangen hat alles genau so: mit Ausbeutung. Und bei uns wächst gerade jetzt die erste Klasse heran, wo man fast noch nichts verdient, aber ausgebeutet wird. Und wie soll man einem Menschen erklären, dass man mit zusammengebissenen Zähnen vorwärts gehen muss, weil es sonst gar nichts wird?
B. S: Ganz einfach: Im Augenblick wütet in Litauen der wilde Kapitalismus, aber wenn wir im Raum der Europäischen Union sein werden, wo von dem wilden Kapitalismus keine Spur mehr ist, wenn wir uns an ihre Arbeitsethik und -kultur anpassen, werden viele lokale Spannungen und Gegensätze sich von selbst abschwächen, sich angleichen. Ich habe aber keinen Zweifel daran, dass irgendein Euroskeptiker sofort entgegenhält: warum sollte mir irgendein kleiner Bürokrat aus Brüssel vorschreiben, wie ich zu leben habe!
E. G: ...selbst wenn es zu meinem eigenen Nutzen wäre. Nicht ein Land, das der Europäischen Union beigetreten ist, hat dabei verloren. Keines von ihnen hat seine Eigenart verloren, im Gegenteil - sie ist noch stärker geworden. Und wenn wir das Ganze ökonomisch betrachten, dann sind die Vorteile absolut offensichtlich.
L. K: Aber es gibt doch in Europa Länder, die es abgelehnt haben, der EU beizutreten. Obwohl es dort ganz andere Besonderheiten der Mentalität gibt und das Bewusstsein nicht als verspätet bezeichnet werden kann, sind diese Staaten dennoch skeptisch gegenüber den Einigungs-Idealen Europas.
E. G: Gut, schauen wir einmal, wer der EU nicht beigetreten ist - Norwegen und die Schweiz, die derzeit reicher sind als die Länder der Europäischen Union. Wenn der Ökonom Veselka mir beweisen würde, dass auch Litauen reicher ist als bspw. Deutschland, würde ich bei der Volksabstimmung wirklich auch gegen die Integration stimmen. Vielleicht täusche ich mich, aber bei den Zusammentreffen mit den zukünftigen Wählern horchen die meisten auf, wenn ich folgendes Beispiel vortrage. So, sage ich, ein solches Land wie Irland, auch Katholiken, so wie wir. Ich bin Historiker, ich kann fundiert sagen, dass sie wegen ihres Glaubens gelitten haben, so wie wir gelitten haben unter den räuberischen Nachbarn. Das ist ein armes Land, seine Geschichte sehr traurig, sehr dramatisch. Wir hatten viele Feinde, die uns bedrängten, aber die Engländer bedrängten die Iren nicht weniger. Und jetzt ist Irland der Europäischen Union beigetreten. In diesen paar Jahren hat sich das Land so verändert, dass es nicht wiederzuerkennen ist. Das erkennen alle an. Aber als die Iren darüber entscheiden sollten, ob andere Länder in die EU aufgenommen werden sollten, stimmten sie dagegen. Die irische Regierung, die den Einigungsprozess ausweiten wollte, wandte sich ein zweites Mal an das Volk und forderte dazu auf, mit den Menschen zu fühlen, die außerhalb der Schwelle der EU bleiben sollten. Werden wirklich wir, Katholiken, mit einem ähnlichen Schicksal und einer ähnlichen Geschichte, diese Menschen abweisen? Und die Iren fühlten mit uns, streckten uns die helfende Hand aus. Die Menschen, die so viel erreicht haben in der Europäischen Union, hatten verstanden, dass diese historische Chance auch anderen gewährt werden muss. Ob aber wir diese Chance auch nutzen, daran zweifle ich sehr...
L. K: Mich würde interessieren, ob in dem kurzen Zeitraum, der noch bis zur Volksabstimmung geblieben ist, noch ein erfolgversprechendes Einwirken auf das "verspätete Bewusstsein möglich ist? Was könnten und sollten die Politiker Litauens Bedeutendes tun, damit die Volksabstimmung über die EU positiv ausgeht?
E. G: Ich meine, es wäre gut, wenn sie in dem kurzen bis zur Abstimmung verbliebenen Zeitraum wenigstens nichts Schädliches machen würden.
L. K: Kurz gesagt, sie sollten sich weniger äußern und das Volk entscheidet vernünftig selbst?
E. G: Dass im Volk kein Mangel an Vernunft herrscht und es immer noch sein Gefühl für Humor nicht verloren hat, zeigt auch der gegenwärtige Volksmund. So wird zum Beispiel diskutiert, dass Litauen nur zwei Alternativen hat: Die eine - Borisovas Jurij Borisov, *1956, Leiter der Firma Avia Baltica. Mit 1,2 Mio. Litas der größte Einzelspender für den Wahlkampf des derzeitigen Präsidenten Rolandas Paksas. Nachdem er wegen geschäftlicher Kontakte mit Russland die russische Staatsbürgerschaft erworben und damit automatisch die litauische verloren hatte, wurde ihm diese nach einem entsprechenden Antrag im März 2003 durch den Präsidenten wg. besonderer Verdienste wieder gewährt. [Anm. d. Übersetzers] und Uspaskichas, die andere - Borisovas oder Uspaskichas.
L. K: Nun, nehmen wir aber mal an, die Volksabstimmung geht negativ aus. Und nun? Man muss sich trotzdem irgendwie rühren, leben und überleben. Auf der anderen Seite, wenn ich daran denke, dass Litauen mit seinen "löchrigen" Ostgrenzen durch die streng abgeriegelten EU-Grenzen selbst von Polen getrennt sein wird, wird mir klar, dass in der kommenden Volksabstimmung nicht über die Frage von Alternativen, sondern über Litauens Schicksal entschieden wird...
E. G: Niemand zweifelt daran. Aber die meisten sind bereit, Litauen und sein Schicksal mit der Europäischen Union zu teilen, während andere von einer Rückkehr in die Sowjetunion träumen, die es längst nicht mehr gibt - keine Planwirtschaft, keine Scherze über Wurstkringel und Mayonnaisebecher, keine Zensur, hinter der so mancher seine Unfähigkeit zur kreativem Schaffen versteckt hatte, kein Moskau mehr, wo man sich über den lokalen Verwaltungsfunktionär beschweren konnte... Aber es gibt das "Mütterchen Russland", das stets bereit ist, den verlorenen Sohn aufzunehmen.
B. S: Na, ich glaube, jetzt müsste auch der letzte verstehen, was Litauen passieren würde, wenn es in der Grauzone bliebe...
E. G: Versuchen Sie ihnen das zu sagen! Pronckus Mykolas Pronckus, *1936, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Litauens, Mitglied des Parlaments. [Anm. d. Übersetzers] war einmal bereit, selbst mit Lukaschenko Äpfel pflücken zu gehen... Und sagt Karbauskis nicht dasselbe? Aber die Menschen stimmen für sie, wählen sie, was bedeutet, dass sie deren Meinung unterstützen. Hinzu kommt, dass einige Politiker laut davon schreien, und andere - die clevereren - schweigend zustimmen. Aber das Wichtigste ist es, dass zunächst die Menschen Litauens ihre Furcht, ihren Aberglauben und die Sehnsucht nach der Vergangenheit überwinden und sich von den Versprechungen falscher Propheten lösen, um es dann zu wagen, in die eigene Zukunft zu sehen, bereit sind zu ändern und sich zu ändern. Es reicht von einem guten Leben zu träumen und andere darum zu beneiden. Es ist an der Zeit, dieses gute Leben selbst zu schaffen.